Cover
Titel
Halbstarke in der DDR. Verfolgung und Kriminalisierung einer Jugendkultur


Autor(en)
Janssen, Wiebke
Erschienen
Anzahl Seiten
317 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heiner Stahl, Seminar für Medien- und Kommunikationswissenschaft, Universität Erfurt

Wiebke Janssens nun bei Ch. Links erschienene Hallenser Dissertation über die jugendkulturelle Strömung der „Halbstarken“ in der DDR füllt eine Lücke in den bisherigen Forschungen zur DDR-Geschichte. Der Autorin ist es gelungen, die Reportierung „besonderer Vorkommnisse“ und von „Tumulten“ auf Jahr- und Weihnachtsmärkten sowie Pressefesten seitens der Volkspolizei mit der Manifestation jugendkultureller Devianz zu verknüpfen und somit der formalisierten Sprache der Repressionsorgane eine subkulturelle Gegenerzählung anzufügen.

In Kapitel 4 (S. 135-189) zeigt sie an den Bezirken Magdeburg, Halle und Karl-Marx-Stadt, dass auch das „Halbstarken“-Phänomen in der DDR mit industriellen städtischen Umwelten und den darin bestehenden Arbeiter-Milieus verknüpft ist. Somit prüft Janssen die von Kaspar Maases gesetzte These von der „Selbstamerikanisierung“1 erfolgreich für den staatssozialistischen Kontext des „anderen“ Deutschland. Und sie bleibt nicht beim Nachzeichnen von Elitendiskursen über „Halbstarke“ stehen. Durch die Perspektive grenzt die Autorin ihre Untersuchung durchaus deutlich von Uta G. Poigers Studie zu Rock’n’Roll, Jazz und Liberalität im Kalten Krieg ab. Das schafft Janssen auch gerade deshalb, weil sie diese „besonderen Vorkommnisse“ zumindest ansatzweise als temporäre Rückeroberung von öffentlichem Raum liest.2

Detailreich und akkurat zeichnet Janssen in den beiden Schlusskapiteln die Kriminalisierung von „Fan-Klubs“ und losen Freizeitgesellungen Jugendlicher in der DDR der 1950er-Jahre nach (Kapitel 5: S. 190-231) und stellt die Geschichte der Kontrolle jugendlicher Devianz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Bezug zu den unterschiedlichen lokalen und überregionalen Initiativen der Einheitspartei (Kapitel 6: S. 232-289). Subkulturelle Selbstbehauptungskämpfe sind auch bei den Wilden Cliquen und Meuten in der Weimarer Republik, den Edelweisspiraten oder den österreichischen „Schlurfs“ um Hemden, Hosen, Haarlängen und „heiße“ Lieder geführt worden. Die nüchternen und spaßfernen Jugendfunktionäre der Arbeiterbewegung, und nicht nur sie, hatten diese Widerständigkeiten durch Rituale damals schon nicht verstanden, deshalb blieb ihnen dann die populärkulturelle Wirklichkeit von Texashemden, Niethosen, lärmenden Krafträdern und Männlichkeitskonstruktionen in der DDR der 1950er-Jahre genauso verschlossen.

Letztlich gewannen zwar stets die Einheitspartei und die staatlichen Repressionsorgane diese kurzen Auseinandersetzungen, jedoch erlangten „Halbstarke“ in dem Maße jugendkulturelle Bedeutung, in dem sie von der SED, dem überforderten Jugendverband FDJ und durch die verschiedenen Pressekampagnen zum Problem gemacht wurden. Dadurch wurde deren vermeintliche Gefährlichkeit auch in der gelenkten öffentlichen Sphäre der DDR mit Nachdruck platziert. Das veranschaulicht Janssen insbesondere an Zeitungsartikeln und Leserbriefen, die in den Bezirkszeitungen erschienen, arbeitet es aber auch an den 1959 beginnenden Vorarbeiten zum ersten Jugendkommuniqué heraus (S. 276-286), das schließlich am 24. Januar 1961 veröffentlicht wurde. Hier löst sie sich tatsächlich einmal deutlich von Peter Skybas Darstellung3 einer durchgängig gescheiterten SED-Jugendpolitik.

Janssen beschreibt quellengesättigt, über welche nicht nur medialen Kanäle sich der kulturelle Transfer bestimmter Schichtungen amerikanischer Populärkultur sowie deren visueller und akustischer Zeichen und Körperhaltungen in die DDR vollzog. Sie deutet ebenso die selektiven Ein- und Umarbeitungen an, die aus diesen „Erkennungszeichen“ Identität stiftende (Gegen-)Angebote im staatssozialistischen Alltag herstellen. Dass dies dann politisch aufgeladen wurde, nennt Janssen den Hauptunterschied zur westlichen „Halbstarke“-Hysterie. Das ist klar und einleuchtend.

Janssens Dissertation ist eine wirklich ansprechende und anspruchsvolle Zusammenstellung der relevanten SED-Herrschaftsakten auf ZK- und Bezirksebene. Ihre Beschreibung und Analyse fügt sich gelungen in die deutschsprachige Forschungsliteratur zur DDR und zur kulturellen Amerikanisierung Deutschlands in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein. Einige Ausführungen zu britischen „Teds“ oder französischen „Blousons Noirs“ hätten geholfen, und dieser Aspekt ist durchaus als grundlegender Kritikpunkt an Janssens Buch zu verstehen, die transnationalen Dimensionen dieses mehrdimensionalen kulturellen Transfers noch stärker zu betonen.

Anmerkungen:
1 Kaspar Maase, Bravo Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren, Hamburg 1992, S. 13.
2 Für den Bezirk Leipzig ist das bereits sehr anregend gezeigt worden: Mark Fenemore, Nonconformity on the borders of dictatorship. Youth subcultures in the GDR (1949-1965), London: PhD University College London, 2002. Ders.: Sex, thugs and rock’n’roll: teenage rebels in cold-war East Germany, New York 2007.
3 Peter Skyba, Vom Hoffnungsträger zum Sicherheitsrisiko. Jugend in der DDR und Jugendpolitik der SED 1949-1961, Köln 2000.

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