K. Fischer: Religion im liberalen Staat

Titel
Die Zukunft einer Provokation. Religion im liberalen Staat


Autor(en)
Fischer, Karsten
Erschienen
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heiner Bielefeldt, Lehrstuhl für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik, Universität Erlangen-Nürnberg

Das Spannungsverhältnis von Religion und Politik findet seit Jahren anhaltendes Interesse, was sich in zahlreichen einschlägigen Tagungen, Feuilletondebatten und Buchpublikationen zeigt. Der von Karsten Fischer vorgelegten Monographie dürfte deshalb Aufmerksamkeit zuteil werden. Sein Buch besteht aus mehreren, teilweise zuvor separat publizierten historischen und politikwissenschaftlichen Studien, die sich mit unterschiedlichen Facetten der Relation von Politik und Religion beschäftigen: zum Beispiel mit der geschichtlichen Entwicklung dieses Verhältnisses in Europa von der Antike bis in die Gegenwart, mit dem Fundamentalismus als einem antiwestlichen, „okzidentalistischen“ Projekt, mit historischen Konjunkturen innerhalb der radikal-islamischen Dschihadismus-Bewegungen, mit einer Kritik kulturalistischer Identitätspolitiken sowie mit den sozialmoralischen Deutungen des Protestantismus durch Weber und Troeltsch.

Das Leitmotiv, das die im Einzelnen recht unterschiedlichen thematischen Darstellungen durchzieht und zusammen bindet, kommt bereits im Titel „Die Zukunft einer Provokation“ zum Ausdruck: Religion und Politik befinden sich, so der Autor, gleichsam in einem Verhältnis des Nicht-Verhältnisses zueinander, das deshalb stets prekär – eben eine wechselseitige „Provokation“ – sei und bleiben werde. In seinen Schlussüberlegungen fasst Fischer seine Sichtweise noch einmal knapp zusammen, wonach die Relation beider „nicht zu harmonistisch oder gar konsensualistisch gestaltet werden darf: Politik und Religion sollten einander fremd bleiben …“ (S. 231). In dieser wechselseitigen Fremdheit sieht Fischer die Essenz der Liberalität des modernen Staates und als dessen Kehrseite die Möglichkeit staatsfreier religiöser Praxis.

Damit bezieht Fischer eine Gegenposition nicht nur zu fundamentalistischen Bewegungen unterschiedlichster Observanz sowie zu Carl Schmitts antiliberaler politischer Theologie, sondern auch zu Habermas. Statt mit ihm für wechselseitige Übersetzungsprozesse zwischen der säkularen Sprache des modernen staatlichen Freiheitsrechts und religiösen Semantiken zu plädieren, setzt er lieber auf Selbstabgrenzungen in wechselseitigem Nicht-Verstehen. Die von Luhmann beschriebene Ausdifferenzierung selbstreferenzieller gesellschaftlicher Systeme fungiert dabei als theoretische Grundlage (vergleiche zum Beispiel S. 42).

Unter den Klassikern der politischen Theorie nimmt Hobbes in Fischers Darstellung eine herausgehobene Rolle ein. Mit Stephen Holmes bezeichnet er ihn als „one of the major progenitors of liberal political theory“ (S. 167). Denn Hobbes habe in zuvor nicht erreichter Klarheit die Grundunterscheidung von Politik und Religion systematisch durchgeführt und damit der für den modernen Staat paradigmatischen Privatisierung des Religiösen den Boden bereitet. „Beispielhaft in der Hobbes’schen Unterscheidung zwischen privater fides und öffentlicher confessio, wird […] nun zwischen dem Staat als einer funktional auf die Ordnungswahrung konzentrierten Sicherheitsagentur und der bürgerlichen Gesellschaft als ein Sphäre unpolitischer, egoistischer und in diesen privaten Belangen von staatlicher Einflussnahme freier Nutzenmaximierer unterschieden.“ (S. 33) Fischer verortet den liberalen Staat der Gegenwart in diesem Sinne in der Tradition von Thomas Hobbes und der von ihm erarbeiteten kategorialen Trennung von Politik und Religion (vergleiche zum Beispiel S. 38).

Was der politische Liberalismus mit Hobbes in der Tat gemeinsam hat, ist die Absage an die aristotelisch-christliche Idee des Tugendstaats, dessen vornehmster Zweck in der Anleitung der Rechtssubjekte und zu einer moralischen Lebensführung – christlich verstanden zugleich als Voraussetzung eines gottgefälligen Lebenswandels – gesehen wurde. Davon nimmt Hobbes radikal Abstand und reduziert die Staatsfunktion auf die Gewährleistung innerer und äußerer Sicherheit. Dass der Hobbessche Sicherheitsstaat allerdings gerade kein Rechtsstaat ist, wird von Fischer nicht weiter problematisiert. Die Reduzierung des Staatszwecks auf die Sicherheitsgarantie macht es zwar prinzipiell möglich, staatsfreie Sphären einer bürgerlichen Gesellschaft zu konzedieren; diese haben aber, und das ist entscheidend, gegenüber dem Leviathan kein eigenes Recht, sondern verbleiben im Modus bloßer Tolerierung. Dies gilt auch für die Religion. Zwar emanzipiert Hobbes den Staat von der Religion und gibt ihm eine autoritative Streitschlichterrolle über den religiösen Parteien. Er emanzipiert aber nicht umgekehrt auch die Religion vom Einfluss des Staates. Die von Hobbes herausgearbeitete Differenz zwischen privatem Glauben (faith) und öffentlichem Bekenntnis (confession) bleibt abstrakt – mit der Folge, dass selbst der bloß private Glaube keine rechtliche Anerkennung, geschweige denn rechtlichen Schutz findet, sondern allenfalls auf Toleranz hoffen kann, die ihrerseits aber gänzlich den Opportunitätsgesichtspunkten staatlicher Sicherheitspolitik unterliegt. Als Paradigma für eine moderne, menschenrechtlich gestützte Glaubens- und Religionsfreiheit taugt die Hobbessche Staatstheorie daher nicht. Hier würden die Theorien von Locke, Kant oder Moses Mendelssohn viel weiter führen, die in Fischers Studie erstaunlicherweise aber gar nicht vorkommen.

Wenn Fischer die Aufgabe des liberalen Staates darin sieht, „religiöse Überzeugungen als individuelle Privatansichten zu behandeln und zu begrenzen“ (S. 41), unterbietet er außerdem die heute international anerkannten Standards der Religionsfreiheit, die ausdrücklich über die individuelle Privatsphäre hinaus gemeinschaftliche und öffentliche Formen religiöser Praxis umfassen. Als beliebig herausgegriffener Beleg dafür sei Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention des Europarats von 1950 zitiert, worin die Freiheit jedes Menschen statuiert wird, „seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen öffentlich oder privat […] auszuüben“. Die Religionsfreiheit erweist sich insofern als ein Schutz gegen eine von Staats wegen verfügte Privatisierung des Religiösen. Die ein liberales Gemeinwesen auszeichnende Trennlinie verläuft deshalb nicht zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit, wie Fischer meint, sondern verläuft innerhalb des Raums Öffentlichkeit, wo es zwischen staatlicher und gesellschaftlicher Öffentlichkeit zu differenzieren gilt. Der liberale Staat, dies ist entscheidend, kennt weder Staatskirche, noch Staatsreligion oder Staatsideologie. Er steht nicht im Dienste religiöser Wahrheit, sondern fungiert als Garant religiöser Freiheit, die als Menschenrecht aber eben auch öffentliche und gemeinschaftliche Ausdrucksformen religiöser Überzeugung und Praxis anerkennt, wie dies in allen einschlägigen Standards völkerrechtlich, europarechtlich und verfassungsrechtlich eindeutig klargestellt wird.

Während Fischer die Differenz zwischen Politik und Religion durchgängig betont, fehlen in seiner Studie Überlegungen zur Differenzierung zwischen Religion und Moral – mit dem Ergebnis, dass der von der Religion getrennte Staat gleichzeitig auch als moralfreier Staat erscheint. Dem von religiösen Fundamentalisten gegen den modernen säkularen Staat erhobenen Vorwurf der „Dekadenz“, nämlich des moralischen Substanzverlustes, hält er denn auch in der Sache nichts entgegen. Stattdessen plädiert er für eine ironische Gegenstrategie, die darin bestehen soll, die dem Westen zugeschriebene „Dekadenz“ anzunehmen: „Also muss die Semantik von Dekadenz affirmativ gewendet werden. Wir sind die Gesellschaft, vor der uns fundamentalistische Eiferer immer gewarnt haben!“ (S. 140) Als rhetorisches Manöver mag eine solche ironische Übernahme des Dekadenzvorwurfs in manchen Konstellationen sinnvoll sein. Systematisch überzeugen kann dies aber nicht, zumal auch Fischer selbst an anderer Stelle davon spricht, es handele sich bei den fundamentalistischen Zuschreibungen um ein „Zerrbild“ des Westens (S. 133). Was denn dann ein angemessenes Bild wäre, erfährt man allerdings nicht. In seinen Abschlussüberlegungen spricht Fischer sich mit Luhmann dafür aus, „eine höhere Amoralität der Politik zu bewahren“ (S. 233). Hier nimmt er, wie so oft, Zuflucht zu paradoxen Wendungen, die für eine wirkliche Klärung des komplexen Verhältnisses von Religion, Moral, Politik und Staat aber nicht wirklich weiterhelfen. Was macht denn das „Höhere“ der westlichen „Amoralität“ aus, und wieso soll es sich dabei gleichwohl um eine „Amoralität“ handeln?

Das für unsere Verfassungsordnung zentrale Postulat der unantastbaren Menschenwürde und der in ihr begründeten Menschenrechte kommt in Fischers Buch überhaupt nicht vor. Vermutlich ist dies kein Zufall. Denn Artikel 1 des Grundgesetzes durchkreuzt gerade die von ihm entwickelte Dichotomie zwischen religions- und moralfreier („dekadenter“) Politik einerseits und einer allen öffentlichen Ansprüchen entsagenden, bloß individuell-privaten Religion bzw. Moralität andererseits. Genauso fehlt in Fischers Studie die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Religionsfreiheit, zur religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates und zum Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften. Kein einziges Urteil aus dieser reichen Rechtsprechung wird auch nur erwähnt. Auch andere im Zusammenhang des Themas relevante Rechtstraditionen – etwa die US-amerikanische oder die Entwicklung internationaler Jurisdiktion zur Religionsfreiheit – finden keinerlei Berücksichtigung. Wäre dies anders, müsste er vermutlich sein Kategoriensystem revidieren.

Zu Recht betont Fischer die Spannungen innerhalb des Verhältnisses von Politik und Religion. Gegen manche allzu harmlosen Lesarten dieser Relation könnte sein Buch als ein theoretischer Kontrapunkt fungieren. Er verzichtet aber auf eine kritische Auseinandersetzung mit denjenigen politischen Klassikern – etwa Locke und Kant – sowie mit denjenigen positiv-rechtlichen Normen und Auslegungstraditionen, aus denen sich das Selbstverständnis der liberalen säkularen Demokratie im Umgang mit religiösen und weltanschaulichen Fragen heute primär speist. Durch diese Ausblendungen wirkt seine Provokation letztlich doch zu „konstruiert“, als dass sie wirklich beunruhigen könnte.

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