D. Thomas: Nationalisme économique et industrialisation

Titel
Nationalisme économique et industrialisation. L'expérience des pays d'Europe de l'Est (1789-1939)


Autor(en)
David, Thomas
Reihe
Histoire économique et sociale internationale 24
Erschienen
Anzahl Seiten
478 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marie-Janine Calic, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Dass der Wirtschaftsnationalismus im Zeitalter der Globalisierung aussterben würde, hat sich auch im 21. Jahrhundert noch nicht bewahrheitet. Viele Staaten suchen nach Alternativen, die Risiken weltweiter Vernetzung zu minimieren und ihre Märkte vor internationalem Wettbewerb abzuschotten. Thomas David unternimmt es, der Geschichte des Wirtschaftsnationalismus nachzuspüren und die Erfahrungen osteuropäischer Länder in komparativer Perspektive aufzuarbeiten. Gegen den Mainstream des cultural turn anschwimmend lenkt er den Blick auf die Beziehungen zwischen den Sphären von Staat und Wirtschaft, ohne deren Analyse die Probleme Osteuropas auch in der Gegenwart nur schwer zu verstehen sind.

In seiner Dissertation beschreibt der Autor, der heute eine Professur an der Universität von Lausanne innehat, die wirtschaftspolitischen Reaktionen der wenig entwickelten osteuropäischen Länder auf den ersten Industrialisierungs- und Globalisierungsschub im 19. Jahrhundert. Der Schüler Paul Bairochs wählt einen komparativen Zugriff. Er stützt sich auf umfangreiches Quellenmaterial und verwendet quantitative Methoden. So gelingt ihm eine bemerkenswerte, analytisch profunde Erklärung der Wirtschaftspolitik seiner Berichtsländer, die er durch das Streben nach nationaler Unabhängigkeit angesichts wachsender internationaler Abhängigkeiten getrieben sieht.

Der Autor unterscheidet drei Phasen im Untersuchungszeitraum: den wirtschaftlichen Proto-Nationalismus (1780-1860), den liberalen Wirtschaftsnationalismus (1860-1914) sowie den Wirtschaftsnationalismus der Zwischenkriegszeit (1918-1939), dem die Studie den größten Raum widmet. In den ersten Kapiteln zeichnet David den Zusammenhang zwischen beginnender Industrialisierung und erwachendem Nationalismus nach, für welchen das Beispiel Polens emblematisch steht. Im zweiten Abschnitt beschreibt er das Erscheinen des Staates als Akteur in der Wirtschaftspolitik, der seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konkrete Maßnahmen zur Förderung der Industrialisierung ergriff. Möglich wurde dies durch das Entstehen neuer sozialer Kräfte, vor allem der Unternehmerschicht, sowie einer professionellen Bürokratie, die schließlich den alten Eliten das Steuer in der Wirtschaftspolitik aus der Hand nahm. Allerdings, so zeigt der Autor, waren der staatlichen Interventionspolitik in die Wirtschaft frühzeitig auch diskriminierende Tendenzen gegenüber Minderheiten inhärent, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts schließlich in einen aggressiven Nationalismus umschlugen.

In der Zeit zwischen den Weltkriegen, besonders in den 1930er-Jahren, kam der Wirtschaftsnationalismus schließlich zur vollen Entfaltung. Die Intervention des Staates erschien dabei zugleich als Reaktion auf globale Wirtschaftskrisen wie innere soziale Spannungen und das Aufscheinen extremer Ideologien und politischer Bewegungen im rechten und linken Spektrum. Das zunehmende Gewicht der Bürokratie, so zeigt David, wurde von einer Marginalisierung der traditionellen Eliten, besonders der Großgrundbesitzer, begleitet.

David gelingt es mit seiner Arbeit, zwei geläufige Fehlurteile zu korrigieren. Zum einen widerspricht er den Argumenten der Neu-Utilitaristen, die den Staat als Haupthindernis einer freien Wirtschaftsentwicklung interpretieren. Der Autor zeigt hingegen, welche positiven Effekte gerade Weichenstellungen im Bereich der Bildungs- und Investitionspolitik auf die Erfolgschancen der Nachzügler besitzen konnten. Zum zweiten macht er deutlich, dass Protektionismus und wirtschaftliches Wachstum in bestimmten Phasen durchaus in einem positiven Wechselverhältnis stehen können und dass die Liberalisierung der Märkte keineswegs das alleinige Heilmittel gegen den Zustand ökonomischer Rückständigkeit darstellte.

Der Erfolg Finnlands als einzigem der osteuropäischen Länder unterstreicht Davids These. Diesem armen, agrarischen und überbevölkerten Peripheriestaat, der am Ende des Ersten Weltkrieges zudem von einem bitteren Bürgerkrieg erschüttert worden war, gelang es in der Zwischenkriegszeit mit Hilfe des Protektionismus, eine umfassende Industrialisierung in Gang zu setzen und sich vom Fluch der Rückständigkeit dauerhaft zu befreien. Die wachsende internationale Nachfrage nach finnischen Exportprodukten wie Holz und Papier, vor allem aber die Unabhängigkeit, Professionalität und Kapazität des Staatsapparates ermöglichten eine sozial ausgewogene Investitions- und Einkommenspolitik, den Aufbau staatlicher Industrien und Infrastruktur sowie die Eindämmung ausländischer Kapitalinteressen. “Toutefois, l‘exemple des pays d’Europe de l´Est a montré que le succès de ces mesures visant à favoriser l´industrialisation est conditionné, en dernière instance, par l’organisation sociale intérieure et la situation internationale.” (S. 20)

Ausschlaggebend für Erfolg oder Misserfolg protektionistischer Aufholstrategien, so zeigt der Autor, sind fünf Faktoren: (1) die Erschließung überregionaler Absatzmärkte, die die innere Nachfrage in den rückständigen Agrarstaaten kompensieren; (2) eine Politik „selektiver Dissoziation“ und egalitärer Einkommensverteilung, um eine breitere Wirtschaftsentwicklung zu ermöglichen; (3) ein ausreichend hoher Bildungsstand, der die Anwendung neuer, aus dem Ausland importierter Technologien erlaubt; (4) konstruktive Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft sowie (5) ein zuträglicher internationaler Kontext.

Die Erfolgsgeschichte Finnlands in der Zwischenkriegszeit blieb, so zeigt David, im osteuropäischen Raum eine Ausnahmeerscheinung. Andere Länder scheiterten nicht aufgrund des Protektionismus, sondern an dessen mangelhafter Umsetzung, und zwar weil bestimmte Interessengruppen vor allem die eigenen Vorteile, nicht den Wohlstand der Nation als ganze, im Sinn hatten. State capture, die chronische Krankheit der schwachen Staaten Osteuropas, präsentiert sich bis in die Gegenwart als Haupthindernis erfolgreicher Nachholstrategien.

Thomas David ist ein überzeugendes, stringent argumentierendes Buch gelungen, mit dem er an die wegweisenden komparativen Untersuchungen Ivan Berends und Paul Bairochs zur europäischen Wirtschaftsgeschichte anknüpft. Indem er seine Analyse auf umfassende statistische Neuberechnungen zu Außenhandel, Industrie, Produktivität, Bevölkerung, Bildung und Einkommen stützt, liefert er neues quantitatives Material, auf dessen Grundlage sich endlich West und Ost zuverlässig miteinander vergleichen lassen. Nicht zuletzt bietet dieses Buch wichtige Hinweise für die Interpretation und Lösung drängender Gegenwartsprobleme, die sich den weniger entwickelten Volkswirtschaften im Zeitalter der Globalisierung stellen. Zum Verständnis der europäischen Wirtschaftsgeschichte leistet dieses Buch einen wesentlichen Beitrag. Es sei deshalb sehr nachdrücklich zur Lektüre empfohlen.

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