H.L. Gates, Jr. u.a.: Lincoln on Race and Slavery

Titel
Lincoln on Race & Slavery.


Autor(en)
Gates, jr., Henry Louis; Yacovone, Donald
Erschienen
Anzahl Seiten
416 S.
Preis
€ 21,04
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Nagler, Historisches Institut, Universität Jena

Zum zweihundertsten Geburtstag von Abraham Lincoln ist eine Vielzahl neuer Untersuchungen vorgelegt worden, die den Bürgerkriegspräsidenten und dessen historischen Kontext erneut auszuloten versuchen. Vieles davon ist dabei eher dem hagiographischen Lager zuzuordnen. Keiner anderen historischen Persönlichkeit der amerikanischen Geschichte ist bislang so viel publizistische Aufmerksamkeit zuteil geworden wie dieser, die seit ihrer Ermordung am Karfreitag 1865 geradezu den Status eines Nationalheiligen zugesprochen bekam. Zunächst wurde Lincolns Rolle als Einiger der Nation in den Vordergrund gerückt, nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch zunehmend diejenige des „großen Emanzipators“, der das Schicksal und die Befreiung von vier Millionen versklavten Afroamerikaner/innen in die Hand nahm.1 Von einigen Historikern sogar als Vorläufer der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung interpretiert, fehlte es zugleich auch nicht an kritischen Stimmen aus dem Lager radikalerer Gruppierungen, die in ihm lediglich einen weißen Präsidenten sahen, der sich eben nicht um die Rassengleichstellung verdient gemacht habe 2. Zweifellos hat die Frage nach Lincolns Haltung zur Sklaverei und insbesondere zur Rassenfrage generell im Kontext seines Bicentennials die größte und kontroverseste Aufmerksamkeit erlangt.3 So hat James Oakes differenziert von einem „strategischen Rassismus“ gesprochen, den Lincoln politisch geschickt eingesetzt habe, um seine Ziele in einer von virulentem Rassismus gezeichneten Nation überhaupt verfolgen zu können.4 Wie Lincoln indessen wirklich über das Verhältnis zwischen Schwarz und Weiß dachte, muss letztlich Spekulation bleiben. Glaubte er tatsächlich, dass die für Teile der Weißen bittere Pille der Sklavenbefreiung und damit schließlich auch die gesellschaftliche Integration der Befreiten durch den Zucker der anheimgestellten „Rekolonisierung“, also deren freiwilliger Rückführung nach Afrika, in die Karibik oder Lateinamerika, besser zu schlucken sein würde? Oder würde der Rekolonisierungsgedanke den vorhandenen Rassismus noch stärken, statt ihn abzumildern? Gleichwohl glaubte Lincoln, dass ein harmonisches Zusammenleben von Schwarz und Weiß nach erfolgter Emanzipation aufgrund der fast 250jährigen traumatischen Sklavereierfahrung im Land (und auch im Norden) ohnehin nicht möglich sei.

Der renommierte Direktor des „W.E.B. Du Bois Institute for African and African American Research“ an der Harvard University, Henry Louis Gates, Jr., hat nun mit seiner Zusammenstellung von insgesamt siebzig Lincoln-Texten und deren Kommentierungen zu diesem Themenbereich in Zusammenarbeit mit dem profilierten Bürgerkriegsspezialisten, Donald Yacovone, einen weiteren Beitrag geleistet. Es ist kein Zufall, dass Gates sein Werk dem amerikanischen Doyen der komparativ und transnational angelegten Historiographie zu Rassenbeziehungen und Rassismus im 19. Jahrhundert, George F. Frederickson, gewidmet hat. Dieser hatte bereits 1975 in einem bahnbrechenden Aufsatz die äußerst komplexe Beziehung Lincolns zur Rassenfrage facettenreich herausgearbeitet; sein kurz vor seinem Tod 2008 veröffentlichtes Werk nimmt diese Fragestellungen wieder auf.5 Dieser schmale aber bedeutende Band ist aus Fredericksons W. E. B. Du Bois-Vorlesungen an der Harvard University hervorgegangen, deren Gastgeber Gates war.

Die Idee zu dem vorliegenden Band ist – wie Gates selbst betont – aus dem PBS-Filmprojekt: „Looking for Lincoln“ entstanden, in dem er die Funktion des Erzählers übernahm und ferner die Aufgabe, Historiker/innen über deren Lincolnbild zu interviewen. Im Zentrum dieser Befragungen stand immer wieder auch die Frage nach Lincolns Haltung zur Sklaverei und zu den Rassenbeziehungen, die von zum Beispiel David Blight, Allen Guelzo, James Horten und Doris Kearns Goodwin sehr differenziert beantwortet wird. Diese Themenstränge übernimmt Gates in “Lincoln on Race & Slavery“. Er beginnt mit einem fast 50seitigen Essay über drei Hauptkomplexe: Lincolns Einstellung(en) zur Sklaverei, seine Haltung zu den Rassenbeziehungen und den Gedanken der oben erwähnten Rekolonisierung, um eine nuancierte Kontextualisierung zur besseren historischen Verortung Lincolns zu gewährleisten. Hier merkt man jedoch sogleich, dass Gates nicht unbedingt in der Historiographie zur Vorbürgerkriegszeit zu Hause ist. Längst gesicherte Erkenntnisse, wie z.B. der Umstand, dass Gegner der Sklaverei mitnichten zugleich Befürworter der Rassengleichheit sein mussten, erstaunen Gates offenbar, obwohl dies spätestens seit Eric Foners bahnbrechenden Arbeiten zur Ideologie der Republikanischen Partei hinreichend herausgearbeitet worden ist. Ferner betont er, dass Lincolns dokumentierte Ablehnung, ja seine Abscheu der Sklaverei gegenüber primär ökonomisch motiviert war (S. xxx), obgleich David Blight auf Gates Frage dazu im Film eine differenziertere Antwort gibt, die eben durchaus die ethisch-moralische Dimension von Lincolns Ablehnung der Sklaverei verdeutlicht und durch Quellen auch dokumentierbar ist. Gates betont zu Recht, dass wir bei Lincoln sehr genau auf die sich stetig ändernden Sichtweisen in Bezug auf das Problem der Sklaverei und die Zukunft der Rassenbeziehungen achten müssen. Der Lincoln der 1830er-Jahre unterscheidet sich erheblich vom Lincoln der Jahre nach 1854, in denen dieser erstmals radikalere Töne gegen die Expansion des Sklavereisystems anschlug, und dann wiederum vom Bürgerkriegspräsidenten, als die Eigendynamik dieses mörderischen Verschleißkrieges ihn die Emanzipationserklärung verabschieden ließ, die den Beginn der endgültigen Abschaffung der Sklaverei einleitete.

Die vorgestellten Texte – in Auszügen oder in Gänze – folgen der historischen Chronologie, und Gates’ Kommentierungen können hierbei Entwicklungslinien als ein wichtiges Element in Lincolns Denken zu den Fragen der Sklaverei, Rassenbeziehungen und Rekolonisierung transparent machen. Des Öfteren allerdings nimmt Gates Lincoln in seinen Analysen und Verortungen zu wörtlich und unterschätzt dessen feinfühliges politisches Gespür, sein Talent für das richtige timing, in einem bestimmten Kontext bestimmte Formulierungen zu benutzen. Schon Lincolns zeitgenössische Gegner haben sich von ihm auf diese Weise hinters Licht führen lassen. Das bekannteste Beispiel hierfür ist der offene und salomonisch gehaltene Brief Lincolns an Horace Greeley, den progressiven Herausgeber der einflussreichen „New York Tribune“, vom 22. August 1862. Greeley hatte Lincoln zuvor in seinem Leitartikel “Ein Gebet von zwanzig Millionen“, womit die Nordstaatenbevölkerung gemeint war, aufgefordert, sich endlich konsequent für die umgehende Freilassung der Sklaven einzusetzen und sich nicht länger von den Sklaven haltenden Grenzstaaten beeinflussen zu lassen, da nur so die Union zu retten sei. Die Erwiderung des Präsidenten sprach geschickt sämtliche unterschiedlichen politischen Strömungen in den Nordstaaten an: den moderaten und konservativen Hauptflügel seiner Republikanischen Partei, die den Krieg um die Einheit der Union weiter führen wollten, und die radikalen Republikaner, die die Abschaffung der Sklaverei als Kriegsziel definierten.6 Es ist symptomatisch für Gates, dass er in seinen erläuternden Kommentaren zu diesem berühmten Brief Lincolns lediglich die Passage heraushebt, in der dieser betont, dass er die Union auch aufrecht erhalten würde, ohne dabei einen einzigen Sklaven zu befreien. Also sei es Lincoln als konservativem Politiker, so Gates, primär um den Erhalt der Union gegangen, und erst sekundär um die Emanzipation. Sieht man jedoch die weiteren Ausführungen Lincolns genauer an, so wird erkennbar, dass versteckt noch eine andere Botschaft hindurchscheint: Die „Union, wie sie war“, existierte nicht mehr, und es war Illusion, ihr nachzutrauern. Je länger der Krieg andauerte, desto gravierender würden die Veränderungen sein. Im Kern dieser Wandlung aber stand eine Nation, die in Zukunft das Prinzip der Freiheit im Sinne der Unabhängigkeitserklärung verkörpern würde. Lincoln stellte klar, dass er alles unternehmen werde, die Union wiederherzustellen, auch wenn dies die Abschaffung der Sklaverei bedeutete. Gates erwähnt nicht, dass Greeley Lincoln durch seinen offenen Brief ungewollt ein Forum verschaffte, um die Bevölkerung auf veränderte Umstände vorzubereiten. Er begriff dies erst später; wie er in seinen Erinnerungen schrieb, hatte Lincoln seine Zeitung benutzt, um den „Puls der Öffentlichkeit“ zu testen und ihn dabei als einen „dienstfertigen Naseweis“ erscheinen zu lassen. Wenige Wochen später verkündete Lincoln dann seine vorläufige Emanzipationsproklamation, die er zur Zeit seines Briefes an Greeley schon in der Schublade gehabt hatte. Gates entgeht bei der Analyse dieses zentralen Textes, wie offenbar auch bei anderen Beispielen, dass Lincoln als Politiker im Sinne Max Webers eben ein Verantwortungsethiker und kein Gesinnungsethiker war. Dies war in der Tat seine Grundhaltung im politischen Denken: nicht das moralisierende und damit emotionale Element dürfe das Handeln eines Politikers bestimmen, sondern nur die sachliche, klar abwiegende Vernunft.

Gates begeht in seinen Kommentierungen immer wieder den Grundfehler, dass er Lincoln allzu wörtlich interpretiert und sich durch sein a priori moralisch aufgeladenes Verständnis von Lincoln und dem Zeitgeist die eigentliche Sicht auf komplexe historische Sachverhalte versperrt. Sicherlich evozieren einige Kommentare Lincolns zu den Rassenbeziehungen bei heutigen Lesern gelinde gesagt Unbehagen, wenn nicht sogar Abscheu. Gleichwohl propagierte er keine weiße Vorherrschaftsideologie wie viele seiner Zeitgenossen. Er war sich der Macht und Langlebigkeit von Rassismus bewusst, ebenso wie dessen dumpfer Verführungskraft und daraus resultierender Verstrickungen, die er selbst zum Teil verspürte. Auch war er sich über seine eigenen Vorurteile im klaren und, wie W.E.B. Du Bois schon betont hatte, konnte sie im Laufe seines Lebens teilweise in einem erstaunlichen Maße überwinden. Dies haben gerade die auf einem hohen historiographischem Niveau argumentierenden Lincoln-Biographen der letzten Jahre zu Tage gefördert, die Gates in seinen Kommentierungen indes kaum zur Kenntnis nimmt.

Auch bei der so wichtigen Frage nach Lincolns Haltung zur Rekrutierung und dem Einsatz afroamerikanischer Soldaten vernachlässigt Gates die bislang erbrachten historiographischen Erkenntnisse. Es hat sich in der diesbezüglichen Forschung der Konsens herausgebildet, dass Afroamerikaner durch ihre seit Beginn des Krieges gestellte Forderung, in die Unionsarmee eintreten zu können, selbst eine Dynamik geschaffen hatten, die dann ab 1863 in die Revolutionierung des Krieges einmündete, als fast 200.000 von ihnen zu den Waffen griffen. Lincoln hat dies sehr viel früher erkannt und akzeptiert, als Gates bereit ist zu konzedieren. Gates wartet eher mit einer unhistorischen Theorie auf, in der er unterstellt, Lincoln habe den Entschluss zur Bewaffnung von Afroamerikanern erst durch die Lektüre von Charles Livermores Werk über schwarze Truppen in der Amerikanischen Revolution gefasst (S. 270). Mit dieser Theorie wertet Gates gleichsam auch den in der Forschung akzeptierten Grundkonsens ab, dass Afroamerikaner hier selbst das Movens der Geschichte waren.7 Gates sieht jedoch in der Lektüre dieses Buches, das Lincoln angeblich über den radikalen Senator Charles Sumner erhalten hatte, “die“ eigentliche Kehrtwendung Lincolns in Bezug auf den Einsatz afroamerikanischer Truppen begründet. Selbst wenn diese nicht belegbare Sumner/Livermore-Anekdote zuträfe, so deuten die eigentlichen historischen Umstände und die quellenmäßig belegbare langsam gewachsene Erkenntnis und Akzeptanz bei Lincoln in dieser Frage in eine andere Richtung. Fest steht allerdings, dass Lincoln beim Verfassen der endgültigen Emanzipationsproklamation – also im November/Dezember 1862 – das Livermore-Buch gelesen hatte. Es hatte gleichwohl sicherlich nicht „den“ entscheidenden Impetus gezeitigt, sondern war einer von vielen Faktoren, die Lincoln schließlich dazu bewogen haben, den Einsatz von afroamerikanischen Soldaten in der Unionsarmee zu beschließen. Sein Meinungsbildungsprozess zu diesem wichtigen Schritt hatte bereits Monate zuvor begonnen.

Die Komplexität der historischen Umstände und die oft enigmatisch verbleibende Vielschichtigkeit der Persönlichkeit Lincolns, des privaten wie des öffentlichen, die Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten in Bezug auf dessen Haltung zu den Rassenbeziehungen – all dies, was zuvor George Frederickson so glänzend herausgearbeitet hatte, wirkt bei Gates’ Darstellungen eher eindimensional. Auch schenkt Gates generell dem Kongress und dessen relevanten Gesetzesinitiativen in Bezug auf die Sklaverei und den Einsatz von schwarzen Truppen zu wenig Beachtung; ebenso dessen unzweifelhaftem Impetus auf Lincoln in dieser Hinsicht.

Die grundsätzlichen Analysedefizite in diesem Werk legen es nahe, die Empfehlung auszusprechen, die Antworten zu Lincolns Verhältnis zu Sklaverei und Rassenbeziehungen eher bei Historikern/innen wie z. B. David Blight, George Frederickson, James Horten, Phillip Shaw Paludan, James Oakes und Barbara Fields zu suchen.

Anmerkungen:
1 Siehe Barry Schwartz, Collective Memory and History: How Abraham Lincoln Became a Symbol of Racial Equality, in: The Sociological Quarterly 38, 2 (1997), S. 469–96.
2 Siehe dazu Lerone Bennett Jr., Forced into Glory: Abraham Lincoln's White Dream, Chicago 2000. Bennett hatte schon 1968 einen Artikel in Ebony mit dem Titel ''Was Abe Lincoln a White Supremacist?'' veröffentlicht.
3 Siehe zum Beispiel, Brian R. Dirck (Hrsg.), Lincoln Emancipated: The President and the Politics of Race. DeKalb 2007; James Oakes, The Radical and the Republican: Frederick Douglass, Abraham Lincoln, and the Triumph of Antislavery Politics. New York 2007; Jörg Nagler, Abraham Lincoln's Attitudes on Slavery and Race, in: Lincoln's Legacy: Nation Building, Democracy, and the Question of Civil Rights and Race, American Studies Journal 53 (2009). <http://asjournal.zusas.uni-halle.de/164.htm> (24.03.2010); Phillip Shaw Paludan, Lincoln and Negro Slavery: I Haven't Got Time for the Pain, in: Journal of the Abraham Lincoln Association 27, 2 (2006), S. 1-23; ders., Lincoln and Negro Slavery: I Haven't Got Time for the Pain, in: Journal of the Abraham Lincoln Association 27, 2 (2006), S. 1-23.
4 Siehe Oakes, The Radical and the Republican, S. 119.
5George F. Frederickson, A Man but not a Brother: Abraham Lincoln and Racial Equality, in: The Journal of Southern History 41 (1975), S. 39-58; ders., ‘Big Enough to Be Inconsistent’: Abraham Lincoln Confronts Slavery and Race, Cambridge, 2008. Das Zitat aus dem Buchtitel stammt von Du Bois und war als abschließender Kommentar zu Lincolns Person und Leistung gemeint.
6 Der übersetzte Lincoln-Brief findet sich in Jörg Nagler, Abraham Lincoln. Amerikas großer Präsident, München 2009, S. 320-321.
7 Siehe zum Beispiel Ira Berlin, Who freed the Slaves? Emancipation and its Meaning, in: David W. Blight / Brooks D. Simpson (Hrsg.), Union and Emancipation: Essays on Politics and Race in the Civil War Era, Kent 1997, S. 105-121.

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