A. Goltz u.a. (Hrsg.): Jenseits der Grenzen

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Titel
Jenseits der Grenzen. Beiträge zur spätantiken und frühmittelalterlichen Geschichtsschreibung


Herausgeber
Goltz, Andreas; Leppin, Hartmut; Schlange-Schöningen, Heinrich
Reihe
Millennium-Studien 25
Erschienen
Berlin u.a. 2009: de Gruyter
Anzahl Seiten
XVIII, 358 S.
Preis
€ 99,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Körner, Historisches Institut, Universität Bern

Der Band vereinigt die Beiträge eines Kolloquiums anlässlich des 70. Geburtstags von Alexander Demandt von 2007. Der Fokus liegt auf der Geschichtsschreibung im Übergang von der Spätantike zum frühen Mittelalter. Trotz aller in jüngerer Zeit herausgearbeiteten Kontinuitäten handelt es sich nach Auffassung der Herausgeber (S. 1–10) um eine „Epoche des Wandels“ (S. 2), so dass sich die Frage stellt, inwieweit die zeitgenössischen Autoren Veränderungen und Umbrüche von der Antike zum Mittelalter wahrnahmen. Ziel der Beiträge ist es zudem, die räumlichen, zeitlichen und gattungsspezifischen Grenzen durch eine breitere Perspektive zu überwinden sowie byzantinische und westliche, spätantike und frühmittelalterliche, historiographische und kirchengeschichtliche Quellen nebeneinander zu betrachten.

Besonders gelungen im Hinblick auf die übergeordnete Leitfrage des Bandes ist der Beitrag von Dariusz Brodka zum Historiker Priskos von Panion (S. 11–23). Brodka kann aufzeigen, wie Priskos bewusst auf die Traditionen klassischer Geschichtsschreibung zurückgreift, diese aber geschickt variiert und seinen Themen anpasst: So überträgt er die von Thukydides für den Konflikt zwischen Athen und Sparta herausgearbeiteten Triebfedern der Geschichte wie die Zwangsläufigkeit des Geschehens oder die Furcht als Motivation für politisches Handeln auf den Konflikt zwischen den Hunnen und Ostrom. Einerseits zeigt Priskos damit das Allgemeine und Universelle seiner Themen auf, andererseits kann er an den Abweichungen vom klassischen Schema auch die Besonderheiten des von ihm Dargestellten herausarbeiten.

Hans-Ulrich Wiemer befasst sich mit dem Geschichtswerk des Malchos von Philadelpheia und untersucht insbesondere dessen Kaiserkritik und Gotenbild (S. 25–60).1 Ähnlich wie bei Priskos wird auch im Falle von Malchos die Anknüpfung an die griechische Historiographie deutlich, deren Techniken (Dramatisierung oder Einsatz von Reden) der Historiker ebenso übernimmt wie deren Deutungsmuster der Mechanismen der Geschichte: Auch Malchos’ Interpretation der Geschichte geht von den handelnden Personen und ihren Charaktereigenschaften aus. Transzendente Ursachen spielen hingegen auffälliger weise kaum eine Rolle, vor allem fehlen nach Wiemer die während der Abfassungszeit verbreiteten eschatologischen Vorstellungen und apokalyptischen Geschichtsdeutungen zur Gänze.

Klaus-Peter Johne untersucht die Krisenwahrnehmung in der Historia Augusta und versucht, daraus Rückschlüsse auf die Entstehungszeit zu ziehen (S. 79–90). So fällt auf, dass an zwei Stellen (tyr. trig. 5,7 bzw. Aurel. 21,1) die Gefahr durch Germanen als existenzbedrohlich für den römischen Staat beschrieben wird. Eine vergleichbare Bedrohung entstand wieder zu Beginn des 5. Jahrhunderts unter Honorius, als Alarichs Westgoten 401 in Norditalien einfielen: „Die Bedrohungsszenarien waren einander so ähnlich, dass sie miteinander verglichen werden konnten“ (S. 86). Johne sieht somit seine Datierung der Historia Augusta auf die Jahre zwischen 397 und 404 bestätigt.2 Zugleich dürfte der anonyme Verfasser mit der Erinnerung an die überwundene Krise des 3. Jahrhunderts die Hoffnung auf einen Wiederaufstieg Roms verbunden haben, wie Johne an verschiedenen Passagen aufzeigen kann.

Giuseppe Zecchini geht den letzten Zeugnissen der heidnischen Geschichtsschreibung in lateinischer Sprache nach (S. 91–105). Dabei weist er den Schriften des christlichen Goten Jordanes zentrale Bedeutung bei der Vermittlung klassischer literarischer Formen an die frühmittelalterliche Literatur zu.

Werner Portmann untersucht die Frage, mit welchem Weltbild Athanasius den Konflikt mit den Arianern erklärt (S. 107–120). Häresie stellt für Athanasius eine Störung des orthodoxen Idealzustands dar. Seine Argumente verraten für Portmann „die Vorstellung einer in sich geschlossenen Gesellschaft, die Opposition als Feindschaft begreift“ (S. 120), eine Mentalität, die insgesamt in den christologischen Konflikten recht verbreitet gewesen sein dürfte.

Hartwin Brandt beschäftigt sich mit der Kategorie der Universalgeschichte, wie sie uns im Werk von Orosius entgegentritt (S. 121–133). Dieses spätantike Konzept ist ein Versuch, „alles, nämlich die Totalität des Weltgeschehens insgesamt, als Ausdruck göttlichen Willens und Gestaltens deuten und erklären zu wollen“ (S. 121). Orosius will dem paganen Vorwurf entgegentreten, die Vernachlässigung der alten Götter habe zu den Katastrophen wie der Eroberung Roms durch Alarich geführt, indem er sie Krisen früherer Zeiten, die von den heidnischen Gottheiten auch nicht verhindert worden seien, gegenüberstellt und damit relativiert. Nach Brandt erweist sich Orosius mit der theologischen Interpretation von historischen Prozessen als Erbe von Eusebios’ Kirchengeschichte und steht damit auch in der Tradition der „intentionalen Geschichte“, also einer „mit direkt erkennbaren und explizit formulierten Wirkungsabsichten operierende[n] Form der Geschichtsschreibung“ (S. 128).

Auch Augustinus versuchte, zeitgenössische Katastrophen heilsgeschichtlich zu erklären, wie Heinrich Schlange-Schöningen in seinem Beitrag darlegt (S. 135–152). Vor der Eroberung Roms sieht Augustinus die Gräueltaten der Goten in Italien noch im selben Kontext wie die donatistischen Ausschreitungen in Nordafrika; beide seien letztlich Strafe und Prüfung Gottes. Eine Analyse der eigentlichen Ursachen interessiert den Kirchenvater hingegen nicht. Doch die Eroberung Roms 410 stellte ihn vor neue Probleme, führte diese doch zu einer Erschütterung des christlichen Selbstverständnisses. Augustinus versuchte daher, das Ereignis in sein Weltbild einzuordnen. Dies zwang ihn, ausführlich auf die Auswirkungen der Eroberung auf die Bevölkerung Roms einzugehen. Er wird so zum „Historiker wider Willen“ (S. 149), der die einzelnen Schreckensmeldungen detailliert erläutern musste, um aufzuzeigen, dass es sich eben doch nicht um eine Strafe der alten Götter handelte. Umso weniger lässt sich Augustinus auf eine Analyse der tieferen Ursachen der Katastrophe ein, sondern ist vielmehr bemüht, die Auswirkungen zu relativieren und sie in den Kontext früherer Schrecken einzuordnen.

Hartmut Leppin geht der Frage nach der Perspektive der syrischen Kirchenhistoriker Theodoret und Evagrius Scholasticus nach (S. 153–168) und stellt bei beiden ein Bewusstsein für die Gefährdung des Reichs fest, das sich nicht aus dem antiken Dekadenzdiskurs herleitet, sondern von der Beobachtung der zeitgenössischen Probleme wie individuellem Versagen einzelner Kaiser (Theodoret) oder der Bedrohung durch die Perser (Euagrios) geprägt ist. Andreas Goltz widmet sich einem ähnlichen Thema (S. 169–198): Er untersucht, inwieweit sich die Absetzung des letzten weströmischen Kaisers und die Herrschaften Odovacars und Theoderichs in Italien in der syrischen Historiographie aus frühbyzantinischer Zeit widerspiegeln.

Der äußerst umfangreiche Beitrag von Stefan Esders befasst sich mit der anonymen sogenannten Fredegarchronik aus dem 7. Jahrhundert unter der Fragestellung, inwieweit hier die arabischen Eroberungen bereits als historischer Einschnitt wahrgenommen wurden (S. 239–311). Die Chronik, die um 660 vollendet worden sein dürfte (zur Forschungsdiskussion um Datierung und Verfasserfrage vgl. S. 241–243), enthält die früheste umfassende Darstellung der arabischen Expansion. Das Interesse des anonymen Verfassers dürfte daraus resultieren, dass der Frankenkönig Dagobert I. eine Gesandtschaft an Kaiser Heraklios geschickt hatte, die sich auf 629 oder 630 datieren lässt. Die Niederlage des Heraklios gegen die Araber erklärt der Chronist mit dessen Charakter bzw. Sünden. Ein ähnlich negatives Bild wird von Dagobert gezeichnet. Wolfram Brandes schließlich wendet sich der Darstellung des frühen Islam in der Chronographia des Theophanes aus dem 9. Jahrhundert und ihren Quellen zu (S. 313–343).

Die Herausgeber des Bandes kommen zum Ergebnis, dass die Geschichtsschreibung in ihrer Traditionsgebundenheit gerade in Zeiten beschleunigter historischer Veränderung eine Brückenfunktion zwischen Vergangenheit und veränderter Gegenwart, zwischen Antike und Mittelalter wahrnehmen konnte, indem sie die Kontinuitäten gegenüber den Brüchen herausstellte und „Autoren wie Publikum Veränderungen erträglich“ machte (S. 7). Manche Beiträge fügen sich dabei weniger harmonisch in die übergeordnete Fragestellung nach Kontinuität und Brüchen in der Historiographie von Spätantike zu frühem Mittelalter ein, so die quellenkritische Untersuchung zu Julian von Bruno Bleckmann (S. 61–77) oder die Darstellung von Rajko Bratož über den Balkanraum in spätantiken und mittelalterlichen Chroniken (S. 199–238).

Insgesamt bietet der Band fundierte Einführungen zu zahlreichen Autoren, die in erster Linie einem spezialisierten Fachpublikum bekannt sein dürften. Auch wenn die übergeordnete Fragestellung stellenweise aus den Augen gerät, stellen doch die meisten Beiträge anregende Untersuchungen oder Forschungsberichte zu historiographischen Texten der Spätantike und des frühen Mittelalters dar und bieten somit eine Grundlage für die weitere Forschung zu Themen aus diesen Epochen.

Anmerkungen:
1 Bedauerlicherweise konnte dazu die neue Monographie von Mischa Meier nicht mehr eingearbeitet werden: Mischa Meier, Anastasios I. Die Entstehung des Byzantinischen Reiches, Stuttgart 2009.
2 Für diese Datierung sprach sich Johne bereits früher aus: Klaus-Peter Johne, Kaiserbiographie und Senatsaristokratie. Untersuchungen zur Datierung und sozialen Herkunft der Historia Augusta, Berlin 1976, S. 176–179.

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