Diktaturen und Demokratie in Deutschland

: Diktaturen in Deutschland. Diagnosen und Analysen. Baden-Baden 2008 : Nomos Verlag, ISBN 978-3-8329-3679-2 552 S. € 69,00

: Demokratie in Deutschland. Diagnosen und Analysen. Köln 2008 : Böhlau Verlag, ISBN 978-3-412-20157-9 VI, 431 S. € 49,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Donth, Berlin

Beide Bände enthalten Aufsätze Eckhart Jesses, die er in den letzten 20 Jahren publizierte, und die von Uwe Backes und Alexander Gallus („Demokratie in Deutschland“) sowie von Frank-Lothar Kroll („Diktaturen in Deutschland“) herausgegeben wurden.

Jesse zählt zu jenen Politikwissenschaftlern, die für eine enge Verbindung ihres Faches mit dem der Zeitgeschichte eintreten. Wie kaum ein anderer Vertreter seiner Zunft steht Jesse für den Brückenschlag zwischen Politikwissenschaft und Zeitgeschichtsforschung. Ebenso gehört er zu den prononcierten Vertretern der „Demokratiewissenschaftler“. Seine Themen sind diejenigen, die die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert bestimmten: Die Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Totalitarismus, zwischen Demokratie, Nationalsozialismus und Kommunismus.

Leitschnur seiner Untersuchungen ist die Totalitarismustheorie, deren wichtigste Vertreter er kritisch und quellennah würdigt. Auch umstrittene Autoren wie Ernst Nolte erfahren eine objektive Berücksichtigung. Diese Theorie zugrundelegend, vergleicht er das Dritte Reich mit den kommunistischen Systemen im sowjetischen Machtbereich und beide Herrschaftsformen mit der Demokratie.

Als eine der wesentlichen Grundlagen totalitärer Herrschaft in NS-Staat und Kommunismus sieht Jesse Terror und Unterdrückung an, die sich nicht nur gegen tatsächliche oder vermeintliche Gegner richteten, sondern die im Kern alle Bereiche der Gesellschaft ergriffen. Auf die Kritiker der Totalitarismustheorie Bezug nehmend, die insbesondere im linken Lager die im kommunistischen Herrschaftsbereich verübten Verbrechen gegenüber denen des Dritten Reiches mit Hinweis auf den von diesem initiierten Zweiten Weltkrieg und den Holocaust zu relativieren versuchen, verweist Jesse auf das „Schwarzbuch des Kommunismus“. Ihm geht es eben nicht um eine Aufrechnung, sondern darum, dass beide Weltanschauungsdiktaturen des 20. Jahrhunderts ohne das millionenfache Leid, das sie aus durchaus unterschiedlichen Motiven über ihre Opfer gebracht haben, nicht zu erklären und verstehen sind. Zudem betont Jesse, dass nicht ausschließlich Terror und Gewalt das Fundament beider Systeme bildeten, sondern dass diese es auch verstanden, große Teile der Gesellschaft und hier insbesondere der Jugend zu „verführen“ und für ihre letztlich menschenverachtende Ideologie zu begeistern.

Im Vergleich zwischen Drittem Reich und SED-Diktatur zeigt Jesse auf, dass die DDR eine Diktatur von Moskaus Gnaden war, während Hitler ohne Hilfe auswärtiger Mächte zur Macht gelangte. Hitlers Regime wurde durch einen Krieg beseitigt, der mit Deutschlands bedingungsloser Kapitulation endete, während die SED-Herrschaft in der friedlichen Revolution gestürzt wurde.

Jesse untersucht darüber hinaus die Entwicklungsstufen der Kommunismus- und der DDR-Forschung in der alten Bundesrepublik. Sein Ansatz ist wesentlich fruchtbarer als die der sogenannten „Systemimmanenten Richtung“, die vor allem die Debatten in den letzten beiden Jahrzehnten vor dem Mauerfall im Westen zu dominieren versuchten. Es wäre zu begrüßen, wenn die Positionen Jesses in der Politikwissenschaft noch stärker aufgegriffen würden.

In seinen Beiträgen zur Geschichte der DDR-Forschung verliert er im Gegensatz zu vielen Protagonisten der Deutschlandforschung der alten Bundesrepublik nie die wesentliche Grundlage der SED-Herrschaft aus dem Blick – nämlich dass diese zu keinem Zeitpunkt eine in freien Wahlen errungene Legitimität vorweisen konnte, sondern sich in letzter Konsequenz auf sowjetische Bajonette stützen musste. Dass sich innerhalb der 40-jährigen DDR-Geschichte auch Wandlungen vollzogen und sich z.B. nach dem Mauerbau 1961 Teile der Bevölkerung mit dem Regime arrangierten und dieses auf verstecktere Repressalien setzte, wird von Jesse gewichtet und eingeordnet. Die Gesellschaft der DDR sah in den 1980er-Jahren anders aus als zur Hochzeit des Stalinismus Anfang der 1950er-Jahre, unterschied sich aber bezüglich des politischen Systems immer fundamental von dem der Bundesrepublik. Jesses Position, die DDR in ihrer Frühzeit als totalitär zu bezeichnen, während sie in ihrer Endphase stärker durch autoritäre Elemente gekennzeichnet war, ist gerade für die Methodik der Untersuchung kommunistischer Regierungssysteme sehr anregend.

Ergänzt wird dies durch eine Analyse der Entwicklung der Opposition in der DDR und deren Bedeutung für den Untergang des SED-Regimes sowie der Vorreiterrolle Sachsens im Wiedervereinigungsprozess.

Für Jesse stellen totalitäre Herrschaftssysteme und deren Ideologien eine der großen Herausforderungen dar, vor denen unsere demokratische Gesellschaft steht. Parteien, Wahlen, Demokratieschutz sowie Links- und Rechtsextremismus sind die Themenfelder, auf die Jesse den Fokus richtet.

Dabei blickt er auch auf die politische Kultur Deutschlands in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Vielschichtig wird herausgearbeitet, welcher Stellenwert der sogenannten „Vergangenheitsbewältigung“ in der Geschichte der Bundesrepublik zukommt und wie diese auch verschiedentlich, nicht zuletzt während des Historikerstreites, instrumentalisiert wurde. Zudem befasst er sich mit den sogenannten „Dritten Wegen“ bei der Wiedervereinigung und deren Auswirkungen auf die politische Kultur der Bundesrepublik Deutschland.

Weitere Akzente setzt Jesse mit seinen Artikeln zu Parteien und Wahlen als wichtige Bestandteile einer Demokratie. Er legt darüber hinaus wichtige Vorschläge zur Reform des Zweitstimmensystems vor, über das bis heute in Deutschland vor allem im Umfeld von knappen Wahlausgängen diskutiert wird.

Wie ein roter Faden zieht sich die Auseinandersetzung mit dem politischen Extremismus von links und rechts gleichermaßen durch die Beiträge Jesses. Seine Arbeiten stellen ein eindrucksvolles Plädoyer für die „Streitbare Demokratie“ und einen wirksamen Verfassungsschutz dar, der auf keinem Auge blind ist. Bei ihm ist dies nicht auf die Tätigkeit der Kölner Behörde begrenzt. Seine Analyse des politischen Extremismus, in welchem Gewand auch immer er auftritt, greift weit darüber hinaus.

Jesses Extremismusbegriff sowie die von ihm verwendete Totalitarismustheorie sind geeignete Voraussetzungen, um sowohl links- als auch rechtsextremistische Tendenzen in der Bundesrepublik Deutschland zu untersuchen. Ohne beide gleichzusetzen, ist ihnen doch die Ablehnung der freiheitlichen Demokratie gemeinsam.

Nicht nur in seinen Analysen des Rechtsextremismus und der ihm zugrundeliegenden Ideologien, auch bei seinem Beitrag über Rosa Luxemburg wird dies deutlich. Gerade am Beispiel dieser „linken Gallionsfigur“ demaskiert Jesse die Partei „Die Linke“, weil diese nicht gleichzeitig Lenin und Kautsky für sich reklamieren könne. Zudem weist er darauf hin, dass es bei jeder Auseinandersetzung mit dem theoretischen Werk Luxemburgs letztlich um den Konflikt zwischen Freiheit und Unfreiheit gehe und die Revolutionärin trotz der Verwendung eines ihrer Zitate durch die DDR-Opposition nicht als Vorkämpferin der Demokratie bezeichnet werden könne.

Besonders hervorzuheben ist, dass es die Register beider Bücher ermöglichen, sich schnell einen Überblick zu verschaffen und die Schriften Jesses auch als Nachschlagewerke zu verwenden.

Jesses Arbeiten zählen schon lange und zu Recht zu den Standardwerken der Extremismusforschung. Beiden Bänden ist deshalb eine große Verbreitung zu wünschen – und sie sollten zur Pflichtlektüre jeder Studentin und jedes Studenten der Politikwissenschaft gehören.

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