G. Herman: Morality and Behaviour in Democratic Athens

Cover
Titel
Morality and Behaviour in Democratic Athens. A Social History


Autor(en)
Herman, Gabriel
Erschienen
Anzahl Seiten
XXI, 472 S.
Preis
£ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Beate Wagner-Hasel, Historisches Seminar, Universität Hannover

Wie eigennützig waren die Athener? Wie wurde Selbstsucht eingehegt? Eric Robertson Dodds, der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in seiner Studie „Die Griechen und das Irrationale“ der Frage nachging, welche Mechanismen zur Anpassung an soziale Normen zwingen, hätte zwischen der homerischen Schamkultur und der klassischen Schuldkultur unterschieden und geantwortet, dass das Handeln der homerischen Helden von der Scheu vor der öffentlichen Meinung, das der Athener in klassischer Zeit von der Angst vor Strafe gesteuert worden sei. Die Scham werde durch die Strafe ersetzt, so seine Meinung, wenn übergeordnete gesellschaftliche Instanzen entstünden, die anstelle der öffentlichen Meinung Fehlverhalten des Einzelnen sanktionierten. Den Übergang von der Scham- zur Schuldkultur setzte er mit dem Entstehen der griechischen Poliskultur gleich.

Nicht von der Schamkultur, sondern von der Fehdegesellschaft geht Gabriel Herman aus, kommt aber in seiner Studie zur politischen Moral im antiken Athen zu einem ähnlichen Ergebnis wie Dodds: Mit Entstehen der attischen Demokratie sei das System der persönlichen Rache und Vergeltung durch ein System der Bestrafung durch staatliche Instanzen abgelöst und eine auf Kooperation und Besonnenheit zielende politische Moral durchgesetzt worden. Für den Nachweis dieser These bemüht Herman eine Vielzahl von ethnologischen und historischen Beispielen und greift auf ganz unterschiedliche theoretische Konzepte zurück, die jedoch alle um den Gegensatz von Gemein- und Eigennutz kreisen. Dazu gehört die liberale Theorie von Adam Smith ebenso wie ethnologische Konzepte der Gegenseitigkeit, wie sie Marshall Sahlins vorgelegt hat, sowie die moderne Spieltheorie der politischen Wissenschaft.

Anders als Dodds geht es ihm nicht so sehr um den Nachweis eines historischen Wandels von der Scham- bzw. Fehde- zur Strafkultur, sondern vielmehr um die Ermittlung eines für die westliche Kultur vorbildhaften moralischen Verhaltenscodes. Herman möchte nachweisen, dass es die Athener waren, die erstmals eine politische Moral entwickelten, der es gelang, den Gegensatz von Gemein- und Eigennutz aufzuheben und das eigene Wohlergehen mit dem der Gemeinschaft gleichzusetzen (S. 392). Die Entstehung dieser Moral verortet er im antiken Athen: Zwischen 508 und 322 v.Chr. sei in Athen eine auf Befriedung und Kooperation statt auf Rache und Vergeltung setzende politische Kultur entstanden. Die Abkehr von primitiver Blutrache und das demokratische System mit seinen spezifisch kooperativen Verhaltensmustern nennt er das „athenische Wunder“.

Über zehn Kapitel hinweg entfaltet Herman seine zwar nicht neuen, aber in dieser Zuspitzung doch originellen Ideen. Nach einer Diskussion der theoretischen Konzepte, mit denen sich moralische Verhaltensmuster in der Gesellschaft erfassen lassen (Kapitel 1: Moral percepts and society), beschäftigt sich Herman zunächst mit den Rahmenbedingungen, mit der ökonomischen Orientierung der Athener, den politischen Entscheidungsträgern, den Polisbürgern, und den Ausgeschlossenen (Sklaven, Frauen, Fremde) sowie mit den charakteristischen Merkmalen der Demokratie, der Gesetzestreue und dem Gleichheitsparadigma (Kapitel 2: Athenian society and government). Dabei setzt er sich mit den höchst widersprüchlichen Urteilen über die attische Demokratie auseinander, wie sie seit dem 18. Jahrhundert gefällt wurden.

Vor allem für die jüngste Zeit macht er ein negatives, vom Geist der Rache und unbegrenzten Gewalt geprägtes 1, Bild vom Verhalten der Athener in der Blütezeit der Demokratie aus (S. 94ff.): Streicht die jüngste Forschung die kompetetive Moral der Athener und ihr Denken in Kategorien von Ehre und Scham heraus, die Dodds noch als typisch homerisch angesehen hatte, so sucht Herman nun nach Verhaltensmustern, die Selbstbeherrschung und Kooperation belegen. Denn in der Fähigkeit, tiefe soziale Gräben zu überwinden und Kompromisse zu bilden, sieht er das Erfolgsrezept der Athener (Kapitel 3: The moral image of the Athenian democracy). Ihm geht es weniger um die Ermittlung von Werthaltungen als von tatsächlichem Verhalten.

Bei der Diskussion, welche Art von Quellen dieses „reale Verhalten“ ohne Verzerrungen freilegen könnte, entscheidet sich Herman für die Gerichtsreden des 4. Jahrhunderts v.Chr. (S. 153). Gerade sie zeigten, wie sich Athener in Konfliktfällen verhielten und welchen Verhaltensnormen sie folgten (Kapitel 4: Representations and distortions). Erst nach diesen theoretischen und methodischen Klärungen kommt er zur Analyse von einzelnen Konfliktfällen, die seine Thesen nachvollziehbar machen. Die Fälle, die vor Gericht ausgetragen wurden, beweisen seiner Meinung nach vor allem eines: das Bemühen um eine Einhegung des Rachegedankens zugunsten der Strafidee.

Drei Beispiele stehen im Mittelpunkt seiner Betrachtungen, die Rede des Lysias über die Tötung eines Ehebrechers, die Verteidigungsrede für einen unbenannten Athener gegen die Anklage des Simon sowie die Rede des Demosthenes gegen Meidias. Gerade anhand der Verteidigungsrede des Eratosthenes macht er deutlich, wie wenig vermeintlich traditionelles Denken in Kategorien von Ehre und Rache zählte, da der Redner in seiner Argumentation kaum auf die Verletzung männlicher Ehre abhebe. Vielmehr werde in der Argumentation das kontrollierte, besonnene Vorgehen des Ehemannes herausgestrichen, als er dem Ehebrecher eine Falle stellte und ihn tötete. Mit seinem Verhalten, so das Ziel des Redners, habe sich der Rächer im Einklang mit den Werten der Polisorgane befunden und wie ein Richter die gerechte Strafe ausgeführt. Nach Herman distanzierten sich die Redner nicht nur in diesem Fall von der Logik der Rache und propagierten das Ideal der Besonnenheit.

Auch die Verteidigungsrede des Lysias (gegen Simon) für einen ungenannten Athener, der wegen vorsätzlicher Körperverletzung mit Tötungsabsicht vor Gericht gestanden habe, belege dies (S. 165ff.). Hintergrund der Anklage des Simon bildet der Streit der Kontrahenten um einen (Lust-)Knaben aus Plataiai. Herman verweist auf die Strategie des Redners, den Angeklagten als besonnenen Mann zu präsentieren, der sich durch keinerlei Gewalttat des Klägers zur eigenen Gewalttaten habe provozieren lassen: Weder habe er mit Rachetaten reagiert, als der Kläger in sein Haus eingedrungen und sogar den Raum betreten habe, wo sich die unverheirateten Nichten und Schwestern aufhielten, noch habe er sich gewehrt, als Simon ihn selbst körperlich bedroht habe. Rückzug, Flucht, das Bestreben nach Deeskalation habe das Verhalten des Beklagten geprägt (Kapitel 5: The structure of conflicts).

Hinweise auf solche defensiven Verhaltensmuster sind nach Herman nicht nur bei den Rednern, sondern auch bei Philosophen und Historikern zu finden. Nicht mehr als 16 nicht politisch motivierte Tötungsdelikte (S. 207) ermittelt er für die Zeit zwischen 507 und 322 v.Chr., die von der Polis geahndet worden seien (Kapitel 6: Revenge and punishment). Auf die Analyse der Einzelfälle folgt eine Darlegung der Zwangsmittel, die der athenischen Polis zur Verfügung standen, Gerichtshöfe, Gefängnis, Gerichtsdiener, wobei Herman auch auf grundsätzliche Staatsdefinitionen eingeht. In Anlehnung an Max Weber setzt er den Staat mit dem Vorhandensein einer Zwangsgewalt gleich (Kapitel 7: The coersive power of the state).

Die darauffolgenden Kapitel kreisen um Mechanismen der Verankerung kooperativer Normen im Einzelnen, sei es durch Sublimation und Anpassung an heroische Vorbilder (Kapitel 8: Transfomations of cruelty), sei es durch die Religion (Kapitel 9: Interactions with the devine). Das letzte Kapitel fasst die Ergebnisse zusammen, die im Rückgriff auf die Spieltheorie noch einmal untermauert werden: Das Streben nach individuellem Vorteil, so die Botschaft, kann durchaus kooperatives Verhalten erzeugen; Gemein- und Eigennutz gehören zusammen (Kapitel 10: The growth of communal feeling).

Die Konsequenz, mit der Herman nach Beispielen für kooperatives, nicht auf Vergeltung zielendes Verhalten fahndet, ist bestechend. Tatsächlich gelingt ihm in einer Reihe von Beispielen eine neue Lesart altbekannter Gerichtsfälle. Nur leider schließt er von der Rhetorik der Besonnenheit der Gerichtsredner, hinter der sich gewiss eine zentrale Werthaltung der Athener verbirgt, zu unmittelbar auf reales Verhalten. Der Kontext, in dem die Aussagen gerade der Gerichtsredner gemacht werden, bleibt vielfach unberücksichtigt. Was die Lektüre zudem mühselig macht, ist das häufige Abschweifen in theoretische Erörterungen und sein weites Ausholen von Parallelbeispielen aus aller Welt und aus den unterschiedlichsten Zeiträumen, ohne dass der argumentative Nährwert ersichtlich ist.

Sein Konzept von der Fehdegesellschaft ist nicht aus der Analyse antiker Befunde, beispielsweise der homerischen Epen, abgeleitet, sondern stellt ein a priori gesetztes Modell dar, das als Kontrastfolie zu seinem Bild von der kooperativen politischen Kultur der Athener fungiert. Herman denkt nicht wirklich historisch, sondern in Kategorien anthropologischer Konstanten. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es mehr um das Erzeugen politischer Vorbilder als um historische Analyse geht. So anregend die Thesen von Herman im Einzelfall sein mögen, folgen mag man seiner Einschätzung kaum.

Anmerkung:
1 Vgl. etwa Mary Blundell, Helping Friends and Harming Enemies, Cambridge 1989; David Cohen, Law, Violence and Community in Classical Athens, Cambridge 1995.

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