J. Schneider: Auf der Suche nach dem verlorenen Reich

Titel
Auf der Suche nach dem verlorenen Reich. Lotharingien im 9. und 10. Jahrhundert


Autor(en)
Schneider, Jens
Reihe
Publications du Centre Luxembourgeois de Documentation et d'Études Médiévals 30
Erschienen
Köln 2010: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
671 S.
Preis
€ 64,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Brigitte Kasten, Lehrstuhl für Geschichte des Mittelalters, Historisches Institut, Universität des Saarlandes

Die umfangreiche, geschichtswissenschaftliche Paderborner Dissertation mit dem beinahe poetischen Titel, angeregt von Jörg Jarnut und mitbetreut von Régine Le Jan, behandelt einen „europäischen Erinnerungsort“ (S. 464), der unter verschiedenen Parametern auf sein historisches Substrat hin untersucht wird. Verloren ist die Suche danach nicht allein deswegen, weil das Reich Lotharingien nur kurz existierte, sondern auch, weil sich der Ort dem Zugriff zu entziehen scheint, je intensiver die Erinnerung daran wach gehalten wurde und wird. Der zeitliche Untersuchungsrahmen wird vergleichsweise spät (S. 124) begründet. Von 855, von der Erstehung des regnum Lotharii, bis 959, das heißt bis zur politischen Aufteilung in das sogenannte Nieder- und Oberlothringen, zugleich bis zum Aufkommen der Bezeichnung Lotharingia, werden die zeitlichen Grenzen nachvollziehbar pragmatisch gezogen. Die Leitfrage, warum sich trotz wiederholter Versuche in dieser zentralen Region kein nachkarolingisches Königtum wie in anderen Gebieten des ehemaligen Großreiches hat bilden können (S. 21), ist seit langem Gegenstand der historischen Forschung und von daher nicht gänzlich neu. Der innovative Zugriff des Autors liegt aber in der überzeugenden und gekonnten Anwendung vielfältiger methodischer Ansätze aus unterschiedlichen historischen Disziplinen, auf deren Grundlage er zu neuen Ergebnissen gelangt.

Zunächst erörtert er kritisch mehrere Raumbegriffe, um sich dann für das von Frank Göttermann im Zusammenhang historisch-demographischer Untersuchungen entwickelte Modell zu entscheiden (S. 67–69). Dessen ‚Subkategorien von Regionalität‘ (Natur und Umwelt, Bevölkerung, Gesellschaft, Verhalten und Mentalität, Wirtschaft sowie Politik und Verfassung) werden nachfolgend angewandt. Die Quellenüberlieferungen und die Verhältnisse des Frühmittelalters zwingen allerdings zu Anpassungen und Veränderungen, die geschickt vorgenommen werden. Die Subkategorie ‚Politik und Verfassung‘ wird in den Abschnitten ‚Politische Grenzen‘ (im Wesentlichen anhand der Reichsteilungen) und ‚Politische Institutionen‘ (fokussiert auf den Herzogstitel) dargelegt, deren Innovationsgehalt in den Korrekturen zu den Grenzziehungen der bisherigen Forschung im Bereich Frieslands und des südlichen Speyergaus (Abtei Weißenburg) liegen. ‚Natur und Umwelt‘ erweist sich als eine auf Lotharingien nicht anwendbare Kategorie, da die naturräumlichen und geomorphologischen Grenzzonen nicht kompatibel zu den Grenzen des regnum Lotharii sind (S. 155). Für den demographischen Teil werden neben archäologischen Befunden die Kirchen- und Klosterlandschaft und deren nicht gerade geringe Urkundenproduktion unter anderem für die Stadt-Land-Lage von Besitzungen ausgewertet. Dabei werden bisherige Annahmen, die auf eine Differenzierung zwischen einer ländlichen Gesellschaft in Nord- und einer urbaneren Gesellschaft in Südlotharingien hinauslaufen, meines Erachtens zu Recht in Frage gestellt. Die Vergesellschaftung der Umwelt untersucht der Autor an zwei Beispielen, dem von ihm stärker berücksichtigten Wald als Rodungs- und Jagdgebiet und dem Meer an der friesischen Küste, was ihm etwas fremd zu bleiben scheint. Die Subkategorie ‚Verhalten und Mentalität‘ ist bereits von Thomas Bauer1 unter dem gleichen Aspekt von Heiligenverehrung und Patrozinien eingehend untersucht worden, so dass sich der Autor hier kurz fassen kann, obgleich er des Öfteren den generellen Schlussfolgerungen dieser Vorgängerstudie widerspricht. Für die wirtschaftsgeschichtliche Komponente liegen zahlreiche, fundierte Vorarbeiten vor, die zu einer vergleichsweise sicheren Einschätzung dieser Subkategorie für Lotharingien verhelfen. Das Ergebnis dieses ersten Teils der Dissertation läuft auf die Konstatierung der mangelnden Kohärenz des in den Blick genommenen historischen Raumes hinaus.

Gleichsam als Gegenprobe wechselt der Autor im zweiten Teil seiner Studie von der historischen in die germanistische Disziplin, deren philologische Methode er gleichfalls beherrscht. Die Leitfrage, ob es ein Wir-Gefühl gegeben hat, wird mittels der teils divergierenden Ergebnisse der sprachwissenschaftlichen Forschung rezipiert und anhand von literarischen Zeugnissen der Volkssprache, vor allem dem Ludwigslied (‚protodeutsch‘) und dem Eulalialied (‚protofranzösisch‘), geprüft. Das Ludwigslied ist zugleich eine Geschichtsdichtung auf den großen Normannenerfolg des westfränkischen Königs Ludwig III. aus dem Jahre 881/2, das Eulalialied verherrlicht eine hispanische Märtyrerin des 4. Jahrhunderts. Beide Sprachzeugnisse stammen nach der neuen Grenzziehung des Verfassers nicht aus Lotharingien. Ferner stellt der Autor die Aussagekraft dialektgeographischer Zuweisungen auf der Basis von in einem Fall nur 59 Versen und einer nicht normierten Orthographie in Frage (S. 353). Dementsprechend ist auch das Ergebnis des zweiten Teils negativ: In den volkssprachlichen Relikten lässt sich kein Raum Lotharingien finden, mit dem sich im 9. und 10. Jahrhundert ein Gemeinschaftsempfinden verbunden haben könnte. Wenn schließlich eher beiläufig erwähnt wird, dass es einen solchen Wir-Diskurs frühestens ab dem 11. Jahrhundert gegeben haben kann – jedenfalls vorher nicht überliefert ist – (S. 455), drängt sich der Eindruck auf, dass einige in konzentrischen Ringen verlaufende Wege dieser Arbeit auch auf kürzeren Routen zum Ziel geführt hätten.

Damit liegen nunmehr zwei Dissertationen vor, die im Abstand von 15 Jahren Lotharingien als eigenständigen Raum zu erfassen suchen, wobei die Arbeit von Thomas Bauer zeitlich ins Hochmittelalter ausgreift, und zu völlig entgegengesetzten Ergebnissen kommen, jede auf ihre Weise berechtigt und fundiert. Es ist dem Verfasser der vorliegenden Studie hoch anzurechnen, dass er sich nicht von seinem Gegenstand vereinnahmen ließ, sondern nach gründlicher Prüfung im interdisziplinären Zugriff die skeptische Einstellung gegenüber einem sich seiner selbst bewussten Reich Lotharingien bewahrt. Die mangelnde eigene Identität und das fehlende Machtvakuum um 900 (plus/minus etwa zehn Jahre) scheinen schließlich die wichtigsten Faktoren für die nicht vollzogene Reichsbildung nach dem Zerfall des Karolingerreiches gewesen zu sein.

Im Anhang der Arbeit befinden sich unter anderem eine Neuedition des Ludwigsliedes mit deutsch-französischer Übersetzung, ein Katalog der volkssprachigen Texte in Lotharingien von 855–959, diverse neue Karten und eine Zusammenstellung der Privaturkunden mit ihren aktuellen Datierungen in der Forschung, wodurch die Dissertation einen Standort unter den Handbüchern zur mittelalterlichen Geschichte Lotharingiens erwerben wird. Die Arbeit wird durch eine umfassende Literaturliste abgeschlossen, die der Belesenheit des Verfassers zur Ehre gereicht.

Anmerkung:
1 Thomas Bauer, Lotharingien als historischer Raum, Köln 1995.