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Titel
Ars Didactica. Seneca's 94th and 95th Letters


Autor(en)
Schafer, John
Reihe
Hypomnemata 181
Erschienen
Göttingen 2009: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
125 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Susanna Fischer, Abteilung für Griechische und Lateinische Philologie, Ludwig-Maximilians-Universität München

In seinem Buch „Ars Didactica“ untersucht Schafer den 94. und 95. Brief der Epistulae morales Senecas, die praecepta und decreta zum Thema haben. Praecepta, erläutert Seneca zu Beginn des 94. Briefes, seien konkrete Ratschläge etwa zur Erziehung der Kinder. Davon abgesetzt werden im Folgenden decreta, die Lehrsätze der Philosophie. Diese schätzt der Stoiker Ariston nach Seneca im Gegensatz zur Ethik mit ihren praecepta: Ariston Stoicus e contrario hanc partem levem existimat et quae non descendat in pectus usque, anilia habentem praecepta; plurimum ait proficere ipsa decreta philosophiae constitutionemque summi boni (epist. 94,2). Die Begriffe praecepta und decreta, deren Unterscheidung aus den Briefen nicht ohne weiteres eindeutig erklärt werden kann, sind in der Forschung verschiedentlich gedeutet worden, beispielsweise als Regeln und ein den Regeln übergeordnetes System.

Schafers Untersuchung zeichnet sich durch eine klare Struktur und prägnante Gedankenführung aus und ist mit 113 Seiten Text erfrischend kurz. In der Einleitung formuliert der Autor deutlich seine Ziele und hebt seine Untersuchung von neueren Studien ab, die zu diesen beiden wichtigen Briefen in großer Zahl vorliegen: Schafer interpretiert die Briefe als eine Abhandlung über die ethische Erziehung und „a defense of Seneca’s specific praxis as a moral guide and as a teacher of philosophy“ (S. 67). Der Autor wendet sich gegen die seit Kidd 1 gängige Ansicht, praecepta als Regeln zu deuten („the tradition of interpreting praecepta as rules is misleading“, S. 11), da bereits der Ansatz, die Briefe auf die Rolle der Regeln in der stoische Lehre zu untersuchen, Senecas pädagogischer Absicht entgegenlaufe. Bevor die Rolle der Regeln ins Zentrum der Diskussion trat, hatten bereits frühere Untersuchungen – wie die von Bellincioni und Hadot 2 – die pädagogische Bedeutung der Briefe 94 und 95 betont; diese früheren Arbeiten, über die der Leser möglicherweise gerne mehr wüsste, werden aber nur in einer Fußnote (S. 67, Anm. 1) erwähnt.

Auf die Einleitung folgt eine knappe und informative Übersicht über den Inhalt der beiden Briefe. In den anschließenden vier Kapiteln entwickelt Schafer seine Position: Ausgehend von dem historischen Hintergrund (Kapitel 3: Historical Background: Aristo of Chios and Other Stoics) geht er ausführlich auf die bisher in der Forschung vorherrschende Interpretation der Briefe ein, die sie vorwiegend als Ausgangspunkt für eine Diskussion der Rolle der Regeln (rules) in der stoischen Ethik nimmt (Kapitel 4: Rules?). Diese Diskussion spaltet die Forschung in zwei Lager: Die eine Seite betrachtet Regeln als zentral für die Struktur der stoischen „theory of deliberation“ (S. 33). Als Vertreter dieser Richtung diskutiert Schafer die Ansätze von Mitsis und Annas.3 Die andere Seite, bei Schafer vertreten durch Inwood 4, bezweifelt, dass die Regeln wichtig für die stoische „theory of deliberation“ sind. Schafer selbst vertritt die Ansicht, dass Senecas Verteidigung der praecepta keine Rechtfertigung eines Regelsystems für moralisch korrektes Handeln, sondern die Verteidigung einer „educational method“ ist, nach der der „moral guide“ seinen Schülern manchmal konkrete Handlungshinweise gibt, statt zu erläutern, wie man herausfindet, was man tun soll (S. 59). Die Verteidigung der decreta sei keine Verteidigung von höherstufigen Moralprinzipien, Seneca diskutiere an dieser Stelle vielmehr, wie man im Allgemeinen philosophische Grundsätze lehren soll; es handele sich also um „a defense […] of teaching philosophical doctrines in general“ (S. 59).

Während Schafer in den vergangenen Kapiteln vor allem zeigen wollte, was die Briefe 94 und 95 nicht leisten, versucht er in den folgenden zwei Kapiteln (Kapitel 5: Contextualizations und Kapitel 6: Education) seine pädagogische Deutung weiter zu konkretisieren. Zunächst betont er die Bedeutung der Lektüre der beiden Briefe im Kontext der Epistulae morales in Bezug auf die philosophische Ausbildung des Lucilius (S. 67ff.), die im Laufe der Briefe fortschreitet (S. 71ff.). Als Leser der Briefe 94 und 95, der längsten im Corpus, ist Lucilius bereits fortgeschritten und bereit für kompliziertere philosophische Fragen. Schafer betont, dass diese Briefe im Vergleich zu den anderen Epistulae morales eine größere Nähe zu einer philosophischen Abhandlung aufweisen (S. 76 u. 83).

Im letzten Kapitel arbeitet Schafer Senecas Verwendung der Begriffe praecepta und decreta heraus und kommt zu dem Ergebnis, dass die Unterscheidung von praecepta und decreta nicht von Seneca selbst intendiert ist – der sich ja in der Tat auf Ariston beruft –, sondern aus der innerstoischen Diskussion erwachsen ist. Dies zeige sich in den Briefen 94 und 95 dadurch, dass sich Senecas Verwendung von praecepta und decreta einander annähert. Es sei nicht nötig, einen der beiden Begriffe zu verneinen, da beide aus praktischer Sicht sinnvoll seien. Als ein Beispiel für den engen Zusammenhang beider Begriffe dient Schafer epist. 95,60, wo Seneca beide Diskussionspartner, jeweils die Befürworter von praecepta bzw. decreta, hinsichtlich der praktischen Anwendbarkeit kritisiert: „Lehrsätze sind überflüssig“, wie die einen sagen, ist selbst ein Lehrsatz. Ebenso macht man eine Vorschrift, wenn man sagt, man müsse sich nicht um Vorschriften kümmern (S. 105–109).

Schafers Überlegungen überzeugen zu einem großen Teil; seine Deutung der Briefe innerhalb des Kontexts der Epistulae morales und Senecas pädagogischem Konzept sind ein wichtiger Schritt zu einem besseren Verständnis dieser Briefe, doch ist zu fragen, ob diese Deutung die bisher in der Forschung dominierende Diskussion über den philosophischen Gehalt der Briefe ausschließt. Dennoch leistet Schafer einen wichtigen Beitrag zur Diskussion der Briefe 94 und 95 der Epistulae morales, der in jeder weiteren Beschäftigung mit diesen Schriften Senecas berücksichtigt werden muss. Schafers Buch ist nicht nur lesenswert, weil die pädagogische Funktion der Briefe ins Zentrum rückt, sein Wert ergibt sich auch aus der eingehenden Diskussion der bisherigen Forschungspositionen, die den Schwerpunkt ihrer Interpretation der Briefe auf den Stellenwert des Regelsystems für die stoische „theory of deliberation“ legen.

Anmerkungen:
1 Ian G. Kidd, Moral Actions and Rules in Stoic Ethics, in: John M. Rist (Hrsg.), The Stoics, Berkeley u.a. 1978, S. 245–258.
2 Maria Bellincioni, Educazione alla sapientia in Seneca, Brescia 1978 und Ilsetraut Hadot, Seneca und die griechisch-römische Tradition der Seelenleitung, Berlin 1969.
3 Phillip Mitsis, Seneca on Reason, Rules, and Moral Development, in: Jacques Brunschwig/ Martha Craven Nussbaum (Hrsg.), Passions and Perceptions, Cambridge 1993, S. 285–312; ders., The Stoic Origins of Natural Rights, in: Katerina Ierodiakonou (Hrsg.), Topics in Stoic Philosophy, Oxford 1999, S. 153–177 und Julia Annas, The Morality of Happiness, Oxford 1993.
4 Brad Inwood, Rules and Reasoning in Stoic Ethics, in: Katerina Ierodiakonou (Hrsg.), Topics in Stoic Philosophy, Oxford 1999, S. 95–127.

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