M. Rendle: Defenders of the Motherland

Titel
Defenders of the Motherland. The Tsarist Elite in Revolutionary Russia


Autor(en)
Rendle, Matthew
Erschienen
Anzahl Seiten
274 S.
Preis
€ 64,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nikolaus Katzer, Professur für Geschichte des 19. u. 20. Jh. unter besonderer Berücksichtigung Mittel- und Osteuropas, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg

In der sozialgeschichtlichen Forschung zur russischen Revolution bedeutete das Epochenjahr 1917 nicht nur eine historische Zäsur, sondern auch einen Methodenwechsel. Wer sich mit den Bauern, Arbeitern und Deklassierten, den Soldaten und Offizieren, dem amorphen Bürgertum, der Intelligenzija und dem Adel befasste, zog in der Regel Bilanzen. Was nach dem Roten Oktober folgte, war Epilog auf unwiederbringlich Verlorenes oder aber ein Prolog auf den grundlegenden Wandel, der folgen sollte.

Aufs Ganze betrachtet folgt Matthew Rendle mit seiner Studie diesem revolutionsgeschichtlichen Paradigma. Die Eliten tragen das Ancien Regime, selbst wenn sie eigene Organisationsstrukturen jenseits von gesellschaftlicher Repräsentation und staatlichem Dienst ausbilden. Unter dem wachsenden Druck der unterprivilegierten Klassen versuchen sie, notfalls auch gegen Hof und Regierung, Dämme gegen die Zersetzung der Ordnung zu errichten, werden also unwillentlich zu „Revolutionären“, ohne indessen ihre prinzipielle Loyalität zu brechen. In den Turbulenzen nach dem Februar 1917 wird dann rasch wieder offenkundig, auf welcher Seite der Barrikaden sie stehen. Was dann folgt, ist bereits das Wetterleuchten einer Neuen Zeit.

Ähnlich knapp wird auch die Vorgeschichte dieses Koordinatenwechsels rekapituliert. In großen Linien zeichnet Rendle den Wandel zwischen der Revolution von 1905 und dem Ersten Weltkrieg nach, wobei die Exposition genau genommen bis weit in das dritte Kriegsjahr hineinreicht.

Rendles Konzept der „Zaristischen Elite“ knüpft an Wahrnehmungsmuster des Revolutionsjahres an. Die Angehörigen der „besitzenden“ Gruppen werden scharf von den unteren „demokratischen“ Klassen geschieden. Doch obwohl Verhalten und Aktivität der Elite „einfachen Russen“ durchaus konterrevolutionär erscheinen mochten, fehlte ihr objektiv jede Homogenität. Im Gegenteil, sie zerfiel unter dem Druck der Krise in ihre disparaten Bestandteile und wirkte an der Demontage des Systems mit, das sie eigentlich zu schützen vorgab. Unter Verweis auf ältere Revolutionstheorien, darunter auch die von Hannah Arendt, sieht Rendle dabei ein Wechselspiel der Kräfte am Werk. Personen und Gruppen folgen nur bedingt Prädispositionen, sondern reagieren auf das Verhalten anderer Akteure.

Diese Deutung des gesellschaftlichen Umbruchs muss die Spannung aus Einheit und Vielfalt aushalten. Die drei von Rendle bezeichneten „Gruppen“ der russischen Elite befanden sich in einem dynamischen Prozess der Auflösung und Neukonstitution. Sie zeigten sich sowohl als heterogene, konkurrierende soziale Gebilde als auch als gemeinsam agierende Machtinstanzen. Der fokussierte Blick auf die Spitze der Gesellschaftspyramide hat indessen eine wesentliche Schwachstelle. Aus dem hier angewandten Begriff der „Elite“ werden der orthodoxe Klerus und die Unternehmerschaft ausgeblendet, weil sie – so das Argument – überwiegend nichtadelig waren. Doch während diese leicht abgrenzbaren Gruppen unberücksichtigt bleiben, bindet Rendle im Kapitel über den „Adel“ (S. 53-83) eine Vielfalt an Lebensformen allein mittels der Standeszugehörigkeit zusammen. Dieser adelige Rest bildet eigentlich aber die überwiegende Mehrheit neben den gesondert behandelten Gutsbesitzern (S. 85-114) und Offizieren (S. 115-156), was beträchtliche Abstraktionen und Reduktionen notwendig macht. Erhebliche methodische Probleme werfen etwa die vielen unterschiedlichen Professionen auf, die gebürtige Adelige ausübten. Was besagt unter dieser Prämisse, dass Angehörige ganz unterschiedlicher Berufe adeliger Herkunft waren? Viele dieser Gruppen gründeten Berufsverbände, bildeten ein korporatives Bewusstsein aus und gestalteten ihren Alltag nach besonderen Regeln. Inwiefern reflektierten sie über ihre Herkunft und welche Erinnerung daran wirkte fort?

Eine ganz andere Geschichte ist zu erzählen, wenn es um die nahezu exklusive Besetzung von Machtpositionen in Staat und Reichsverwaltung geht. Hier besteht kein Zweifel, dass der Adel herrschte. Allerdings war am Vorabend des Weltkrieges auch diesbezüglich unübersehbar, dass eine langsame, aber kontinuierliche Verschiebung der Gewichte von unten nach oben im Gange war.

In der Logik von Rendles Argumentation liegt es, das Kapitel, in dem die Fäden der Analyse wieder verknüpft werden und die nivellierende Wucht der Revolution thematisiert wird, mit „Counter-Revolution“ zu überschreiben. Gleichgültig, welcher politischen Strömung sie anhingen, – sub specie revolutionis werden die adeligen Eliten unterschiedslos derangiert. Letztlich trägt die These, sie hätten den Ereignissen passiv zugesehen bis die Verfassunggebende Versammlung oder der gerüchteweise kolportierte Staatsstreich der Bolschewiki für klare Verhältnisse sorgte, wenig dazu bei, herauszufinden, was die „konservative Bewegung“ als Strömung diesseits des Sozialismus ausmachte und im Innersten zusammenhielt.

Liberalismus und Konservativismus manifestierten sich in dieser nahezu hermetischen Welt als Ausprägungen elitärer Vergesellschaftung. Rendle teilt Dominic Lievens These, dass sich aristokratische Werte und Traditionen auch in der modernen Welt behaupteten (zitiert S. 230), sieht darin aber wie dieser ein Phänomen der Vorkriegszeit. Der Adel wird als soziale Gruppe „im Übergang“ verstanden, deren geringster Teil, die Aristokratie, den Wandel nicht in gleichem Maße anzeigt, wie die große Mehrheit, die ihr Glück nicht nur in der Agrarwirtschaft, sondern in der Geschäftswelt, in Staatsdienst und Administration, Bildungswesen und Armee suchte. Sie agierte demnach eher „bürgerlich“ als aristokratisch. Dieser Prozess sei durch die sozialen Massenbewegungen von 1917 extrem beschleunigt worden (S. 233). Wenn aber tatsächlich das Misstrauen der anderen antibolschewistischen Gruppierungen gegenüber diesen Verfechtern von Ordnung und Stabilität jede Koalition ausschloss, spielten offenkundig nicht nur programmatische Unterschiede eine Rolle. Doch finden im Abgesang auf die verlorene Sache („a classic case of too little, too late“, S. 237) solche emotionalen und mentalen Vorbehalte keinen Platz.

Die Analyse der Reaktionen von Adeligen, Landbesitzern und Offizieren auf die Revolution bedürfte eines speziellen begrifflichen Instrumentariums (S. 199-228). In ihrer Aggressivität gegen die alten Eliten hatten die Bolschewiki bestenfalls Interesse an funktionalen Distinktionen. Bei der Verschiebung der Hierarchien wurden die einstmals Privilegierten zu „Ehemaligen“ (bywschie ljudi) herabgestuft. Der Ausgang des hier als Episode mit absehbarem Ende präsentierten Bürgerkrieges („fighting a lossing battle“, S. 234) legt den Schluss nahe, der Adel sei damit aus der Gesellschaftsgeschichte Russlands verschwunden.

Von diesem Ergebnis her betrachtet bietet Rendles Studie also wenig Überraschungen. Als Bilanz der bisherigen Forschung zum Adel im späten Zarenreich ist sie trotz des fragmentarischen Elitenbegriffs sehr willkommen. Sie verweist auf wichtige archivarische Bestände sowie Memoiren, Tagebücher und Briefsammlungen. Indessen bedürften die fortwirkenden Prägungen durch Herkunft, Erziehung und Bildung eingehender Analyse. Im Sinne des Titels wäre konsequenter nach den festen Überzeugungen und wandelbaren Ansichten der „Verteidiger des Mutterlandes“ zu fragen. So bleibt unklar, welche Vorstellungen vom „Vaterland“ (otetschestwo) oder eben „Mutterland“ (rodina) im Übergang zur Moderne letztlich Bestand hatten. Der russische Patriotismus stand nach der verwickelten Genese im 18. Jahrhundert in dem von Technologie und multiethnischem Massenheer bestimmten Weltkrieg vor seiner bislang größten Herausforderung. Deportationen nationaler Minderheiten aus den Frontgebieten und die Konstruktion von „Feindnationen“ im Innern überführten den äußeren Krieg sehr früh in einen Bürgerkrieg.

Vor diesem Hintergrund müsste mittels Generationen-übergreifender Mikrostudien erkundet werden, wie der Adel nach den Erschütterungen der frühen Moderne nun den siebenjährigen Ausnahmezustand zwischen 1914 und 1921 überstand, sich in der veränderten Welt einrichtete sowie Macht und Einfluss nicht nur verlor, sondern auch konservierte, transformierte oder sublimierte.

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