A. Ashirova: Stalinismus und Stalin-Kult in Zentralasien

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Titel
Stalinismus und Stalin-Kult in Zentralasien. Turkmenistan 1924-1953


Autor(en)
Ashirova, Aygul
Reihe
Soviet and Post-Soviet Politics and Society 89
Erschienen
Stuttgart 2009: Ibidem Verlag
Anzahl Seiten
400 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Moritz Florin, Historisches Seminar, Universität Hamburg

In ihrer Dissertation über Stalinismus und Stalinkult in Turkmenistan stellt Aygul Ashirova zwei wichtige und spannende Fragen: Welche Besonderheiten wies der Stalinkult an der Peripherie der Sowjetunion auf? Und: Wie verband sich in den Jahren 1924-1953 die zentralasiatische kulturelle Tradition mit der Politik Stalins? Im Falle Turkmenistans sind diese Fragen besonders interessant, da die Langzeitwirkung des Personenkultes hier besonders offensichtlich ist. Nach dem Zerfall der UdSSR entstand in Turkmenistan die – laut der US-amerikanischen Organisation Freedom House – repressivste Diktatur im postsowjetischen Raum. Dabei wurde um den Diktator Saparmurat Nijasow, genannt „Turkmenbaschi“, ein Personenkult betrieben, der sich in vielen Punkten recht deutlich an den Stalinkult anlehnte. Der Kult um „Turkmenbaschi“ ist dabei laut Ashirova nur ein Beispiel dafür, dass sich die zentralasiatischen Eliten noch immer von dem reichhaltigen Repertoire an „Symbolen, Texten und Ritualen aus der Stalinzeit“ leiten lassen (S. 25).

Ashirova beschränkt sich in ihrer Arbeit jedoch nicht auf eine Analyse des Personenkultes, vielmehr bietet ihr Buch einen Überblick über die wesentlichen Ereignisse und Entwicklungen der Geschichte Zentralasiens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In ihrer klar gegliederten Arbeit folgen auf eine Diskussion der Begriffe Stalinismus und Stalinkult eine Analyse des Aufstands von 1916, der Teilung Zentralasiens in einzelne Unionsrepubliken im Jahre 1924, der Zwangsansiedlung, der so genannten Boden-Wasser-Reform und nicht zuletzt der Exzesse des Stalinismus. Ausführlich geht Ashirova auf die erzwungene Emanzipation der Frauen, die Zwangskollektivierung, den Aufstand 1931 in Turkmenistan, die Hungersnot der Jahre 1932/33, den Terror und die Entstehung der Lager ein. Nicht nur die Exzesse sondern auch die erzwungene Modernisierung und den sozialen Wandel beschreibt Ashirova: Der Bildungsexpansion, der forcierten Industrialisierung und der Urbanisierung widmet sie jeweils einen eigenen Abschnitt.

Laut Ashirova war – angesichts der gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen – insgesamt der Stalinkult „die wichtigste Stütze des politischen Systems der Sowjetunion“ (S. 313). Zwar übertreibt Ashirova hiermit dessen Bedeutung im Verhältnis zu Repression und Ideologie, gleichwohl ist die analytische Verbindung von Stalinkult und zentralasiatischer Tradition der interessanteste Teil der Arbeit. So bezieht Ashirova in ihre Darstellung sowohl Quellen aus den Moskauer Archiven als auch Veröffentlichungen der Presse, Erinnerungen, Memoiren und Briefe mit ein. Anhand der Huldigungen an Stalin belegt sie, wie zentralasiatische und sowjetische Symbole und Formen eine Verbindung eingingen, wie der Kult aber gleichzeitig Wertvorstellungen und Traditionen immer wieder durchbrach. So wurde beispielsweise das Konterfei Stalins als Motiv für traditionell geknüpfte Teppiche verwendet, obwohl Darstellungen von Personen in der islamischen Kunst traditionell verboten sind. Die Teppichknüpfer/innen sahen darin aber laut Ashirova keinen Widerspruch, empfanden es vielmehr als Ehre, Stalin zu porträtieren (S. 282-283). Der Stalinkult wurde der Bevölkerung Zentralasiens also nicht nur von oben aufgezwungen sondern durch unzählige „Stalin-Gläubige“ weiterentwickelt.

Obwohl in diesen Passagen der Arbeit anklingt, dass Stalinismus und Stalinkult nicht allein durch Repression und Zwang erklärt werden können, interpretiert Ashirova die Hybridisierungstendenzen als Ergebnis allein der brutalen kolonialen Repression durch „Russland“ bzw. Stalin. Bereits eingangs stellt sie fest, dass der Sowjetkolonialismus sich vom zarischen Kolonialismus lediglich in seinen taktischen Maßnahmen, nicht aber in der Sache und im Ziel unterschieden habe. Die Ideologie, so Ashirova, habe lediglich dem „traditionellen imperialistischen Instinkt Russlands“ gedient (S. 56). Abgesehen davon, dass hier wie auch an anderen Stellen ein gewisses Ressentiment der Autorin gegenüber Russland anklingt, wird in dem Zitat ihr Verständnis des Stalinismus in Zentralasien besonders deutlich: Ashirova zufolge handelte es sich dabei um eine besonders brutale und terroristische Form des Kolonialismus. Die Zentralasiaten sieht sie überwiegend als Opfer der „russischen“ bzw. stalinistischen Politik und nur sehr selten als Akteure.

In mancherlei Hinsicht hat diese Perspektive ihre Berechtigung. So ist es sicher richtig, dass sich der stalinistische Terror in Zentralasien gegen Menschen richtete, denen es mehrheitlich zunächst gleichgültig war, ob sich hinter Diskriminierung und Gewalt der Zar oder Lenin, Stalin und die Bolschewiki verbargen. Ashirova stellt fest, dass zum Zeitpunkt der russischen Revolution die Mehrheit der Turkmenen nichts über die Grundlagen des Kommunismus wusste (S. 88). Aus der Perspektive der Zentralasiaten waren es demzufolge immer noch „die Russen“ oder auch „die Europäer“, die ihnen eine Veränderung ihrer Lebensweise aufzwangen.

Dennoch ist das von Ashirova damit gezeichnete Bild zu vereinfachend. Zu Recht weist Leonid Luks in seinem Vorwort darauf hin, dass auch transkaukasische, ukrainische und russische Eliten ähnliche Verluste zu beklagen hatten wie die Zentralasiaten (S. 22). Zudem kann Ashirova mit ihrem Modell nicht die Komplexität des Stalinismus an der Peripherie der Sowjetunion erklären. Die Tatsache, dass auch Turkmenen und Turkmeninnen zu Akteuren wurden, sich von der Aufbruchsstimmung anstecken ließen und an den Exzessen des Stalinismus beteiligten, sieht sie als alleiniges Resultat von Stalins Manipulation und Kontrolle. An dieser Stelle hätte sich die stärkere Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der wegweisenden Arbeit Adrienne Lynn Edgars gelohnt, in der diese versucht, auch den indigenen Anteil an der Entstehung einer turkmenischen Nation in den 1920er-Jahren zu würdigen.1 Ashirovas Modell verstellt den Blick für diejenigen Turkmenen und Turkmeninnen, die sich phasenweise voller Begeisterung für „Modernisierung“ und „Befreiung“ einsetzten, die Sowjetisierung also nicht nur als Unterdrückung sondern auch als große Chance wahrnahmen.2

Ashirova trifft in ihrer Arbeit eine einseitige Literaturauswahl. In ihrem Literaturverzeichnis fehlt ein Großteil der englischsprachigen Forschung; stattdessen zitiert Ashirova ausgiebig aus den Werken Baymirza Hayits und lässt sich dabei von dessen Idealisierung der vorkolonialen Geschichte Zentralasiens und des „nationalen Freiheitskampfes“ der Basmatschi anstecken. So geht Ashirova davon aus, dass sich bereits vor der Sowjetisierung in Zentralasien ein starkes Nationalbewusstsein entwickelt habe, das auch Grundlage des Befreiungskampfes der Basmatschi gewesen sei. Hier hätte es sich angeboten, den Nationenbegriff – beispielsweise in Anlehnung an die Arbeiten Adeeb Khalids über die Entwicklung eines „modernen“ Nationenverständnisses in Zentralasien 3 – stärker zu problematisieren. So bleibt bei Ashirova unklar, worin das zentralasiatische „Nationalbewusstsein“ in der Zeit bis zur russischen Revolution eigentlich bestand und in welchem Verhältnis traditionelle tribale Identitäten zu modernen „imaginierten“ Gemeinschaften standen. Die Vielschichtigkeit des Prozesses der Nationenwerdung in Zentralasien – wie sie beispielsweise Adrienne Lynn Edgar, Francine Hirsch oder Terry Martin herausgearbeitet haben – reduziert Ashirova auf die Formel des „divide et impera“ als alleinige Strategie der Zaren und Bolschewiki.

Aygul Ashirovas Anliegen ist es, mit ihrer Arbeit einen Beitrag zur Aufarbeitung des Stalinismus an der sowjetischen Peripherie zu leisten. Sie hat zahlreiche Archivquellen zutage gefördert, anhand derer sie eine detaillierte Darstellung der Gewalt, der Manipulation, Repression und Kontrolle liefert. Besonders interessant sind die Abschnitte, in denen sie aufzeigt, wie tiefgreifend auch in Zentralasien der Kult um Stalin wirkte und wie er sich mit zentralasiatischen Traditionen verband. Leider wiederholt Ashirova in ihrer Arbeit oft Forschungsthesen, die entweder bereits bekannt sind, oder durch die neuere insbesondere englischsprachige Forschung problematisiert und überholt wurden. In ihrer Darstellung präsentiert sie die Zentralasiaten in erster Linie als Opfer der „russischen Kolonialherren“ und fügt der langen Liste der Verbrechen des Stalinismus zahlreiche weitere Punkte hinzu. Dabei überbetont sie jedoch die Kontinuität zwischen zarischer und bolschewistischer Politik und übersieht das komplexe Verhältnis zwischen modernen und traditionalen Aspekten der Umwälzungen in Turkmenistan. Für die Aufarbeitung des Stalinismus in Zentralasien ist ihre Arbeit deshalb ein wichtiger Anstoß, aber sicher nicht das letzte Wort.

Anmerkungen:
1 Adrienne Lynn Edgar, Tribal Nation. The Making of Soviet Turkmenistan, Princeton 2004.
2 Siehe hierzu auch die Arbeiten von Marianne Kamp, insbesondere: Marianne Kamp, The New Woman in Uzbekistan. Islam, Modernity, and Unveiling under Communism, Seattle 2006.
3 Adeeb Khalid, The Politics of Muslim Cultural reform. Jadidism in Central Asia, Berkeley 1998.

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