Titel
Etudier sa propre culture. Expériences de terrain et méthodes


Autor(en)
Guiart, Jean; Collectif
Erschienen
Paris 2009: L'Harmattan
Anzahl Seiten
186 S.
Preis
€ 17,24
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
David Zimmer, Bern

Wegen ihres kolonialen Entstehungskontextes hafte der Ethnologie „eine Art Erbsünde“ (S. 12) an, schreibt der Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes, Jean Guiart, Ozeanist und langjähriger Direktor des Laboratoire d’ethnologie im Pariser Musée de l’Homme. „Westliche“ Ethnologen aus Europa und Nordamerika scheinen heute kaum mehr legitimiert, „nichtwestliche“ Kulturen und Gesellschaften in Entwicklungs- und Schwellenländern zu erforschen, und zunehmend übernehmen dies „einheimische“ Sozialwissenschaftler/innen, die ihre „eigene“ Kultur bzw. Gesellschaft untersuchen. Sowohl in einer „fremden“ als auch in der „eigenen“ Kultur (Feld-) Forschung zu betreiben, bringt, wie der Sammelband aufzeigen möchte, je spezifische erkenntnistheoretische und methodologische Probleme mit sich. In dreizehn Beiträgen, die aus einem internationalen Symposium am Musée de l’Homme hervorgegangen sind, berichten Autorinnen und Autoren aus Nord-, West- und Zentralafrika, Europa, Südostasien, Lateinamerika und dem Nahen Osten über ihre Forschungserfahrungen in ihrer „eigenen“ Kultur, „mêlant de façon fructueuse l’émotion de celui qui appartient et le regard de celui qui analyse“ (S. 10). Herausgeber Guiart ist überzeugt, dass die Ethnologie zukünftig zur gemeinsamen Sache aller, das heißt „westlicher“ wie „nichtwestlicher“ Forscher/innen werden müsse – oder aber verschwinden werde (S. 20).

Die ersten fünf Beiträge sind mit „Méthodes“ überschrieben, die restlichen acht mit „Témoignages“. Diese Unterteilung wird freilich weder begründet noch leuchtet sie bei der Lektüre ein; in beiden Sektionen gibt es Beiträge, in denen forschungstheoretische Fragen im Vordergrund stehen, und solche, in denen vorab Erfahrungen und Ergebnisse aus der praktischen ethnologischen Forschung referiert werden. Jedem Beitrag ist eine kurze Einleitung bzw. Zusammenfassung des Herausgebers vorangestellt; einigen Beiträgen ist zudem eine Bibliografie mit Veröffentlichungen des betreffenden Autors in französischer Sprache angehängt. Nur etwa die Hälfte der Beiträge verfügt über einen wissenschaftlichen Anmerkungsapparat.

Im Folgenden sollen drei ausgewählte Beiträge kurz vorgestellt werden. Mouloud Mammeri beleuchtet die Geschichte und die institutionelle Entwicklung der Ethnologie in Algerien, die während der französischen Kolonialzeit fast ausschließlich von französischen Forschern betrieben und im Vergleich zur Ur- und Frühgeschichte und zur biologischen Anthropologie mit deutlich weniger Mitteln ausgestattet worden war. Nach der Unabhängigkeit Algeriens (1962) und der Abreise fast aller französischen Forscher fehlten den wenigen algerischen Wissenschaftlern adäquate Methoden zur Untersuchung der eigenen Gesellschaft: „Les chercheurs algériens, désormais adonnés à l’étude de leur propre société, couraient le double risque de la partialité (en un domaine où ils sont à la fois juges et parties) et d’une relative cécité, leur familiarité avec les données les exposant à percevoir comme faits de nature des réalités qui sont en fait des produits de leur culture.“ (S. 28) Zudem verstand die algerische Regierung die Ethnologie – wohl nicht zu Unrecht – als Instrument des früheren Kolonialsystems, und im Zuge der „Dekolonisation der Wissenschaften“ wurde die Ethnologie als universitäres (Neben-) Fach zeitweilig sogar ganz abgeschafft.

Am Beispiel seines Herkunftslandes Mali diskutiert Claude Daniel Ardouin die Vor- und Nachteile ethnologischer Forschung in der eigenen Kultur, wobei die Vorteile seiner Meinung nach eindeutig überwiegen. Im Vergleich zum ausländischen Forscher, der die ihm fremde Kultur „von Null auf“ kennen und verstehen lernen muss, verfüge der einheimische Forscher über einen erleichterten Zugang zu den Menschen und gelange letztlich zu einem tieferen, differenzierteren Verständnis der untersuchten Phänomene. Umgekehrt ist der einheimische Forscher möglicherweise gezwungen, soziale Normen und Verhaltensregeln zu beachten, die der ausländische Forscher ignorieren kann, oder er gehört der „falschen“ ethnischen (Unter-)Gruppe an, so dass er als parteiisch betrachtet wird. Letztlich entscheidend sei die Wahl bzw. die Kombination geeigneter Forschungsmethoden. Bei der wissenschaftlichen Erforschung afrikanischer Gesellschaften ein Gleichgewicht zwischen afrikanischen und nichtafrikanischen Untersuchungen herbeizuführen – sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht –, betrachtet Claude Daniel Ardouin als „historische Notwendigkeit“: „tout en mettant la recherche scientifique au service des impératifs du développement de nos pays“ (S. 50).

Im Anschluss an eine ethnologische Studie auf einer kleinen griechischen Insel in der Ägäis, die von mehrheitlich ausländischen Wissenschaftlern erstellt wurde und das Bild eines harmonischen Zusammenlebens der Inselbewohner vermittelte, hat Yvonne de Sike eine eigene ethnologische Untersuchung durchgeführt. Als „Einheimische“, die die Insel von einem archäologischen Ausgrabungsprojekt her kannte, ist es ihr gelungen, ein besonderes Vertrauensverhältnis zu den Bewohnerinnen und Bewohnern aufzubauen und auf diese Weise tiefliegende soziale Konflikte zwischen den Inselbewohnern aufzudecken, die die ausländischen Forscher übersehen hatten. Einer der Notabeln hat ihr gegenüber denn auch freimütig ausgesagt, den Ausländern zwar die Wahrheit, aber eben nur eine von mehreren Wahrheiten dargelegt zu haben – um zu vermeiden, „unsere schmutzige Wäsche in aller Öffentlichkeit zu waschen“ (S. 160). Yvonne de Sike ist deshalb überzeugt, dass wissenschaftliche Ausbildung allein noch keinen Erfolg „im Feld“ garantiert: „Le chercheur [...] doit, avant tout, trouver intuitivement le juste ton pour établir avec ses informateurs une ambiance de confiance (à la limite parfois de la complicité), entretenir des relations amicales et en même temps objectives, créer un climat de compréhension mutuelle, tout en conservant un regard critique.“ (S. 157)

Obwohl einige Beiträge durchaus lesenswert sind, hat man nach der Lektüre des Sammelbandes den Eindruck, die darin zu findenden Fragen und Antworten in Bezug auf die ethnologische Erforschung der „eigenen“ Kultur seien nicht wirklich auf der Höhe der Zeit. Diesbezüglich wichtige Beiträge 1 und Erkenntnisse sind nicht berücksichtigt worden, und die in den letzten Jahrzehnten geführten Diskussionen im Bereich der ethnologischen Theorie – Stichworte: (De-)Konstruktivismus, Poststrukturalismus, Postmoderne, Cultural Turns – haben kaum Spuren hinterlassen. Überdies macht stutzig, dass mehrere der Autor/innen bereits vor längerer Zeit gestorben sind (Edit Fél 1988, Mouloud Mammeri 1989, Alhassane Ag Baille 1992, Joaquín Galarza 2004) und dass nicht angegeben ist, wann das besagte internationale Symposium, aus dem die Beiträge hervorgegangen sind, stattgefunden hat (S. 10). Tatsächlich setzt sich der im Sommer 2009 erschienene Sammelband aus Beiträgen eines Symposiums zusammen, das im November 1982 am Musée de l’Homme in Paris unter dem fast gleich lautenden Titel „Témoignages et méthodes. Le chercheur dans sa propre culture“ durchgeführt wurde. Dies bestätigte Bernard Dupaigne, der die Publikation unter Mitwirkung von Muriel Hutter vorbereitet hat, auf Anfrage: Bisher habe sich schlicht niemand um die Veröffentlichung gekümmert, zudem hätten die finanziellen Mittel dafür gefehlt. 2 Weshalb die Publikation jedoch ausgerechnet jetzt, mehr als ein Vierteljahrhundert später, und mit lediglich geringfügigen Aktualisierungen erfolgt, ist unverständlich. 3 Zumindest eine kontextualisierende Einleitung, die die Verzögerung offenlegt, die in der Zwischenzeit geführten Diskussionen zusammenfasst und den spezifischen Wert der publizierten Beiträge erläutert, hätte man von einem wissenschaftlichen Buch, das in einem großen, renommierten Verlag erscheint, erwarten dürfen.

Anmerkungen:
1 Siehe z.B. Fatoumata Ouattara, Une étrange familiarité. Les exigences de l’anthropologie „chez soi“, in: Cahiers d’études africaines 44 (2004), S. 635–657; Kirin Narayan, How native is a „native“ anthropologist?, in: American anthropologist 95 (1993), S. 671–686; Martine Segalen (Hrsg.), L’autre et le semblable. Regards sur l’ethnologie des sociétés contemporaines, Paris 1989; Mamadou Diawara, Les recherches en histoire orale menées par un autochtone, ou, L’inconvénient d’être cru, in: Cahiers d’études africaines 25 (1985), S. 5–19; Hussein Fahim u.a., Indigenous anthropology in non-Western countries. A further elaboration, in: Current anthropology 21 (1980), S. 644–663.
2 E-Mail vom 12. April 2010. Zum früheren und gegenwärtigen Stellenwert der Ethnologie innerhalb des Musée de l’Homme siehe Bernard Dupaigne, Au Musée de l’Homme. La disparition des ethnologues, in: Ethnologie française 38 (2008), S. 645–647.
3 Einige Beiträge sind bereits andernorts erschienen: Jean Guiart, La recherche ethnographique. Une richesse infinie, in: Museum international [franz. Ausgabe] 35 (1983), S. 136–138; Hoc Dy Khing, Quelques témoignages et expériences de recherche sur la littérature d’expression orale et écrite du Cambodge, in: Objets et mondes 23 (1983), S. 111–116; Edit Fél, Hongrie. Un chercheur dans sa propre culture, in: Objets et mondes 23 (1983), S. 99–110; Yvonne de Sike, Expériences sur le terrain, in: Objets et mondes 23 (1983), S. 131–142; Joaquín Galarza, À propos de lienzos de Chiepetlan, in: Objets et mondes 23 (1983), S. 117–130.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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