Titel
Speaking History. Oral Histories of the American Past, 1865-Present


Autor(en)
Armitage, Susan; Mercier, Laurie
Reihe
Palgrave Studies in Oral History
Erschienen
New York 2009: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 70,24
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Jobs, Graduiertenkolleg "Kulturkontakt und Wissenschaftsdiskurs", Universität Rostock

Welche(r) Lehrende kennt das nicht? Die Texte für's Seminar sind ausgesucht und gelesen, die didaktischen Werkzeuge sind geschärft, Lernziele formuliert, doch während der Unterrichtsvorbereitung kommt die Frage auf: "Woher bekomme ich jetzt noch eine knackige Quelle zum Thema XYZ?" Für Menschen, die sich gelegentlich vor diesem Problem sehen, ist das Buch "Speaking History" (neben diversen Online-Materialsammlungen) eine gute Lösung. Denn es ist eine thematisch breit angelegte Textkompilation, die Oral-History-Dokumente von 1865 bis in die Gegenwart mit kurzen Einführungen in die jeweiligen historischen Epochen bietet. Es präsentiert sowohl für Lehrende als auch Studierende einen leicht verständlichen Zugang zur Oral History und ist damit besonders gut für den Unterricht geeignet.

Sue Armitage und Laurie Mercier verweisen zum Anfang ihres Buches darauf, dass sich Selbstzeugnisse und andere sogenannte subjektive Quellen in der Geschichtswissenschaft als Analysematerial einen festen Platz erobert hätten. Sie umreißen das Forschungsfeld der Oral History mit einer sehr kurzen generellen Einleitung, die wesentlich differenzierter ist, als es der etwas emphatische Titel des Buches zunächst vermuten lässt. Die Texte sprächen schließlich nicht "für sich selbst" (S. 5), sondern sind Teil einer konkreten Entstehungssituation und eines Forschungssettings. Ferner erklären die Herausgeberinnen kurz die Entstehungsgeschichte der Forschungsmethode, deren Chance es sei, eine "people's history" (S. 4) zu schreiben und damit historische Aktricen und Akteure jenseits der großen Männer und Ereignisse sicht- und hörbar zu machen. Diese Einführung ist zugegebenermaßen extrem kurz, hilft jedoch, die darauf folgenden Textausschnitte als Materialgattung einzuordnen und zu bewerten.

Die ausgewählten Interviewsequenzen sind streng in Zeitabschnitte der US-amerikanischen Geschichte geordnet, die den Kapiteln des Bandes entsprechen. Dabei repräsentieren die Texte zentrale Ereignisse und Erfahrungen der jeweiligen Zeiten wie Segregation, Arbeit oder Krieg. Das Buch ordnet die Dokumente in fünf große Abschnitte ein. In einem ersten Kapitel (1865-1900) widmen sich die Interviews besonders den ethnischen Dynamiken in Folge des Bürgerkriegs und zeigen dabei eine erfrischend große Breite. So ist in den Texten nicht nur die afroamerikanische Erfahrung nach dem Ende der Sklaverei präsent, sondern auch ein frühes Zeugnis einer Latina in Kalifornien und die indianische Erfahrung von Vertreibung und Unterdrückung. Des Weiteren gibt es hier Interviews zur Frontier, Migration und zu Arbeitserfahrungen während des industriellen Aufschwungs in den USA. Ein zweites Kapitel greift Perspektiven der Zeit nach der Jahrhundertwende (1900-1920) auf. Hier verweisen die Texte auf Themen wie Frauenrechte, Weltkriegserfahrung und wiederum Rasse und Migration. Beim Thema Migration entsteht dadurch eine reizvolle Vergleichsmöglichkeit, dass das Buch Erfahrungen der europäischen Einwanderung und der Binnenwanderung der 'Great Migration' nebeneinander stellt. Ein weiteres Kapitel beschäftigt sich mit Akteuren in der Zeit zwischen 1920 und 1945. Hier treten beispielsweise die Migrationen der "Dust Bowl"-Ära, die sich ändernden Arbeits- und Lebensbedingungen während der Großen Depression, aber auch die Veränderungen in Freizeit- und Populärkultur (zum Beispiel durch die Verbreitung des Radios) in den Mittelpunkt der ausgesuchten Texte. Ferner reißen die Interviews Erfahrungen während des Zweiten Weltkriegs an. Im vierten Abschnitt konzentrieren sich die Dokumente auf Ereignisse vom Kriegsende bis zum Höhepunkt der Bürgerrechtsbewegung (1945-1965). Die Erfahrungen der politischen Linken in den USA im Kalten Krieg sind hier genau so zu finden wie die amerikanischer Bürgerrechtsaktivisten. Die Herausgeberinnen präsentieren hier wiederum Texte zu Migration wie auch zum Wandel von Familie und Geschlechterverhältnissen in dieser Zeit. Die Interviews im letzten Abschnitt (1965-2000) knüpfen an dieser Stelle an. Hier kommen so diverse Themen wie Studentenprotest, Vietnamkrieg oder moderner Terrorismus zusammen. Gerade in dieser Vielfältigkeit von Erfahrungen und Ereignissen zeigt sich die Schwierigkeit von Epochenbildung, die notwendigerweise immer willkürlich sein muss.

Generell ist das Buch jedoch sinnvoll gegliedert. Bestimmte Motive wie Migration, Gewalt, „race“ oder Geschlecht tauchen in verschiedenen Kapiteln immer wieder auf und bilden damit auch rote Fäden innerhalb des Buches, die einen Vergleich zwischen den Zeiten ermöglichen. In seiner thematischen Ordnung reflektiert es damit einen gut abgehangenen Erinnerungs- und Forschungskanon der amerikanischen Geschichtsschreibung im Jahr 2009. Freilich muss die Frage nach dessen Herkunft und Entstehungsgeschichte sowie den Kategorien des Erinnerns in einer solch knappen Schrift weitgehend unberührt bleiben. Zu den jeweiligen Themengebieten haben die Autorinnen eine kurze historische Einführung formuliert; in dieser didaktischen Kontextualisierung liegt sicherlich eine der großen Stärken des Buches. Denn dadurch ist es auch im Selbststudium möglich, die Interviewausschnitte in ihre Zeit einzuordnen und zu interpretieren. Darüber hinaus gibt es kurze Angaben darüber, in welchem Forschungszusammenhang die einzelnen Interviews entstanden sind und in welchen Archiven die vollständigen Texte zu finden sind. Schließlich laden auch Erschließungs- und Leitfragen zur tiefer gehenden Reflexion des gelesenen ein. Für die eigene Interviewführung geben die Autorinnen im Anhang des Buches einige Leitlinien ("How to Conduct an Oral History Interview: a Quick Guide") und außerdem eine kurze Literaturliste für die weiterführende Lektüre. Durch diese didaktische Gliederung und den Bezug auf gut gewählte thematische Leitfäden ist das Buch in sich sinnvoll strukturiert.

Trotz dieser überzeugenden und klaren Ordnung es ist jedoch problematisch, den Fokus allein auf die Erfahrungen der sogenannten "kleinen Leute" zu legen und damit die Perspektiven beispielsweise von politischen Akteuren auszuschließen. In dieser Ordnung spiegelt sich ein ziemlich hierarchisches Modell von Macht und Herrschaft wider. So bereichernd es ist, Geschichte "von unten" und von den Rändern zu denken und zu schreiben, darf diese Neuperspektivierung doch nicht zu einer holzschnittartigen, ja fast schon romantisch anmutenden Unterscheidung zwischen "großen" und "kleinen" Leuten führen. Sicherlich 'sprechen' diese Texte von Orten außerhalb des vermeintlichen gesellschaftlichen Zentrums und machen damit subalterne Stimmen hörbar. Doch das Buch würde auch auf diesem einführenden Niveau noch einmal erheblich an Profil gewinnen, wenn in den jeweiligen thematischen Abschnitten nicht nur einzelne Perspektiven präsent wären, sondern eine Vielzahl durchaus auch widersprüchlicher Erfahrungen. Warum stellen die Herausgeberinnen nicht die Sicht eines African American im amerikanischen Süden der 1930er-Jahre der eines weißen Rassisten gegenüber? Hier könnten die Spannungen und Dynamiken von Bedeutungszuweisung erkennbar werden. Erinnerungskultur wäre als dialogisch und in Beziehung zu anderen Akteuren, Praxen und Diskursen gedacht. Trotz der hilfreichen Einführungen und Interpretationshilfen, sind die Chancen von Oral History in dem Buch deshalb etwas verschenkt. "Speaking History" ist in seiner thematischen Breite eine gute Textsammlung für Lehrende, die Materialien für den Unterricht suchen, kann jedoch dadurch gleichzeitig auch nur an der Oberfläche des Themas kratzen. Für die eigene Durchführung von Interviews ist eine weiterführende Lektüre und Rezeption von Forschungsliteratur unbedingt notwendig.

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