T. Neu u.a. (Hrsg.): Zelebrieren und Verhandeln

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Titel
Zelebrieren und Verhandeln. Zur Praxis ständischer Institutionen im frühneuzeitlichen Europa


Herausgeber
Neu, Tim; Sikora, Michael; Weller, Thomas
Reihe
Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 27
Erschienen
Münster 2009: Rhema Verlag
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 30,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Birgit Näther, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit kommunikativen politischen Akten symbolischer Art ist innerhalb der neuen Kulturgeschichte ein etablierter und viel beachteter Forschungszweig. Jede neue Publikation zu diesem Thema steht mithin vor der schwierigen Aufgabe, ihre Relevanz innerhalb eines Forschungsfelds aufzeigen zu müssen, das durch grundlegende theoriebildende Werke und eine Vielzahl von Fallstudien bereits recht gut beleuchtet ist.

Um es vorweg zu nehmen: Dem vorliegenden Sammelband gelingt die Behauptung in diesem Feld aufgrund eines gut durchdachten Gesamtkonzepts. Die Herausgeber, Autorinnen und Autoren nämlich zeigen ein theorie- sowie ein empiriebezogenes Problemfeld des Forschungszweigs auf und verbinden beides, um das Ergebnis für die weitere wissenschaftliche Beschäftigung nutzbar zu machen. So erläutern die Herausgeber zunächst in ihrer differenzierten Einführung, dass die im Kontext politikhistorischer Arbeiten teilweise dichotom vorgenommene Verwendung von 'Verhandlung' und 'Zeremoniell' ein begrifflich-analytisches Grundkonstrukt bildet, das zu Fehlschlüssen leitet. Tatsächlich stützen die Fallstudien diese Annahme, belegen sie doch die enge Verzahnung oder Deckungsgleichheit der „symbolisch-expressiven“ und „technisch-instrumentellen“ (S. 37) Seite politischer Verfahren. Über eine Analyse des Zusammenspiels beider Verfahrensaspekte soll das Vorstellungs- und Verständnisspektrum von Politik erweitert werden. Um dies zu erreichen, präsentiert der Sammelband eine breite empirische Basis, die nicht nur, wie bisher oft der Fall, aus Beispielen ständischer Versammlungen des Alten Reichs gebildet wird: Acht von insgesamt zwölf Fallstudien widmen sich Ländern wie England, Kastilien, Niederösterreich und Ungarn sowie den Niederlanden, Polen oder der Schweiz. So steht am Ende der Lektüre eine verbreiterte Kenntnis ständischer Praktiken im europäischen Vergleich und eine erweiterte Vorstellung von Politik und der mit ihr verbundenen analytischen Begriffe. Im Folgenden werden drei Beiträge näher vorgestellt, die in Qualität und Auswahl der Fallbeispiele repräsentativ für das Gesamtbild der Publikation stehen.

Gabriele Haug-Moritz legt mit ihrer vergleichenden Analyse des Reichstags, schmalkaldischer Bundes- und ernestinischer Land- und Ausschusstage in den 1530er-Jahren den theoretisch, empirisch und perspektivisch überzeugendsten Artikel des Sammelbands vor. Die Autorin entscheidet sich für einen Vergleich, der synchron und institutionenübergreifend ist, da so die „Praktiken in einen Verweisungszusammenhang gestellt [werden], der demjenigen vieler zeitgenössischer politischer Akteure entsprach“ (S. 38). In begrifflich wie sachlich überaus differenzierter Art greift Haug-Moritz alle Grundüberlegungen der Herausgeber auf, prüft diese anhand der von ihr gewählten, theoretisch fundiert verorteten Beispiele, bietet Verbindungslinien zu anderen Beiträgen des Bands und zeigt Forschungsperspektiven auf. Einen besonderen Hinweis verdient die institutionentheoretische Einbettung der Beispiele, die Relevanz über den engeren Kontext des Vergleichs hinaus hat. Der Artikel überzeugt ferner durch seine Vielschichtigkeit, Genauigkeit und Argumentationsdichte sowie die Einbettung in übergeordnete Sachzusammenhänge.

Der Beitrag von Andreas Würgler über die politischen Funktionen und symbolischen Bedeutungen der eidgenössischen Tagsatzung fällt aus dem Themenkontext des Sammelbands heraus: Gleich zu Beginn stellt Würgler unumwunden fest, der Tagsatzung fehlten „die klassischen Stände“, sie sei vielmehr „eine repräsentative Versammlung von dreizehn selbständigen Kantonen bzw. souveränen Republiken“ (S. 91). So stellt sich die Frage, welchen Beitrag das Beispiel der Tagsatzung im Sammelband leisten kann. Würglers Antwort hierauf ist argumentativ sehr überzeugend: Das Herausarbeiten der Gemeinsamkeiten von Tagsatzung und ständischen Versammlungen kann seiner Einschätzung nach das analytische Spektrum der Institutionenforschung erweitern. So verdeutlicht Würgler durch seine anhand der Quellentermini 'Reden' und 'Mehren' vorgenommene Analyse von Verfahren, Arrangements, Verhaltensweisen und Symboliken der Tagsatzung, dass deren kommunikative und resultatbezogene Funktionen denen ständischer Versammlungen ähnlich waren. Er greift die These der Herausgeber bestätigend auf: Eine Beurteilung der Effizienz politischer Verfahren anhand ihrer Resultate erscheint auch im Fall der Tagsatzung obsolet, da dies nicht zu einer angemessenen Beurteilung im Kontext des zeitgenössischen Verständnisses von Symbol- und Verfahrenssprache führe. Auch werde dies der Vielschichtigkeit der Funktionen politischer Kommunikationsakte nicht gerecht, da langwierige 'resultatlose' Verfahren intendiert ergebnislos und damit höchst funktional sein konnten.

Einen vielschichtigen Zugang zum Oberthema wählt Arno Strohmeyer. Anhand von Huldigungsverhandlungen in Österreich unter der Enns sowie Krönungsverhandlungen im königlichen Ungarn erläutert Strohmeyer die Rolle von Erinnern und Vergessen bei der Konstruktion von Herrschaftsordnung im 16. und 17. Jahrhundert. Seine Beispiele zeigen, dass Stände und Monarchen Erinnern und Vergessen bewusst einsetzten, um vergangene Verfahren zu rekonstruieren und Argumente für die interessengeleitete Ausgestaltung gegenwärtiger und zukünftiger politischer Verfahren zu erhalten: Die Positionen beider Seiten im Machtgefüge wurden in (Vor-)Verhandlungen abgeglichen und in die Symbolsprache der Verfahren 'übersetzt'. Die symbolische Ausgestaltung gab so die Herrschaftsordnung nicht nur wieder, sondern wurde ein zentraler 'Austragungsort' der Bestimmung von Machtpositionen. Strohmeyers sorgfältig ausgewertete Fallbeispiele liefern somit einen weiteren Beleg dafür, dass symbolische und instrumentelle Aspekte von Verfahren nicht getrennt betrachtet werden können. Auf ein Problem des Beitrags soll allerdings hingewiesen werden: Der theoretische Kern des Konzepts von Erinnern und Vergessen hätte in seinen sachlichen Facetten und begrifflichen Implikationen exakter umrissen werden müssen. So stellt der Autor keinen erläuternden Bezug zu seinem theoretischen Konzept beider Gedächtnisformen her, wenn er von Vergessen schreibt, wo er unterlassenes Erinnern darstellt – obwohl deutlich wird, dass Vergessen das Gegenteil des Erinnerns, unterlassene Erinnerung aber deren bewusste Negation ist. Diese begrifflich-theoretische Unschärfe beeinträchtigt weder die Genauigkeit in der Darstellung noch den Wert des Beitrags für den Gesamtband, lässt aber leider die interessante theoretische Konzeption etwas verblassen.

Um Mängel im Gesamtkonzept des Bands festzustellen, muss man kleinlich sein: Man könnte sich stören an vom Fallbeispiel abgelösten Erläuterungen des Oberthemas in einigen Artikeln, die aufgrund der differenzierten Einleitung nicht notwendig sind. Auch wäre eine gesonderte Darstellung der Tagungsdiskussionen von Wert gewesen. Diese Marginalia aber bleiben ohne Bedeutung für die hohe informative und wissenschaftliche Qualität des Sammelbands, der dank seiner hervorragenden Konzeption sowie sorgfältig ausgewählter und ausgewerteter Fallbeispiele einen wertvollen Beitrag zum Diskurs innerhalb des Forschungsfelds leisten kann.

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