K.H. Gräfe: Vom Donnerkreuz zum Hakenkreuz

Titel
Vom Donnerkreuz zum Hakenkreuz. Die baltischen Staaten zwischen Diktatur und Okkupation


Autor(en)
Gräfe, Karl Heinz
Reihe
Bulletin für Faschismus- und Weltkriegsforschung, Beihefte 6
Erschienen
Berlin 2010: Edition Organon
Anzahl Seiten
XVII, 512 S.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Garleff, Oldenburg

Als Estland, Lettland und Litauen nach dem Zerfall der Sowjetunion ihre staatliche Selbstständigkeit wiedererlangt hatten und damit zunehmend breitere Quellenbereiche zur Verfügung standen, eröffneten sich neue Fragestellungen sowohl für die nationalen Geschichtswissenschaften als auch für die internationale Forschung. Vor allem die Neubewertung der ereignisreichen Epoche des 20. Jahrhunderts hatte erhebliche Auswirkungen auf die jeweilige Geschichts- und Erinnerungspolitik dieser Länder. Seitdem werden Hintergründe und Abläufe der Entwicklungen während der beiden Weltkriege sowie der ersten Unabhängigkeitsphase neu bewertet – und das nicht nur in den baltischen Ländern selbst, sondern ebenso von der deutschen wie von der russischen Baltikumforschung mit teilweise höchst unterschiedlichen Ergebnissen. Eine besondere Brisanz erhalten diese dadurch, dass in Publizistik und wissenschaftlicher Literatur nach wie vor ethnisch-nationale oder ideologisch-politische Tendenzen zum Ausdruck kommen.

Der Dresdener Osteuropahistoriker Karl Heinz Gräfe unternimmt im vorliegenden Werk den groß angelegten Versuch, die Geschichte dieser drei baltischen Länder in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Kontext ihrer Beziehungen zu den Großmächten Deutschland und Sowjetunion darzustellen. Dabei will er die deutsche Okkupationsherrschaft in der baltischen Region und die estnische, lettische und litauische Kollaboration einschließlich ihrer Vor- und Nachgeschichte vergleichend untersuchen. Das erfolgt in acht umfassenden Kapiteln – beginnend mit der „Geburt der baltischen Republiken in Revolution, Konterrevolution und Intervention“ während des Ersten Weltkrieges (Kapitel 1), über die „Beseitigung der parlamentarischen Regierungsform – Diktaturregime und faschistische Bewegungen“ (Kapitel 2), die Phase der Militärstützpunkte und ersten Sowjetisierungsmaßnahmen (Kapitel 3) sowie die „faschistischen Okkupationsziele“ mit der Entstehung des Reichskommissariats „Ostland“ (Kapitel 4). Den Schwerpunkt seines Buches sieht der Verfasser in den Kapiteln 5 bis 7 über Ziele und Durchführung der deutschen Besatzungspolitik sowie die länderspezifisch dargestellte Kollaboration jeweils in Litauen, Lettland und Estland. Im abschließenden Kapitel werden aktuelle Fragen der Restauration, der Geschichtsrevision und des „verordneten Geschichtsbildes“ in den heutigen baltischen Staaten behandelt. Die Arbeitsgrundlage für diese komplexe Darstellung bilden Monographien, Studien und Aufsätze sowie Quelleneditionen, vereinzelt auch unveröffentlichte Gerichtsakten von Kriegsverbrecherprozessen in beiden deutschen Staaten.

Generell ist das Werk dadurch gekennzeichnet, dass die Analysen von ausführlichen ereignisgeschichtlichen Darstellungsteilen begleitet werden. Für diese zieht Gräfe Fachliteratur unterschiedlichster Provenienz heran, teils zur Untermauerung der unstrittigen Ereignisabläufe, teils auch in Auseinandersetzung mit den dort nach Ansicht des Verfassers als „Geschichtslüge“ (S. 233) verfälschenden, weil ideologiebelasteten Deutungen. Auffällig ist dabei seine Tendenz, die nicht nur in der westlichen Forschung erarbeiteten Zahlen beispielsweise von Opfern oder von baltischen Widerstandskämpfern zu relativieren aufgrund russischer Quellenpublikationen, deren Aussagewert allerdings nicht näher analysiert wird (S. 287), während Angaben über Opfer sowjetischer Gewaltakte eher rar sind. An einschlägigen westlichen Forschungsarbeiten werden unter anderem die neueren Studien von Ruth Bettina Birn, Karsten Brüggemann, Christoph Dieckmann und Joachim Tauber, an baltischen die von Alvin Isberg, Mart Laar, Ilgvars Butulis und Inesis Feldmanis herangezogen, letztere werden dabei einer teilweise harschen Kritik unterzogen.

Bei aller Breite der benutzten Fachliteratur und trotz mancher Einzelkorrekturen stellt sich der Verfasser eindeutig in die Tradition jener dezidiert anti-baltischen und pro-sowjetischen Darstellungen, wie sie etwa von Michail Krysin jüngst repräsentiert werden.1 Vor allem dessen Charakterisierung der parlamentarischen Periode in den baltischen Staaten als Demokratie unter dem Hakenkreuz folgt Gräfe weitgehend, während er differenzierende Untersuchungen zu den sowjetrussischen Plänen nach 1940 wie jene von Elena Zubkova kritisiert.2 Das gilt für deren Bewertung des Untergrundkampfes in Litauen (S. 224) ebenso wie für ihre angebliche „Verfälschung“ durch thematische Konzentration, wobei ihr Gräfe gar „Rücksicht[nahme] auf die Herausgeberschaft“ deutscher und russischer Historiker unterstellt (S. 365). Es finden sich gelegentlich allerdings auch Abweichungen von der bisherigen verbreiteten russischen Sicht, so wenn Gräfe zu den Vorgängen des Jahres 1940 einerseits wiederum pauschalisierend, andererseits mit neuer Wertung schreibt: „Die Diktaturen von Smetona, Ulmanis und Päts wurden durch andere diktatorische Regime ersetzt“ (S. 16).

Der Verfasser bemüht sich, in seinem Werk zwei „Kontinuitätslinien“ herauszuarbeiten: zum einen die der „deutschen Expansions- und Okkupationspolitik gegenüber den baltischen Ländern“ in beiden Weltkriegen, zum anderen jene der „antidemokratischen rechtsnationalistischen und faschistischen Bewegungen“ während der Zwischenkriegszeit, der „Naziokkupation“ und seit den 1990er-Jahren (S. XIIf.). Die ersten Abschnitte enthalten vereinzelt Fehler – so war Hans Baron Manteuffel nicht der Kommandeur der „Landwehr“ (richtig: „Landeswehr“), sondern Kommandeur der Stoßtruppe (S. 26) – und betonen für die parlamentarische Epoche in erster Linie die wirtschaftliche Abhängigkeit vom westlichen Ausland sowie die Entwicklungen sogenannter „rechtsnationalistischer“ Gruppierungen in Auseinandersetzung mit sozialistischen Kräften und den „mit allen terroristischen Mitteln gejagt[en]“ Kommunisten (S. 60). Die bereits hier deutliche Blickverengung kulminiert in der pauschalen Kennzeichnung der durchaus unterschiedlichen autoritären Regime der „rechtsnationalistischen Diktatoren Ulmanis, Päts und Smetona“ (S. 80). Hier wäre eine genauere Analyse des Begriffs "Völkisch" ebenso erforderlich wie eine differenzierende Darstellung des gesamten politischen Lebens und seiner Repräsentanten in der Zwischenkriegszeit, das allzu generalisierend auf die Dichotomie „rechtsbürgerlich-nationalistisch“ und „sozialistisch-kommunistisch“ reduziert wird. Dadurch würde die vom Verfasser postulierte Kontinuitätslinie zwar nicht mehr so geradlinig verlaufen, der komplexe historische Zusammenhang aber käme angemessen zum Ausdruck.

Nicht weniger pauschal bezeichnet Gräfe die unterschiedlichen deutschbaltischen Gruppierungen als „hochgradig nazifizierte deutsche Minderheitenorganisationen“ (S. 83), womit er jüngere Forschungsergebnisse ignoriert.3 So trifft die Bezeichnung der deutschbaltischen „Volksdeutschen Vereinigung“ in Estland als „vereinigte Faschistenorganisation“ (S. 437) nicht zu, und im Zusammenhang mit den Hinweisen auf die „Solidarität mit der jüdischen Bevölkerung“ hätte durchaus auch der posthum von Yad Vashem geehrte Paul Schiemann als vehementer Gegner sowohl des Nationalsozialismus als auch des Bolschewismus erwähnt werden können.4

Höchst problematisch ist es, wenn Gräfe bereits einleitend die „nach abgeschlossener kapitalistischer Restauration“ 1990 entstandenen und von ihm durchgehend als „baltische Neustaaten“ bezeichneten Länder heute in völliger „politische[r] Abhängigkeit von den USA und der EU“ sieht, die sie zu „Protektoraten gestuft“ habe (S. VIII) – Lettland stehe „faktisch unter Verwaltung der EU und des IWF“ und sei „dem Diktat von Brüssel unterworfen“ (S. IX). Die seiner Meinung nach von Exilbalten durchsetzten Regierungen Estlands und Litauens wiederum seien außenpolitisch „willfährige Schüler und Helfer der USA“ und gerierten sich „als Vorposten und Initiatoren einer gegen Rußland gerichteten Politik, die dessen […] politischen Handlungsspielraum einzuschränken und sein weltpolitisches Ansehen zu diffamieren trachtet“, sie scheuten gar „vor Provokationen nicht zurück“ (S. X). Das wird im achten Kapitel zu begründen versucht mit dem Wirken von „zumeist aus Emigrantenkreisen stammende[n] rechtsnationalistische[n] Kräfte[n]“ (S. 342), die „permanent und hartnäckig“ versuchen, die eigenen Beziehungen zu Russland ebenso wie die der EU „zu stören, zu blockieren oder zu belasten“ (S. 346). Im Unterschied zur parlamentarischen Epoche der Zwischenkriegszeit handle es sich im gegenwärtigen Estland und Lettland nicht um parlamentarische Demokratien, sondern jeweils um ein „ethnokratisches Staatswesen“ – der lettische „Nationalstaat“ gar sei eine „ethnokratische Diktatur“ (S. 370) –, von denen die großen ostslawischen Minderheiten durch „Menschenrechtsverletzungen“ ausgegrenzt würden (S. 343, 345, 347). Diese pauschalen Vorwürfe werden im Einzelnen nicht belegt und gehören eher in den Bereich politischer Polemik als zur seriösen Geschichtsforschung.

Eine Kontinuitätslinie von rechtsnationalistischem Denken der Zwischenkriegszeit bis heute und als Zeichen der „Wiederaneignung der Geschichte der baltischen Diktaturen“ durch Exilhistoriker, einheimische „Wendehistoriker“ und „Publizisten des rechtsnationalistischen Lagers“ (S. 394) sieht der Verfasser nicht zuletzt darin, dass die „Befreiung der baltischen Länder von der deutschen Okkupation durch die Rote Armee […] von den herrschenden Kräften der baltischen Neustaaten als zweite russische Okkupation umgewertet“ werde (S. 349). Die durch Jahrzehnte in der Emigration entwickelte „nationalistische Geschichtsklitterung“ manifestiere sich heute in Form der „staatlichen Geschichtsrevision“ (S. 392) in den Museen und im Umgang mit Denkmälern. Dass zahlreiche Bürger der baltischen Staaten die Folgen dieser „Befreiung“ in den Formen von Repression oder gar Deportation erleben mussten, gehört allerdings ebenfalls zu ihrem historischen Gedächtnis und sollte nicht als „Gegennarrativ“ denunziert werden, das „genausoweit von der historischen Wahrheit entfernt“ sei „wie die sowjetische Propaganda über diese dramatische Zeit“ (S. 378).

Insgesamt hinterlässt die Lektüre dieses Buches einen zwiespältigen Eindruck. Dem Versuch einer vergleichenden Untersuchung mit einer Fülle aufschlussreicher Detailinformationen (auch im umfangreichen Anhang mit Chronologie, Kurzbiographien und Personenregister mit Lebensdaten) steht die vom Verfasser postulierte Kontinuitätslinie von den Einstellungen baltischer Gruppen zu den Okkupationen über die „Faschisierung“ der ersten Unabhängigkeitszeit und die Kollaborationen bis zu deren „Renaissance“ in der heute angeblich „verordneten Geschichts- und Erinnerungspolitik“ gegenüber. Eben dieses Hauptanliegen plausibel zu begründen gelingt dem Verfasser wenig überzeugend in einem Buch, das trotz mancher redaktionellen Schwächen – wie Ungenauigkeiten bei Literaturangaben (zum Beispiel S. 2, 29, 39, 68, 84) und Registern (S. 480, 494) – die Diskussion durchaus anregen wird. Denn eine pluralistische Geschichtswissenschaft sollte sich auch mit historiographischen Traditionslinien auseinandersetzen, die einer älteren russischen Sicht verhaftet sind – insbesondere durch jene, die sich weniger an angeblichen Kontinuitätslinien, sondern mehr an der Vielfalt der im Baltikum agierenden Gruppen orientieren und daher zu anderen Schlussfolgerungen gelangen.

Anmerkungen:
1 Michail Krysin, Pribaltiskii faschism. Istoria i sovremennosts [Der baltische Faschismus. Geschichte und Gegenwart], Moskau 2007; vgl. hierzu die Rezension von Nils Ferberg in: Jahrbuch des baltischen Deutschtums 56:2009 (2008), S. 244–250.
2 Elena Zubkova, Pribaltika i Kreml 1940–1953 [Das Baltikum und der Kreml 1940–1953], Moskau 2008; vgl. Karsten Brüggemann: Rezension zu: Zubkova, Elena Jur’evna: Pribaltika i Kreml' 1940-1953 [Das Baltikum und der Kreml 1940-1953]. Moskau 2008, in: H-Soz-u-Kult, 12.09.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-3-159>.
3 Vgl. beispielsweise Michael Garleff (Hrsg.), Deutschbalten, Weimarer Republik und Drittes Reich, 2 Bde, Köln u.a. 2008 (Das Baltikum in Geschichte und Gegenwart, Bd. 1/I, 1/II).
4 Vgl. John Hiden, Defender of Minorities. Paul Schiemann, 1876–1944, London 2004, S. 242–246.

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