Titel
Kriegshysteriker. Strategische Bilder und mediale Techniken militärpsychiatrischen Wissens (1914 - 1920)


Autor(en)
Köhne, Julia Barbara
Reihe
Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 106
Erschienen
Anzahl Seiten
344 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Susanne Michl, Ernst-Moritz-Arndt Universität Greifswald

In der Geschichtsschreibung des Ersten Weltkriegs hat das Phänomen der „Kriegshysterie“ in den letzten Jahren große Aufmerksamkeit auf sich gezogen.1 Die zitternden, zuckenden und sich verrenkenden Soldatenkörper schienen auf eigentümliche Weise die Schrecken des Kriegserlebnisses zu reproduzieren. Bereits Zeitgenossen sahen in ihnen den Inbegriff der Traumatisierung infolge eines hoch technologisierten Massenkriegs. Zudem stellten die motorisch Erkrankten massiv militärische Ordnungs- und Männlichkeitsvorstellungen in Frage. Der militärpsychiatrische Umgang mit diesen so genannten „Kriegszitterern“ ist mittlerweile in der Medizin- und neueren Militärgeschichte ein bereits gut erforschtes Untersuchungsfeld. In ihrer kulturwissenschaftlichen Dissertationsschrift wählt Julia Barbara Köhne nun einen neuen Zugriff auf das Thema. Sie untersucht, wie sich die „Wissensfigur des Kriegshysterikers“ (S. 13) in den unterschiedlichen Medien von Patientenakten, Fotografie und Film konstituiert hat. Köhne fragt danach, wie strategische Bilder der Kriegshysteriker hergestellt und eingesetzt wurden, wie sie funktionierten und schließlich auch, welche Übersetzungs- und Repräsentationsleistungen Militärpsychiater erbrachten.

Dem Hauptteil ist ein kürzeres Kapitel vorangestellt, in dem Köhne auf die Verknüpfung der Bilder des Kriegshysterikers mit Bildern des Massenhaften und Epidemischen in militärpsychiatrischen Schriften aufmerksam macht. In Anlehnung an die massenpsychologischen Thesen Gustave Le Bons wurden die Kriegshysteriker als diffuse, weiblich kodierte Masse imaginiert, welche die Ordnung der militärisch geordneten Abläufe bedrohte. Militärpsychiater übersetzten diese „Massengestalt“ (S. 58) in den unterschiedlichen Medientechniken, die ihnen zur Verfügung standen – Schrift (Patientenakten), Fotografie und Film, denen im Hauptteil jeweils ein Kapitel gewidmet ist.

In den vergangenen Jahren haben sich Patientenakten zu einer anerkannten Quellengattung von Medizinhistorikerin entwickelt. Wenn mittlerweile computergestützte Auswertungsmethoden für ganze Jahrgänge konzipiert wurden, so entscheidet sich Köhne für eine mehr qualitative, textanalytische Auswertung. So zitiert sie ausführlich aus sieben Akten unterschiedlicher Heilanstalten der Jahre 1914 bis 1929. Die von ihr untersuchten Patientenakten zeichnen sich sowohl durch eine hohe Formalisierung als auch durch ein hohes narratives ärztliches Gestaltungspotenzial aus. Da die Akten zumeist durch die Hände mehrerer Ärzte gegangen sind, kennzeichnet sie zudem eine hohe Intertextualität, kommentierten und korrigierten die behandelnden Ärzte doch immer die Angaben ihrer Vorgänger. So erweisen sich die Patientenakten als eine aussagekräftige Quelle, um den Wandel von Kriegs- zu Nachkriegszeit in der Konstituierung der Wissensfigur „Kriegshysteriker“ zu beschreiben. Köhne kann hier zeigen, dass zu Beginn des Krieges noch Uneinheitlichkeit und Uneinigkeit bezüglich der Deutung dieser Krankheitsbilder vorherrschten, wohingegen in der Nachkriegszeit der Krieg als Krankheitsauslöser immer mehr in den Hintergrund trat zugunsten einer Betonung der degenerierten und primitiven Veranlagung der Kriegsneurotiker sowie deren angeblicher Rentensucht. Dieser Befund ist nicht besonders neu. Die Entwicklung der deutschen Kriegspsychiatrie hat bereits der Historiker Paul Lerner in seiner profunden Arbeit herausgearbeitet.2

Im zweiten Teil untersucht Köhne Fotografien, die in zwölf neurologisch-psychiatrischen Fachzeitschriften abgedruckt waren. Die Fotos standen also nicht für sich allein, sondern waren in einen Textzusammenhang eingebunden. Köhne zeigt, wie die Fotografie von Kriegshysterikern in eine bereits bekannte Bildsprache − diejenige der Fotos weiblicher Erkrankten in der Salpêtrière von Jean-Martin Charcot − zu setzen sind. Dennoch unterscheiden sich die Bilder männlicher, militärischer Erkrankter von denjenigen der weiblichen, zivilen Formen. Bei Letzteren wurden die hysterischen Anfälle mit einer gewissen Theatralik, einer ausgiebigen Darstellung des „Abnormen“ dargestellt, demgegenüber zeichnete sich die Darstellungen der Kriegshysteriker durch eine nüchterne Sachlichkeit, einer „ästhetischen Kargheit“ (S. 177) aus. Zugleich montierten die Militärärzte die Bilder in einer Vorher-Nachher-Sequenz, sodass neben den Symptomen auch der geheilte Soldat zu sehen war, was bei Hysterikerinnen nicht vorkam. Köhne führt dies auf ein „Dogma der unbedingten Heilung“ (S. 300) zurück. Durch die Gegenüberstellung von kranken und geheilten Soldaten sollten die Fotos den Nachweis erbringen, dass die Kriegshysterie in allen Fällen, ausnahmslos heilbar sei.

Dieser Vorher-Nachher-Effekt wurde bei den filmischen Möglichkeiten weiter ausgebaut. Köhne untersucht hier vier wissenschaftliche Filme, die während der Kriegszeit gedreht wurden. Die ersten zwei Filme stammen von zwei deutschen Psychiatern, Ferdinand Kehrer und Max Nonne. Mit den beiden anderen Filmen von A.F. Hurst und J.L.M. Symns sowie Clovis Vincent kommen nun auch die Militärpsychiatrien Englands und Frankreichs in den Blick, ohne dass jedoch dezidiert vergleichend gearbeitet wird.

Die Abfolge verschiedener bewegter Bilder bot zusätzliche gestalterische Möglichkeiten, die unbedingte Heilbarkeit der Kriegshysterie in Szene zu setzen. Vom bewegten Symptom zum stillgelegten Körper, der Film drehte das Symptom ab, so die Formulierung Köhnes (S. 240). Die Militärpsychiater inszenierten in diesen „Heilungswundern“ (S. 241) auch ihre eigene gleichsam magische Therapiemacht. Auch hier bestätigen die neueren Forschungen zu den Kriegstraumata diesen Befund: Speziell die Suggestionstherapie, darunter die Hypnose, wie im Film von Max Nonne dargestellt, feierten die deutschen Ärzte bei ausbleibendem, militärischem Erfolg umso euphorischer als einen Sieg über die Hysterie, die als unmännlich und unmilitärisch galt.

Zwei Exkurskapitel schließen die Untersuchung ab. Zunächst zeigt Köhne anhand einer britischen Reality-TV-Serie „The Trench“ von 2002, dass Fantasien einer unbedingten Heilung der psychischen Traumatisierungen immer noch aktuell sind. In dieser Serie spielen und fühlen junge Männer die Schützengrabenkämpfe eines Bataillons nach. Trotz der zeitlichen Distanz lassen sich hier Parallelen zu den militärpsychiatrischen Filmen ziehen. Es geht um ein massenmedial eingesetztes und inszeniertes Heilungsversprechen, das die britische Erinnerungskultur auch noch über 80 Jahre nach dem traumatisierenden Ereignis auszeichnet.

Der zweite Exkurs schließt zeitlich näher an den Untersuchungszeitraum an, überführt die Thematik aber aus einem militärischen in einen zivilen Bereich. In den 1920er-Jahren vertrieb die Firma Felma für den Hausgebrauch einen Hochfrequenzstrom-Apparat, welcher bei Bestreichen bestimmter Körperteile die Linderung hysterischer Leiden versprach. Die Ästhetik und die angeblich suggestive Wirkungsweise reproduzierten das Heilungsversprechen, legten es aber fortan in die Hände der Hysteriker selbst, die nun für die Bändigung der diffusen und hartnäckigen hysterischen Symptome verantwortlich waren.

Köhnes medienanalytischer Ansatz bringt es mit sich, dass die Produzenten der Wissensfigur „Kriegshysteriker“ in den Hintergrund treten. Dabei handelt es sich hier doch mehrheitlich um eine klar umrissene Gruppe an Militärpsychiatern wie auch Zivilärzten, die ganz spezifische wissenschaftliche und professionelle Interessen vertraten. Und auch wenn die Untersuchung des Apparates der Firma Felma aus den 1920er-Jahren und der Zeitsprung in das Jahr 2002 mit der Reality-TV-Serie durchaus etwas für sich haben, so sind doch sowohl Akteure als auch Interessen hier ganz anders gelagert und bedürften zumal in einer diachronen Vergleichsperspektive, die Köhne explizit einnimmt (S. 250), einer genaueren Einordnung. Auch beim Wechsel von deutschen zu britischen und französischen Quellen wäre es hilfreich gewesen, Genaueres über die Spezifika der jeweiligen Militärpsychiatrien zu erfahren.3 Trotzdem bietet der Blick auf die mediale Konstruktion und Konstituierung des Kriegshysterikers viel Neues und Interessantes. Die Studie besticht vor allem durch genaue Bildanalysen und medienanalytische Überlegungen zu Formen und Grenzen der Darstellbarkeit im Medium von Schrift, Fotografie und Film. Überzeugend wird dargelegt, wie lohnenswert das Heranziehen der Quellengattung Bild für historische Analysen sein kann.

Anmerkungen:
1 Siehe beispielsweise Paul Lerner, Hysterical Men. War, Psychiatry and the Politics of Trauma in Germany, 1890-1930, Ithaca 2003; Hans-Georg Hofer, Nervenschwäche und Krieg. Modernitätskritik und Krisenbewältigung in der österreichischen Psychiatrie (1880-1920), Wien 2004.
2 Lerner, Hysterical Men.
3 In vergleichender Perspektive siehe Marc Micale / Paul Lerner (Hrsg.), Traumatic Pasts. History, Psychiatry, and Trauma in the Modern Age, 1870-1930, Cambridge 2001.