Titel
Anno Neun. 1809-2009. Kritische Studien und Essays


Herausgeber
Reinalter, Helmut
Erschienen
Innsbruck 2009: StudienVerlag
Anzahl Seiten
508 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claus Oberhauser, Privatinstitut für Ideengeschichte, Innsbruck

Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes setzen sich kritisch mit der Geschichte Tirols auseinander. Die Grenzen der Regionalgeschichte werden dabei insofern überschritten, als der strukturgeschichtliche Ansatz des Bandes es zulässt, dass regionale Begebenheiten in größere Zusammenhänge eingebettet werden können. Des Weiteren sind die Beiträge in die von Max Weber für eine Analyse der Gesellschaft vorgeschlagenen Bereiche eingeteilt: Wirtschaft, Soziales, Politik, Kultur/Religion. Der Sammelband gliedert sich in drei Abschnitte: Geschichte und Tradition, Gegenwarts- und Zukunftsperspektiven, Kritischer Blick von außen. Während im ersten Teil die Historiker zu Wort kommen, wird in den beiden anderen Teilen viel Wert auf Interdisziplinarität gelegt.

Das Jahr 1809 entspricht für die Tiroler etwa dem Jahr 1789 für die Franzosen. So platt und stereotypisierend dieser Satz klingt, steckt doch viel Wahrheit darin. Der Tiroler Volksheld Andreas Hofer ist in Tirol bis heute omnipräsent und Bezugspunkt der historischen Entwicklung. Der Herausgeber des Sammelbandes hebt in der Einleitung hervor, dass vor allem die ältere Historiographie zur Mythenbildung in Bezug auf die Ereignisse 1809 beigetragen hat. Man muss von einem verzerrten, unkritischen Geschichtsbild sprechen. Der Sammelband soll das bis jetzt vorherrschende Hoferbild entmythisieren und dekonstruieren. In einem zweiten Schritt wird auf die konservative Tradition der Tiroler Entwicklung Bezug genommen. Die Gegenaufklärung war im Land sehr stark und so halten sich in Tirol bis heute überkommene Stereotype und religiöse Fundamentalgesinnungen. Im ersten Aufsatz des Bandes setzt sich Helmut Reinalter mit der Aufklärung in Tirol auseinander und stellt fest, dass es vor allem in Innsbruck bürgerliche Vereine sowie Geheimbünde gegeben hat, welche sich gegen die parochialen Strukturen wandten. Des Weiteren liefert der Herausgeber zwei Beiträge über den Einfluss des spanischen Unabhängigkeitskriegs auf den Tiroler Aufstand und über die Geschichte der Demokratie in Tirol. Der Krieg in Spanien wurde bewusst instrumentalisiert, um den durchaus geplanten Aufstand in Tirol anzufachen.

Da es in Tirol eine derart starke Gegenaufklärung gab, hinkte das Land nach der Meinung Helmut Reinalters in Bezug auf die Demokratieentwicklung hinterher. Der Aufsatz des Politikwissenschaftlers Günter Pallaver bestätigt diesen Befund, indem er darauf aufmerksam macht, dass sich erst vor sehr kurzer Zeit das Parteienspektrum in Tirol und Südtirol erweitert hat. Die Dominanz der „katholischen“ Parteien spiegelt sich aber immer noch wider.

Sehr interessante Beiträge im Hinblick auf die Entmythisierung liefern Andreas Oberhofer und Laurence Cole. Der Erstgenannte ist der Experte in Bezug auf Andreas Hofer. Der Historiker stellt fest, dass Hofer aufgrund seiner Sozialisation und Bildung konservativ und „ein Tiroler des ausgehenden 18. Jahrhunderts“ (S. 107) war. Zur Ikone wurde Hofer, obwohl er sicherlich eine charismatische Persönlichkeit gewesen sein muss, erst nach seinem Tod. Genau hier setzt der Beitrag von Cole an, der sich damit auseinander setzt, wie der Andreas-Hofer-Mythos bewusst von der Obrigkeit instrumentalisiert und gesteuert wurde. Vor allem im Kulturkampf und zu Beginn des 20. Jahrhunderts (100-Jahr-Feierlichkeiten 1909) wurde Andreas Hofer zum Symbol der gesamten Tiroler Geschichte. Werner Köflers und Annette Merklins Beiträge sind Überblicksdarstellungen, die zwar für das Verständnis wichtig sind, aber hier nicht weiter besprochen werden können.

Zu Beginn des zweiten Teiles des Sammelbandes steht die wirtschaftliche Entwicklung Tirols im Vordergrund. Hierbei wird auch die aktuelle Situation nicht außer Acht gelassen. Christian Smekal stellt in seinem Beitrag fest, dass sich Tirol erst sehr spät durch den Tourismus zu einem „Wirtschaftswunderland“ (S. 158) entwickelt hat. Sehr interessante Ergebnisse liefert der Aufsatz von Thomas Böhler und Clemens Sedmak: Die Autoren machen darauf aufmerksam, dass in Tirol einige Menschen armutsgefährdet sind. Viele der Personen würden sich aber sozial stigmatisiert fühlen und geben ihre Armut nicht zu. Einige dürften Sozialhilfe in Anspruch nehmen, machen das aber nicht, da sie befürchten, als Sozialschmarotzer abgestempelt zu werden.

Auch die Gender-Perspektive wird im Sammelband berücksichtigt: Alexandra Weiss schreibt darüber, wie Frauen jahrelang in Tirol nichts zu sagen hatten und etwa in Bezug auf Abtreibungen bis heute nicht allein über ihren Körper bestimmen können. Bemerkenswert im negativen Sinne ist das Pochen des jetzigen Tiroler Landtagspräsidenten Herwig von Staa auf die Präambel der Tiroler Landesverfassung, in welcher das Patriarchat hochgehalten wird. Die Aufsätze von Bernd Wachter und Nikolaus Dimmel befassen sich mit dem Sozialwesen und der Migration.

Sigbert Riccabona berichtet über den Natur- und Umweltschutz und leitet mit seinem Beitrag den politischen Bereich des Bandes ein. Anton Hütter beschäftigt sich in seinem Aufsatz mit Mediation und stellt fest, dass eben diese in einer multikulturalistischen Welt durchaus ein Mittel ist, um Konflikte zu beseitigen. Andreas Brugger schreibt über die Agrargemeinschaften, welche sich gesetzwidrig Gemeindegut einverleibt haben: Leider ist dieser ansonsten instruktive Beitrag parteipolitisch gefärbt und lässt in Hinsicht auf die Objektivität zu wünschen übrig. Medien und Politik stehen zwar in einem ambivalenten Verhältnis zueinander, bedingen sich aber auch gegenseitig. Mit diesem kontroversen Thema setzt sich Claus Reitan auseinander und gibt einen Überblick über die Tiroler Medienlandschaft. Die Geschichte, welche natürlich auch durch die Medien vermittelt wird, stelle kein Problem dar, wohl aber der „Missbrauch der Mythen“ (S. 372) rund um Andreas Hofer.

Der Bereich Kultur im vorliegenden Band umfasst Beiträge zu Kunst, Bildung und Religion. Die Tiroler Kunstszene hat sich in letzter Zeit stark entwickelt, auch wenn Milena Meller feststellen muss, dass moderne Kunst in Tirol immer noch auf Unverständnis stößt. Martin Franzmair hebt in seinem Aufsatz hervor, dass die Architektur in Tirol auf dem Weg in die Postmoderne ist. Helmwart Hierdeis, Bernhard Rathmayr und Hans Jörg Walter setzen sich mit der Bildung auseinander: Auffällig ist, dass die Tiroler Bildungseinrichtungen stark von der Gegenaufklärung bestimmt worden sind und deshalb Innovationen oftmals nicht zugelassen wurden. Hierdeis bringt es auf den Punkt: „[I]n kaum einem anderen Land wird über Aufklärung so geschwiegen und werden Reformversuche in Staat, Gesellschaft und Schule so leicht als ,aufklärerisch‘ diskriminiert und zurückgewiesen wie in Österreich und speziell in Tirol.“ (S. 423) Dass der Konservativismus auch vor der Universität nicht Halt macht, passt ins Bild: Die Tiroler Universität war jahrelang von Jesuiten und ihren Grundsätzen bestimmt worden.

Helmut Alexander betrachtet die Kirche in Tirol als sozialmoralisches Milieu. Seine Hauptthese ist, dass die Kirche durchaus als Antithese zur Moderne in Tirol zu deuten ist. Der vor der Fertigstellung des Sammelbandes verstorbene Soziologe Hermann Denz stellt fest, dass es in Tirol ein starkes religiöses Bewusstsein gäbe, jedoch habe sich mittlerweile eine aufgeklärte Kritikfähigkeit durchgesetzt. Dass dies mit zweihundertjähriger Verspätung passierte, sei darauf zurückzuführen, dass das Jahr 1809 als identitätstiftendes kommemoratives Ereignis gesehen wurde und wird.

Im letzten Teil des Sammelbandes schreiben Sieglinde Katharina Rosenberger und Franz Hackl als „Auslandstiroler“ über Katholizismus, Islam und Säkularisierung bzw. über die Mythenbildung in Bezug auf 1809. Beide sprechen von der neuen multikulturellen Welt, welche in Tirol auf Gegensätze prallt, aber durchaus auch integriert wird und integriert werden muss.

Zusammenfassend ist über den Sammelband zu sagen, dass er zur Entmythisierung eines durch die Tradition aufgeladenen historischen Gegenstandes beiträgt. Die Interdisziplinarität des Bandes verhilft Historikern dazu, die Scheuklappen abzulegen. Leider lassen sich einige Fehler formaler Natur in den Aufsätzen finden, dies mindert aber die inhaltliche Qualität der Beiträge nicht. Festgehalten muss werden, dass die Aufklärung in Tirol fehlgeschlagen ist und sich bis heute nicht durchgesetzt hat, auch wenn der Konservativismus langsam, aber sicher an seine Grenzen stößt.

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