Titel
Saudi-Arabien. Ein Königreich im Wandel?


Herausgeber
Freitag, Ulrike
Erschienen
Paderborn 2010: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
322 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Demmelhuber, Institut für Politische Wissenschaft, Universität Erlangen-Nürnberg

„König Abdallahs unmögliche Mission. Sind Reformen in Saudi-Arabien möglich?“ Mit diesen Worten titelte die Wochenzeitung DIE ZEIT 1 anlässlich des Wechsels an der Spitze des Königreiches nach dem Tod von König Fahd im Jahr 2005. In der Tat hat es nicht nur in Ländern wie Ägypten oder den kleineren Golfmonarchien in den vergangenen Jahren umfassende Reformprozesse gegeben. Auch Saudi-Arabien durchläuft bis dato Veränderungen politischer, ökonomischer und sozialer Natur, die Fragen aufwerfen, wie tief greifend diese Prozesse sind, wer für die Richtung der Veränderungen verantwortlich zeichnet und welche Motive diesen Prozessen zu Grunde liegen.

Bei dem vorliegenden, von Ulrike Freitag (Direktorin des Zentrums Moderner Orient, ZMO und Professorin für Islamwissenschaft an der FU Berlin) herausgegebenen Sammelband handelt es sich um das Ergebnis einer studentischen Initiative, die auf eine Exkursion in das Königreich Saudi-Arabien im Jahr 2008 zurückgeht. Das Buch mit seinen elf Beiträgen (exklusive Einleitung der Herausgeberin) nähert sich aus interdisziplinärer Sicht den Fragen, inwieweit sich das Königreich aus politischer, ökonomischer und sozialer Sicht in einem Prozess der Veränderung befindet, wie sich dabei die Protagonisten des Wandels zusammensetzen und wie diese Entwicklung zu deuten ist. Die Frage, ob es dabei um einen behutsamen, graduellen gesellschaftlichen Wandel gehe oder es sich um durchgreifende politische Veränderungen handle (S. 10), zieht sich wie ein roter Faden durch sämtliche Beiträge des Sammelbandes. Dabei ist Freitags Grundannahme in der Einleitung nachdrücklich zuzustimmen, dass es sich bei den zu beobachtenden Reformen in ihrer Zielsetzung um regimestabilisierende Maßnahmen ‚von oben’ handle und diese nicht mit der Frage nach einer möglichen Demokratisierung zu verwechseln seien (ebd.).

Der Sammelband gliedert sich in vier Teile. Dem ersten Teil zu politischen Themen wie der Rolle des ‚Nationalen Dialogforums’ (S. 29ff.) oder der ‚liberalen Reformbewegung’ im Land (S. 61ff.) folgen im zweiten Teil Beiträge mit gesellschaftlichem Bezug, wie zum Beispiel der über die vom saudischen Regime beeinflussten Besitzverhältnisse in der nationalen Medienlandschaft (S. 107ff.). Als dritter und vierter Teil schließen sich Beiträge zu kulturellen Themen, inklusive Fragen zur Genese saudischer Literatur, und schließlich im letzten Teil des Bandes wirtschaftspolitische Beiträge an. Dem Leser erschließt sich diese Vierteilung des Sammelbandes leider nicht unmittelbar. So folgt der Beitrag ‚Literarische Grenzgänge’ zur Genese des saudischen Romans (Julia Clauß, S. 221ff.) zum Beispiel einem Beitrag zur Lage der schiitischen Minderheit in Saudi-Arabien (Christoph Dinkelaker, S. 189ff.). Dem Artikel von Clauß folgt sodann ein Beitrag zur saudischen Monarchie als ‚Hüter der heiligen Stätten’ (Nora Haakh, S. 237ff.). Eine offenkundigere inhaltliche Differenzierung und thematische Verknüpfung wären an dieser Stelle wünschenswert gewesen.

Dies soll der inhaltlichen Qualität der einzelnen Beiträge, die durch einheitliche und fehlerfreie Editierung glänzen, keinen Abbruch tun. Einzig die durchgehend vollständige Angabe der einzelnen URL-Adressen erschwert das Lesen einzelner Fußnoten und wäre ohne Verlust wissenschaftlicher Akribie zu vereinfachen gewesen. Sämtliche Autoren greifen auf arabische Originalquellen zurück und stellen hinreichend arabische Sprachexpertise unter Beweis. Der Beitrag von Stefan Maneval (S. 61ff.) zur liberalen Reformbewegung wird durch eine eigene Übersetzung der Reformpetition saudischer Reformer ergänzt, was damit auch einen nicht unerheblichen Beitrag für die deutschsprachige Forschung zu gegenwartsbezogenen Themen über Saudi-Arabien impliziert. Alle Artikel glänzen durch aktuelle thematische Bezüge, sodass auch jüngste Entwicklungen wie die Eröffnung der KAUST (King Abdullah University of Science and Technology) Erwähnung finden (S. 89ff.). Die überwiegend narrative Darstellung von Beispielen der politischen, ökonomischen und sozialen Veränderung ist zwar festzuhalten, aber aufgrund der umfassenden empirischen Aufarbeitung und der in allen Beiträgen substantiellen Konklusion nicht zu kritisieren (zumal es sich um eine studentische Initiative handelt).

Das analytische Abstraktionsniveau, den theoretischen Zugang und die empirische Tiefe betreffend, sind einige Beiträge besonders hervorzuheben. Frauke Drewes zeichnet im ersten Kapitel des Bandes (S. 29ff.) die Genese des Nationalen Dialogforums seit 2003 aus akteursorientierter Sicht nach und zeigt nebst Skizzierung unterschiedlicher Interpretationsmuster anschaulich, wie dieses Gremium als Quelle der Herrschaftslegitimation das Regime stabilisieren soll, im Grundsatz aber eher einem kosmetischen Reformakt gleicht und nicht als substantielle Öffnung des autoritären Regimes zu verstehen ist (vgl. dazu auch den Beitrag von Larissa Schmid zur Symbolik saudischer Geschlechterpolitik, S. 89ff.). Im Mittelpunkt von Jannis Hagmanns Beitrag steht die saudische Medienlandschaft und ihre dominierenden Akteure. Über eine differenzierte Darstellung der Besitzverhältnisse saudischer Medienfirmen in der Presse, im Fernsehen und im Internet berücksichtigt Hagmann die tief greifenden Veränderungen durch Errungenschaften der Informationstechnologie (inklusive Verweise auf arabischsprachige Weblogs) und ihre Implikationen für das saudische Regime (S. 107ff.). Hagmann schlussfolgert dabei, dass sich zwar an der grundsätzlichen Strategie des saudischen Regimes, die Kontrolle der Besitzverhältnisse in der Medienlandschaft zu steuern, wenig verändert hat, die Kontrollmöglichkeiten des Regimes nun aber durch neuartige Informationsquellen und einer einhergehenden Dezentralisierung der Medienlandschaft abnehmen (S. 134). Mit ähnlicher empirischer Akribie untersucht Philipp Dehne im Folgekapitel (S. 135ff.) die Lage von Gastarbeitern im Land und diskutiert diverse damit korrelierende Aspekte, beispielsweise die hohe Jugendarbeitslosigkeit, Versuche der quantitativen Stärkung saudischer Staatsbürger im Arbeitsmarkt und rechtliche Konflikte in der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte (kafala-Modell). Den Sammelband schließt ein politökonomischer Beitrag von Said Khalid Scharaf zur Rolle der saudischen Bourgeoisie im politischen System. Theoretisch fundiert, den aktuellen Stand der Forschung hinreichend wiedergebend, diskutiert Scharaf mögliche Veränderungen im politischen System des Landes, hervorgerufen von einem politökonomischen Wandel (Liberalisierung der Wirtschaft) und veränderter Akteurskonstellationen (S. 279ff.). Am Beispiel der saudischen Bourgeoisie zeigt er auf, wie sich ein saudisches Unternehmertum etablieren konnte, das weniger einer ‚Rentiermentalität’ als einem Profitmaximierungskalkül folgt. Letztlich stellt sich die Frage – so Scharaf – nach dem Einfluss von Wirtschaftseliten in einem sich wandelnden politischen System, was wiederum in der Forschungsliteratur zur gesamten Golfregion und darüber hinaus noch nicht hinreichend erforscht wurde.

Insgesamt handelt es sich bei dem vorliegenden Sammelband um ein uneingeschränkt zu empfehlendes Werk, das sich insbesondere als Lektüre für aktuelle politische, ökonomische und soziale Veränderungsprozesse im Königreich Saudi-Arabien empfiehlt, dabei auch Nischenthemen berücksichtigt und in der deutschsprachigen Literatur eine Lücke schließt.

Anmerkung:
1 Alain-Xavier Wurst, König Abdallahs unmögliche Mission, <http://www. zeit.de/2005/32/Abdallah> (29.04.2010).

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