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Titel
Die große Katastrophe. Europa im Krieg 1939-1945


Autor(en)
Davies, Norman
Erschienen
München 2009: Droemer Knaur
Anzahl Seiten
848 S.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rüdiger von Dehn, Bergische Universität Wuppertal

„Man könnte meinen, es gebe nichts Neues mehr hinzuzufügen – zumindest so lange, bis man sich daranmacht zu untersuchen, was tatsächlich gesagt ist und was nicht gesagt ist.“ (S. 7) Der Titel des jüngsten Werks von Norman Davies spricht für sich. Der englische Historiker und einer der besten Betrachter der Geschichte Osteuropas hat seine Sicht auf den Zweiten Weltkrieg vorgelegt. Dabei schreibt hier ein Kenner für andere Kenner der Materie. So mag es vermutet werden. Ohne ausreichend eigene Sachkenntnis ist der bisweilen bruchstückhaften Argumentation von Davies jedenfalls kaum zu folgen.

Davies’ Darstellung liest sich wie ein provokativer Leitfaden für Historiker des Zweiten Weltkriegs. Der Emeritus der London University mahnt die indirekt angesprochenen Kollegen dazu, klare Worte und Definitionen in der Analyse des größten aller vergangenen Kriege zu nutzen. Er ruft dazu auf, nicht nur den aktuellen Büchermarkt zu bedienen und einem amerikanischen Geschichtsbild des Zweiten Weltkrieges hinterherzulaufen. Seinen eigenen Ansprüchen wird er dabei jedoch kaum gerecht, weder die Begriffsschärfe noch die Darstellung historischer Entwicklungslinien erfüllen die selbstgestellten Anforderungen.

Für Davies ist es ein Bedürfnis, eine international „einvernehmliche“ Vorstellung vom Zweiten Weltkrieg durchzusetzen. Dies mache es notwendig, den Krieg neu zu denken und altbekannte Fakten neu zu ordnen. Diesen Anspruch jedenfalls erfüllt Davies, was seine Monographie zu einer lesenswerten Streitschrift macht. Mit ihr werden ansatzweise Mythen zerstört und Legenden aufgelöst, etwa die Debatte um die Kriegsentscheidung in Europa, die seiner Ansicht nach nicht durch die USA allein erfochten und herbeigeführt wurde. Vielmehr waren es die Truppen Stalins, die es seiner Ansicht nach stärker in den Blick zu nehmen gilt. Die von Davies hiermit unterstellte Bedeutungslosigkeit des östlichen Kriegsschauplatzes in der deutschen bzw. europäischen Forschungslandschaft wird jedoch bereits durch einen Griff zu den einschlägigen Werken des Militärgeschichtlichen Forschungsamts deutlich relativiert.

Gleichermaßen kritisiert Davies die Vorstellung, dass die westlichen Demokratien in den Konflikt eingestiegen seien, um einen „guten“ Krieg zu führen. Spätestens bei der sich daran anschließenden Diskussion über den Sinn und Unsinn alliierter Luftangriffe auf Deutschland neigt Davies jedoch zu Polemik und mangelnder Sachlichkeit. Mit beidem will er den Leser offenbar dazu nötigen, den ebenso ausgeforschten wie umfassend bekannten Krieg neu zu denken. Die heißt vor allem: Davies setzt alles daran, den Leser von einer US-amerikanischen Lesart des Weltkriegs fortzuführen. Diese Fixierung wird von ihm jedoch eher unterstellt, als dass sie in der Forschungslandschaft der letzten Jahrzehnte tatsächlich eine Grundlage besäße.

Für Davies stellt der Zweite Weltkrieg samt seinen Folgen keine rein amerikanische und ebenso wenig eine rein englische, sowjetische oder französische Angelegenheit dar. Keine Nation könne die absolute Deutungshoheit für sich beanspruchen. Sein eindringlicher Appell richtet sich vornehmlich auch an die englischen Leser, die nur allzu oft vergäßen, dass ohne die Unterstützung des gesamten Empires der Krieg nie hätte gewonnen werden können. Doch statt sich dieser Mitkämpfer zu erinnern, feiere man sich lieber selbst – Seite an Seite mit den US-Kameraden.

Ein weiterer kritischer Punkt ist für Davies die Tatsache, dass es viel zu wenige allgemeine Synthesen über die gesamte Geschichte des Krieges gäbe – freilich ist sein eigenes Werk ebenfalls in erster Linie auf Europa als Schlachtfeld hin ausgerichtet. Auch möchte er die Prinzipien überprüfen, „die eines Tages den Rahmen für eine endgültige und umfassende Geschichte des Zweiten Weltkrieges abgeben könnten“ (S. 16). Dabei nimmt er sich selbst in die Pflicht, die bisher gängigen Muster der Geschichtsinterpretation aufzubrechen, was ihm aber nur leidlich gelingt. Er versucht, an sich bekannte Fakten neu zu ordnen, etwa die Kriegsverbrechen, die auf allen Seiten der europäischen Fronten begangen worden seien. Nur weil die Alliierten den Krieg gewonnen hätten, hieße dies noch längst nicht, dass deren Verbrechen nicht untersucht werden sollten. Auch die Sieger seien keine unbefleckten Helden gewesen. Es lässt sich schon erahnen, dass die Lektüre des Buches nicht immer einfach ist. Mitunter ist dies auf Davies’ streckenweise erkennbar oberlehrerhafte Haltung zurückzuführen.

Die Darstellung stützt sich auf sechs inhaltliche Säulen. Konkret geht es dabei um die Reflexion der Kampfhandlungen in Europa sowie um die Politik der Kriegsakteure, die vor, während und nach Kriegsende realisiert wurde. Daneben werden einzelne Soldatenschicksale vom Anfang des Wehrdienstes bis zum Grab in der Steppe Russlands nachverfolgt. Dabei fehlt auch der Blick auf die Zivilisten nicht. Interessant ist die von Davies angerissene Diskussion über die mediale und historiographische Darstellung des Globalkonfliktes.

Im siebten und letzten Kapitel („Uneindeutige Schlüsse“) verlässt Davies endgültig die Ebene der Weltkriegsbeschreibung. Vielmehr tritt er hier in eine fachwissenschaftliche „Abrechnung“ mit dem inzwischen verstorbenen US-Historiker Stephen Ambrose ein. Für Davies ist es sicher, dass „die Ambrose-Spielberg-Achse, […] einen bestimmten Standpunkt mit den Vorlieben und der kommerziellen Macht Hollywoods verband“ (S. 775). Dies sei im „perfekten Einklang mit dem Aufstieg der ‚Neokonservativen‘“ geschehen (ebd.). Die hier geschaffenen nationalen Mythen mit ihren Schablonen über „gute“ bzw. „böse“ Kriegsakteure sähe Davies gern aufgelöst. In diesem Sinne seien neue Imperative der Verhältnismäßigkeit in der Darstellungsweise von Ereignissen anzuwenden: Fünf Zeilen über die Panzerschlacht bei Kursk könnten nicht 50 Seiten über die Landung in der Normandie entgegengesetzt werden. Es wäre wünschenswert gewesen, dass Davies bei seiner eigenen Darstellung der Panzerschlacht auf die richtigen Details geachtet hätte. So wurden Davies zufolge auf Seiten der Deutschen angeblich 3000 Panzer verloren, obwohl doch nur rund 2500 überhaupt eingesetzt worden sind.

Bei einer solch umstrittenen Schrift lohnt sich der geschärfte Blick auf formale Aspekte. Mit dem vorformulierten Anspruch, selbst nur wenig neue Fakten zu präsentieren, verzichtet Davies auf ein Quellenverzeichnis. Stattdessen stützt er sich auf einen ausführlichen Anmerkungsapparat, in dem „Klassiker“ wie die Goebbels-Tagebücher neben Wikipedia-Links aufgeführt werden. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn konkrete bibliographische Verweise mit Seitenangaben vorgenommen worden wären. Hinzu kommt der Wunsch nach einer passablen deutschen Übersetzung bei den Bildunterschriften. Pétain, Mussolini und von Manstein werden hier beispielsweise als „gefallene Sterne“ betitelt. Auch wird im Zusammenhang von Abbildungen finnischer Soldaten im Schützengraben sowie versenkter Schiffe im Hafen von Narvik pauschal von einem Angriff auf „Skandinavien“ im Jahr 1939/40 gesprochen. Über der Bildbeschreibung der deutschen Eroberung der Kaukasusgebirge im Jahr 1942 ist erstaunlicherweise von „Deutschlands letzten Ruhmestaten“ zu lesen. Im Kontext der Schlacht bei Kursk wird aus einem „Tiger-I“-Panzer prompt ein Königstiger-Kampfwagen gemacht.

Ähnlich fragwürdig ist Davies angedeuteter Vergleich von deutschen Konzentrationslagern mit dem Stalinschen Gulag. Ungenau ist auch die Angabe über die Toten des sowjetischen Katyn-Massakers. Hierbei soll es sich um die Erschießung von 25.000 „alliierten Offizieren“ gehandelt haben. Diese falsche Beschreibung fügt sich zu einigen Geschmacklosigkeiten in Bezug auf den Holocaust: So wird die Räumung von Landstrichen für britische Manöver im Vorfeld der alliierten Invasion mit der nationalsozialistischen Vorgehensweise gegen die Juden gleichgesetzt. Dem fügen sich vergleichbare Formulierungen in Bezug auf die sowjetische Politik hinzu.

Davies zwingt den Leser dazu, den Zweiten Weltkrieg als globalen Konflikt in seiner Gänze zu erfassen und auf die großen Entwicklungslinien zu schauen. Und in der Tat stellt es einen der wenigen positiv hervorzuhebenden Aspekte des Werks dar, darauf hinzuweisen, dass rein nationalgeschichtliche Ansätze für eine solche Gesamterkenntnis ebenso hinderlich wie gefährlich sein können. Was ist nun insgesamt von Davies’ Geschichtsreflexion zu halten, die an den unterschiedlichsten Stellen belegt, dass sie laufende Forschungen nicht berücksichtigt hat und dadurch zu mancher inhaltlichen Absurdität vorstößt? Kurz und gut: Davies Arbeit lädt sicher zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg ein. Freilich heißt dies nicht, dass die Einladung auch angenommen werden muss. Neue Standards setzt seine Reflexion insgesamt kaum, und sie bleibt daher im Schatten von Werken wie „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“ verborgen.

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