R. C. Allen: British Industrial Revolution

Cover
Titel
The British Industrial Revolution in Global Perspective.


Autor(en)
Allen, Robert C.
Reihe
New Approaches to Economic and Social History
Erschienen
Anzahl Seiten
331 S.
Preis
€ 20,41
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dieter Ziegler, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Ruhr-Universität Bochum

Wer aufgrund des Titels dieses Buches annimmt, es handele sich um eine thematische Einführung in die Geschichte der Industrialisierung, wird enttäuscht werden. Ohne Vorkenntnisse ist dieses Buch kaum zu verstehen. Denn es ist eher als ein Diskussionsbeitrag zu der in der angelsächsischen Wirtschaftsgeschichtsschreibung seit geraumer Zeit sehr intensiv geführten Debatte um die Frage konzipiert, weshalb die Weltrevolution der Industrialisierung gerade in Europa und hier ausgerechnet in Großbritannien ihren Ausgangspunkt nahm. Einen Aufschwung hatte diese Debatte vor einiger Zeit dadurch erhalten, dass es ausgerechnet Vertreter der „New Economic History“ waren, also stark anhand von ökonometrischen Modellen argumentierende Historiker, die ihre alten Heilsbotschaften über Bord warfen und nun dezidiert kulturhistorisch argumentieren. Besonders kritisch gegenüber einer eindimensional ökonometrischen Betrachtung von Geschichte ist Deidre McCloskey. Nach ihrer Ansicht verhalfen sich Marktwirtschaft und bürgerlicher „Wertehimmel“ gegenseitig zum Durchbruch („Bourgeois Virtues“) und bildeten in dieser Kombination auch die wichtigste Ursache für den Durchbruch der Industrialisierung. In eine ähnliche Richtung argumentiert Joel Mokyr, der die These vertritt, dass die Industrielle Revolution eine Fortsetzung der wissenschaftlichen Revolution der Aufklärungszeit gewesen sei („The Enlightened Economy“).

Allen bestreitet die Bedeutung kultureller Faktoren nicht. Vielmehr räumt er durchaus ein, dass die kulturelle Revolution der europäischen Aufklärung erklären könne, weshalb die Industrialisierung im Europa des 18. Jahrhunderts und nicht früher und nicht etwa in Asien ihren Anfang nahm. Aber kulturelle Faktoren könnten nicht erklären, weshalb Großbritannien und nicht irgendeine andere Region in (West-)Europa die Wiege der industriellen Welt gewesen ist. Allen macht hierfür wesentlich zwei Faktoren verantwortlich: hohe Löhne und billige Energie. Im Grunde folgt er damit einem schon recht alten Erklärungsmuster für den Erfolg der US-amerikanischen Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Bereits im Jahr 1962 hatte John Habakkuk argumentiert, dass hohe Löhne einen starken Anreiz für arbeitssparende Innovationen bilden, die in Anbetracht der leichten Verfügbarkeit von natürlichen Ressourcen (und Land) in den USA vergleichsweise günstige Voraussetzungen zu ihrer Umsetzung besaßen. Allen argumentiert ähnlich, indem er die Ressourcenverfügbarkeit auf Energie bzw. Steinkohle verengt und das Argument für Großbritannien in das 18. Jahrhundert vorverlegt.

Den Ausgangspunkt seiner Erklärung bildet die Entstehung der „Atlantic Economy“. Allen argumentiert jedoch nicht wie ältere Marxisten, dass die Gewinne aus dem Sklavenhandel letztlich in industrielles Kapital verwandelt worden seien, wodurch der Kapitalismus praktischerweise gleich von Anfang an moralisch diskreditiert ist. Sein Bild ist differenzierter: Die neuen überseeischen Produkte wie Zucker, Tee oder Tabak waren für die Europäer zwar kostspielig, aber nicht unerschwinglich. Wer sie konsumieren wollte, musste über Geldeinkommen verfügen. Ein Anreiz war geschaffen, dorthin zu wandern, wo die höchsten Löhne gezahlt oder die höchsten Einkommen erzielt wurden. Dadurch wurde die regionale Mobilität erhöht. So erklärt sich die Zuwanderung nach London, die bereits seit dem 17. Jahrhundert die Stadt rasant wachsen ließ.

Durch die Zuwanderung stieg auch der Bedarf der Stadt an Nahrungsmitteln und Brennstoffen. Dadurch wurde zum einen ein Anreiz zur Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion geschaffen. Zum anderen stimulierte die Brennstoffnachfrage den Ausbau des Steinkohlenbergbaus in der Region Newcastle. Denn dank der nachfragebedingt steigenden Holzkohlenpreise und dank der günstigen verkehrsgeographischen Lage mit der Möglichkeit, die Steinkohle entlang der englischen Ostküste per Schiff nach London zu transportieren, konnte Steinkohle in London so preisgünstig angeboten werden, dass ihre Nachteile wie die Geruchsbelästigung durch den Preisvorteil kompensiert wurden.

Diese Entwicklung hatte noch nichts direkt mit der späteren Industriellen Revolution zu tun. Es wurden lediglich die Voraussetzungen geschaffen, die Kohle als billigen Energieträger auch für andere Bedarfe als für den Hausbrand zu entwickeln. Entsprechend sollte es auch nicht allzu lange dauern, bis die Steinkohle Eingang in die Eisenerzeugung fand und sich später auch als Energieträger für die Kraftmaschinen in der Textilindustrie durchsetzte. Für die Mechanisierung der Textilindustrie war allerdings zunächst nicht so sehr die Verfügbarkeit billiger Energie ausschlaggebend, sondern der von den vergleichsweise hohen Löhnen ausgehende Anreiz, durch den Einsatz von Kapital Arbeit zu substituieren.

Tatsächlich erklärt das Hochlohnargument die frühen englischen Versuche, Möglichkeiten zur Mechanisierung der Produktion zu finden und den entsprechend hohen Einsatz von „Venture Capital“, um die Erfinder zu unterstützen, die meist viele Jahre benötigten, um ihre Erfindung zur Marktreife zu bringen. Aber auch die Niederlande waren ein Hochlohnland mit einer im 18. Jahrhundert mindestens ebenso hohen Urbanisierungsrate wie England und einer vergleichbar bedeutenden Stellung im Fernhandel. Die Ausgangsbedingungen waren insofern annähernd gleich. Auch die fehlende Energiebasis überzeugt vordergründig nicht. Denn der Seeweg von Newcastle nach Amsterdam war kaum weiter als nach London, so dass es durchaus vorstellbar ist, dass die britischen Zechen auch Amsterdam und die anderen holländischen Küstenstädte mit Steinkohle versorgt hätten. Auch die Ruhrkohle wäre als Alternative denkbar.

In Amsterdam bot sich als Alternative zur Holzkohle für die Hausbrandversorgung jedoch eher Torf als Steinkohle an. Torf verfügte aber nicht über vergleichbare, für die spätere industrielle Anwendung geeignete Eigenschaften wie die Steinkohle. Auch die Ruhrkohle kam zunächst noch nicht in Betracht. Denn aufgrund der territorialen Zersplitterung des späteren Ruhrgebiets konnten sich die Anliegerstaaten lange Zeit nicht auf eine Schiffbarmachung der Ruhr verständigen, so dass die Transportkosten zu hoch lagen, als dass die Ruhrkohle für Amsterdam eine ähnliche Rolle hätte spielen können wie die Newcastle-Kohle für London. Einzig Antwerpen hätte mit der Steinkohle aus dem Borinage oder aus der Region Lüttich preisgünstig versorgt werden können. Doch Antwerpen hatte bereits im 17. Jahrhundert seinen Zenit als Handelsmetropole überschritten. Seine Bevölkerungszahl wuchs nicht mehr, so dass der vorindustrielle Nachfrageimpuls hier weitgehend ausfiel. Insgesamt war die Region wohl auch zu klein, und – so ließe sich ergänzen – die Habsburger waren auch zu wenig interessiert, um als erste den industriellen Durchbruch zu schaffen. So verwundert es aber auch nicht, dass das heutige Belgien den ersten Brückenkopf der Industrialisierung auf dem Kontinent bildete.

Welche Umstände im Einzelnen dazu führten, dass sich die Industrielle Revolution im 18. Jahrhundert in Großbritannien Bahn brechen konnte, wird dann am Beispiel der Dampfmaschine, der Baumwollspinnerei und der Eisenverhüttung auf Koksbasis diskutiert. Dabei wird durchaus deutlich, dass bei zahlreichen Erfindungen – wie etwa bei der Dampfmaschine von Thomas Newcomen – neuere Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften eine wichtige Voraussetzung bildeten. Aber das war durchaus nicht immer der Fall. Entscheidender für die steigende Zahl von technischen Erfindungen war nach Allens Ansicht vielmehr die Tatsache, dass es der wachsende gesellschaftliche Reichtum immer mehr Menschen erlaubte, kulturelles Kapital zu erwerben. Je größer jedoch die Zahl der Menschen war, die über eine rudimentäre Bildung verfügten, desto größer wurde die Wahrscheinlichkeit, dass sich darunter auch solche fanden, die sich bei entsprechenden Anreizstrukturen erfolgreich als „Erfinder“ versuchen konnten. Über diesen indirekten Weg bleibt auch bei Allen die Aufklärung im Spiel. Zurück zur nackten Mathematik der „New Economic History“ geht er deshalb nicht. Allerdings wirft er auch nicht (fast) alles über Bord, was vor dreißig Jahren als das methodische „Non plus ultra“ gegolten hatte. Nicht zuletzt wegen dieser methodischen Ausgewogenheit ist das Buch die vielleicht wichtigste Veröffentlichung zur Industrialisierung Europas seit Sidney Pollards „Peaceful Conquest“.