Titel
Verheißung und Erlösung. Religion und ihre weltlichen Ersatzbildungen in Politik und Wissenschaft


Autor(en)
Haring, Sabine A.
Reihe
Studien zur Moderne
Erschienen
Anzahl Seiten
639 S.
Preis
€ 76,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Winfried Löffler, Institut für Christliche Philosophie, Universität Innsbruck

Die jüngeren Debatten zum Thema Religion und Gesellschaft werden von großräumigen und durchaus widersprüchlichen Zeitdiagnosen mitgeprägt. Galten Säkularisierungsthesen lange Zeit als fragloser Konsens, so werden in den letzten Jahren auch Diagnosen wie jene vom „Megatrend Spiritualität“, von der „Rückkehr der Religion(en)“ und ähnliche vertreten. Ein ähnlicher Widerspruch ist angelegt, wo man mit der „Entzauberung der Welt“ als Grundzug der Moderne (um Max Webers bekannte Redeweise zu benützen) zunehmend auch Aspekte einer „Wiederverzauberung“ koexistieren sieht. Die nähere Konkretisierung und Einlösung solcher makrodiagnostischer Thesen freilich kommt oft über suggestive Einzelbeispiele, die die eine oder andere Diagnose prima facie stützen, und/oder Gemeinplätze nicht hinaus, und schon allein die verwendete Begrifflichkeit mag oft Verdacht wecken: So sind etwa schon undifferenzierte Verweise auf „die Religion(en)“ problematisch, da es auch in den Religionswissenschaften keine konsensfähige allgemeine Definition von „Religion“ gibt. Man nimmt ein Buch wie das vorliegende also in der Erwartung näherer Klärungen mit Interesse zur Hand.

Von den zwei Teilen des Werks ist der erste eher theoretisch-allgemein angelegt, während der zweite konkreter auf drei Beispielfälle eingeht. Der (umfangreichere) Teil I „Ideengeschichtliche und theoretische Überlegungen zum Verhältnis von Religion und ihren weltlichen Ersatzbildungen“ widmet sich einigen der verschiedenen neuen Zugangsweisen zur Religion, die die Neuzeit (neben der affirmierenden Theologie) mit sich gebracht hat, und den innerhalb dieser Zugänge zugrundegelegten Säkularisierungs-, Ablöse- bzw. Transformationsmodellen: Der Religionskritik (I.1, S. 103-166), der eher an Gruppen und Kollektiven orientierten klassischen Religionssoziologie (Weber, Durkheim, Troeltsch, Simmel, I.2, S. 167-238), der eher individual-anthropologisch vorgehenden neueren Wissenssoziologie (Berger, Luckmann und – als entfernte Vorgänger in der philosophischen Anthropologie – Plessner, Scheler und Gehlen, I.3, S. 239-272) sowie Eric Voegelins Konzeption „Politischer Religionen“ (I.4, S. 273-312). Voegelin, der damit – zwar nicht als erster, aber einlässlich und in den letzten Jahrzehnten auch hierzulande zunehmend beachtet – auf die Isomorphien zwischen den Religionen (besonders dem Katholizismus) und den politischen Massenbewegungen des 20. Jahrhunderts hingewiesen hatte, steht auch im Wesentlichen Pate für Kapitel I.5 (S. 313-374), das zugleich die Weichen für Teil II stellt: Dort wird nämlich ein strukturierender Vorschlag erarbeitet, wie ein Vergleich zwischen Religionen und ihren weltlichen Ersatzbildungen vorgehen könnte. Zu vergleichen seien demnach sowohl die Inhalte als auch die Funktionen von Religionen und ihrer Ersatzbildungen. (Dies ist ein sinnvoller Schachzug Harings, denn damit kann der unentschiedene Streit zwischen „Essentialisten“ und „Funktionalisten“ in der oben erwähnten Frage der „Religions“-Definition unterlaufen werden.) Dass die Autorin auch die Inhaltsmerkmale von Religionen von Voegelin übernimmt, die ersichtlich am Christentum orientiert sind (Bestand von Dogmen – Apokalyptik und Eschatologie – Messianismus – Konstruktion eines „neuen Menschen“), macht dabei insofern wenig aus, als ja auch die späteren Hauptgegenstände von Teil II (Sowjetkommunismus bis zum Tod Stalins und Nationalsozialismus) offenkundig mit Versatzstücken des Christentums arbeiten. Der Raster für den Funktionsvergleich wird von F.-X. Kaufmann (und mittelbar von Berger, Luckmann und anderen) übernommen (S. 354): Identitätsstiftung, Handlungsführung, Kontingenzbewältigung, Sozialintegration seien die zentralen Funktionen sowohl von Religionen als auch ihren Ersatzbildungen. (Dass Kaufmann auch noch „Weltdistanzierung“ und „Welt-Kosmisierung“ als Funktionen der Religion auflistet, wird nur ganz am Rande erwähnt und nicht weiter verfolgt, aber vielleicht zu Unrecht: Falls die Ersatzbildungen diese Funktionen nämlich nicht erfüllen, würde dies doch eine kommentierungswürdige Unähnlichkeit zwischen Religionen und ihren Ersatzbildungen begründen; außerdem wäre zum Beispiel die Frage zu stellen, ob die marxistisch-leninistische Naturphilosophie nicht auch Funktionen der Welt-Kosmisierung erfüllt.) Teil II behandelt drei konkrete Beispiele: Zunächst einige „säkulare Religionen“ des 19. Jahrhunderts in Gestalt des merkwürdig religiösen Positivismus Auguste Comtes, des klassischen Marxismus und des deutschen Nationalismus (II.1, S. 429-482). Der vorhin aufgestellte Inhalt-Funktion-Raster ist in diesen eher kurz gehaltenen Kapiteln nur auf den zweiten Blick erkennbar. Anders ist dies in den folgenden ausführlichen Kapiteln über den Sowjetkommunismus bis zum Ende der Stalin-Ära (II.2, S. 483-526) und den Nationalsozialismus (II.3, S. 527-570), wo dieser Raster Schritt für Schritt abgearbeitet und sogar (nahe liegender Weise) noch um den Unterpunkt „Ritus und Kult“ ergänzt wird, der ja weder eindeutig dem Inhalt noch der Funktion zuzuschlagen ist. Wenig überraschend finden sich in diesen Kapiteln natürlich reichhaltige Ähnlichkeiten zu den Religionen. Den Teilen I und II jeweils vorgeschaltet sind kurze Kapitel über einige wichtige religions-, geistes- und profangeschichtliche Rahmenbedingungen der jeweiligen Epoche (S. 47-102 über die frühe Neuzeit bzw. S. 375-428 über die Zeit von der französischen Revolution bis zum ersten Weltkrieg). Abgeschlossen wird das Buch von einem Rückblick und kurzen Überlegungen zur religiösen Situation der Gegenwart. Erstaunlicherweise geht dieser „Rückblick“ in vielen Punkten über das bisherige Buch hinaus, bezieht eine Menge neuen Materials ein und lässt Harings Säkularisierungskonzeption erst so richtig erkennen (S. 571-578): Säkularisierung sei ein jahrhundertelanger, nicht abgeschlossener Prozess, bedeute auf Makroebene den Verlust der Bedeutungs- und Legitimationsfunktion der christlichen Kirchen („objektive Säkularisation“, P.L. Berger), einen zunehmenden Prozess der Entzauberung (Weber), auf Mikroebene eine Säkularisierung des individuellen Bewusstseins („subjektive Säkularisierung“, Berger), und sie sei ein europäisches Phänomen (Berger). Klargestellt wird hier auch die möglichst wertneutrale Zugangsweise der Autorin, Säkularisierung weder als zu feiernden Ausbruch aus geistigen Abhängigkeiten noch als bedauerliche Verfallsgeschichte zu deuten. (Dies ist insofern nicht selbstverständlich, als Eric Voegelin, ein Hauptgewährsmann Harings, ja durchaus Affinitäten zur Verfallskonzeption hat).

Methodisch ist das Werk in Teil I und II.1 einem philosophie- und wissenschaftshistorischem bzw. ideengeschichtlichen Zugang verpflichtet, in den Teilen II.2 und II.3 treten literatursoziologische und mentalitätsgeschichtliche Aspekte stärker in den Vordergrund, wenn Kommunismus und Nationalsozialismus in ihrer Funktion als Religionsersatz auch stark anhand literarischer Produkte der Zeit und der Lebenszeugnisse einfacher Menschen als Zeitzeugen erhellt werden. Man wird dabei freilich eine gewisse Unruhe nicht los, wie repräsentativ (oder eben nur zu den angepeilten Analyseergebnissen passend ausgewählt?) die jeweiligen literarischen oder persönlichen Zeugnisse sind; kaum zu Wort kommen jene, die vom Religionsersatzcharakter dieser Bewegungen entweder nicht berührt wurden, ihn durchschauten, ihn ablehnten usw. Ein (heute vermutlich auch schwer möglicher) Abgleich mit irgendwelchen quantitativ-soziologischen Überlegungen findet nicht statt. So ergeben die hier zusammengetragenen (durchaus beeindruckenden!) Zeugnisse aber immerhin überzeugende Belege dafür, dass Kommunismus und Nationalsozialismus auf manche Menschen religionsähnliche Faszination und Beeinflussung ausüben konnten. Die Beispielsmenge beschränkt sich also auf die mittlere Vergangenheit. In dem Buch nicht diskutiert werden dagegen Phänomene der Gegenwart, die oft medienwirksam als „Religionsersätze“ gehandelt werden, etwa der Marktkapitalismus, die Konsumideologie, der vielapostrophierte Wellnessboom und ähnliches; das ist schade, denn mit Harings Kriterienmenge wäre vermutlich ein begründeter Vorschlag zu entwickeln gewesen, dass Schlagwörter wie jenes von der „Marktreligion“ auf unfruchtbaren Begriffsüberdehnungen beruhen dürften.

Man legt das gewichtige Werk nicht aus der Hand, ohne in zahllosen Aspekten bereichert zu sein, und leider nur mehr selten trifft man heutzutage Bücher an, die derart sorgfältig gearbeitet sind: Der Rezensent hat auf den 650 Seiten nur eine Handvoll Druckfehler gefunden. Gelungen und durchaus nicht selbstverständlich ist auch die erwähnte Wertungsfreiheit: Der Leser fühlt sich weder zur Komplizenschaft in aufklärerischem Pathos noch in verklärender Rückschau überredet. Andererseits ist das Buch überaus mühselig zu lesen: Die 1883 teils ausladenden Anmerkungen wurden in Anhänge nach den einzelnen Kapiteln verlegt. Von dort aus verweisen wiederum Kurztitel auf eines der vier (!) insgesamt 35seitigen Literaturverzeichnisse, ohne dass man aber jeweils vorher wüsste, auf welches, denn die Einteilung ist rein textsortenbestimmt (Monographien und Sammelbände / Aufsätze in Lexika, Handbüchern und Sammelbänden / Aufsätze in Zeitschriften und Zeitungen [von denen übrigens auffällig wenige benützt werden] / Digitale Medien). Die Lektüre erzwingt also vielhundertfache mehrstufige Suche.

Andererseits enthüllt gerade dieses nötige permanente Blättern einige weitere (und weniger überzeugende) Züge der Arbeit: Es zeigt sich, dass die meisten Teilkapitel an einem oder wenigen Leittexten entlang konzipiert sind (die freilich immer penibel ausgewiesen werden), was dem Werk mehr an kompilatorischem Gesamteindruck verleiht, als ihm faktisch wohl zukommt. (Und: Allein die Erschließung und Bewältigung dieser umfangreichen Literatur verdient ja hohen Respekt). Außerdem verschwimmen zuweilen die Grenzen zwischen referierendem und affirmierendem Gebrauch von Literatur (ersichtlich ist dies etwa an den vielen Passagen, wo jeder Satz mit einem Literaturverweis endet), auch fungiert ein und derselbe Autor – etwa Voegelin – zuweilen als Studienobjekt und zuweilen eher als Gewährsmann. Überhaupt fällt auf, dass in Bezug auf die benützte Literatur kaum jemals gewertet wird. So wird dem Leser insgesamt ein eigentümlich konsensuelles Bild vor allem der Sekundärliteratur vermittelt, das bei einem Thema wie hier eigentlich nicht zu erwarten ist. Widersprüchliche Diagnosen aus der Literatur pflanzen sich dann zuweilen aber in den Text fort und bleiben in ihrer Widersprüchlichkeit stehen (etwa was die Entzauberungs/Verzauberungs-Thematik angeht). Das Mega-Thema der Arbeit mit seinen zahllosen historischen, biographischen und ideengeschichtlichen Bezügen bietet Anlass zu kleinen Seitenabhandlungen (die meistens in die Anmerkungen verlegt wurden), und zuweilen wurde der Erläuterungsfreude hier auch etwas weiter Raum gegeben. Andererseits müssen manche historische Rahmenerklärungen fast notgedrungen verkürzend bleiben; zwei Beispiele: Ein Kapitel zu einem in sich schon komplexen Thema wie „Religion und Religiosität in der frühen Neuzeit“ kann auf zwölf Seiten (S. 50-62) kaum mehr sein als eine Skizze mit einigen exemplarischen Beispielen. Als Erklärung für „Gnosis“ – die nur im Wege über Voegelins Rede von der Moderne als „gnostisches Zeitalter“ ins Spiel kommt – wird die Zusammenfassung eines ohnehin schon dichten alten Wörterbuchartikels zur Gnosis geboten, der aber wiederum etliche unerklärte terminologische und historische Bezüge enthält (S. 286, 305). Freilich kommt ein Werk mit einem derart breiten Zielpublikum (Historiker/innen, Soziolog/innen, Theolog/innen, Philosoph/innen und anderen) nicht ohne Kontexterläuterungen aus; an solchen und ähnlichen Beispielen zeigen sich ebenso die Mühen wie gerade auch die Notwendigkeit interdisziplinärer Aneignungsbemühungen.

Als vorsichtiges Fazit mag gezogen werden, dass das Werk einen beeindruckenden, wenngleich nicht in allen Einzelheiten geglückten Versuch darstellt, Ordnung in einen ebenso ausladenden wie unübersichtlichen Bereich zu bringen. Gerade diese Unübersichtlichkeit und die vielfältigen Brechungen im untersuchten Phänomenbereich setzen diesem Erschließungsunternehmen ja auch sachliche Grenzen, will man – wie Haring – der Versuchung des Simplifizierens und der Plakativität widerstehen. Das geistige Flirren, das manche Kapitel im Leser anfangs erzeugen könnten, und hinter dem man zunächst vielleicht eine Schwäche des Buchs vermuten mag, erscheint mit fortschreitender Lektüre daher zunehmend als Hinweis auf seine Stärke.

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