J. Wackernagel: Lectures on syntax

Titel
Lectures on syntax. With special reference to Greek, Latin, and Germanic; hrsg. v. David Langslow


Autor(en)
Wackernagel, Jacob
Erschienen
Anzahl Seiten
XXII, 982 S.
Preis
€ 185,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Habermehl, Die griechischen christlichen Schriftsteller, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

Jacob Wackernagel (1853-1938) war die Philologie in die Wiege gelegt. Sein Vater, der Germanist Wilhelm Wackernagel, war ein Schüler Lachmanns; Jacobs Taufpate war kein geringerer als einer der Gebrüder Grimm, der greise Jacob Grimm. Zu seinen Lehrern am Basler ‚Pädagogium‘ zählten der Germanist Moritz Heyne, der Historiker Jacob Burckhardt und Friedrich Nietzsche. Nach dem Studium in Basel, Göttingen und Leipzig folgte die Promotion in Basel. In Basel begann auch Wackernagels akademischer cursus honorum. 1879 (mit 26 Jahren) folgte er Nietzsche auf den gräzistischen Lehrstuhl. Ab 1902 lehrte er ein gutes Jahrzehnt in Göttingen Vergleichende Philologie. 1915 kehrte er nach Basel zurück, wo er sich erst 1936, mit 82 Jahren, vom akademischen Unterricht verabschiedete.

Bei Philologen und Historikern, bei Linguisten und Indogermanisten erfreute (und erfreut) sich Wackernagel einer beispiellosen Autorität. Seine Beiträge zur griechischen Sprache (vor allem Homers), aber auch zur griechischen Wortbildung und Akzentlehre gehören zu den Klassikern des Fachs. „Wackernagels Gesetz“ ist nicht nur Altphilologen ein Begriff.1 Nicht minder bahnbrechend waren seine Studien zum Altiranischen und zum Sanskrit (seine „Altindische Grammatik“ gilt noch heute als Säule der Indologie).

Berühmt über die engeren Zirkel der Fachgelehrten hinaus machten ihn aber vor allem seine „Vorlesungen über Syntax mit besonderer Berücksichtigung von Griechisch, Lateinisch und Deutsch“, die er nur auf Drängen von Schülern publizierte (1920/24). Streng besehen handelt es sich um syntaktische ‚Vorstudien‘, in denen es vor allem um die kleinteiligen Phänomene der Sprache geht wie Wortbildung, Morphologie usw., und nur am Rande um die Satzstruktur, die Syntax per se (sie war einem dritten Zyklus von Vorlesungen vorbehalten, der trotz ungezählter Notizen nie zum ausgearbeiteten Manuskript reifte).

Dies klingt nach trockener Materie. Doch Wackernagel wusste noch dem sprödesten Sujet Leben einzuhauchen. Seine „Vorlesungen“ (deren mündlichen Charakter er bei der Publikation bewusst wahrte) lesen sich über weite Strecken höchst vergnüglich (dank seines feinen Sinns für Humor) – und außerordentlich lehrreich. Dies liegt nicht zuletzt an den klugen Beispielen für die diskutierten Phänomene, die er aus dem unerschöpflichen Fundus eines phänomenalen Gedächtnisses hervorzauberte (sein Lektürepensum umfasste alle erdenklichen Quellen vom vedischen Hymnus bis zum alemannischen Karnevalsgedicht). Sie verbinden eine stupende Gelehrtheit (und eine gesunde Skepsis gegenüber jeder Form von ins Kraut schießender Spekulation) mit einem seltenen Gespür für das organische Wesen der Sprache, für ihre inneren Baugesetze und Verwandtschaften über die Sprachgrenzen hinweg.

Wem an einer Kostprobe gelegen ist, der schlage eingangs die Seiten zum Artikel auf, wo Wackernagel unter anderem geflügelte Worte wie „Knabe sprach“ (Goethe) oder „Meister muß sich immer plagen“ (Schiller) erörtert (S. 21), oder zum Beispiel die erhellenden Listen von singularia tantum bzw. pluralia tantum (S. 119-122), wo göttliche Wesen neben Völkernamen erscheinen, Sternbilder neben Körperteilen und wo Licht fällt auf die markanten Bedeutungsunterschiede zwischen dem Singular bzw. Plural bestimmter Wörter wie der Alp / die Alpen oder Kost und Kosten. Leckerbissen sind auch die Ausführungen zu den Charakteristika von Aktiv und Medium im Griechischen (S. 164-176), zu den vielfältigen Aspekten des Futurs (S. 246-268) oder zu den Negationen, mit Exkursen unter anderem zur indoeuropäischen Mutter aller negierenden Partikel, *nĕ2, oder zu verstärkten (zum Beispiel griechisch hékista, lateinisch minime, deutsch am allerwenigsten) und umschreibenden Negationen (zum Beispiel lateinisch vix, englisch hardly, deutsch schwerlich). Und nicht nur Gräzisten werden den Abschnitt zur Rolle eines „Niemand“ in der Höhle Polyphems goutieren (S. 735f.).

Von ihrer Publikation an galten die „Vorlesungen“ als Klassiker. Selbst ein Wilamowitz zollte ihnen Respekt, als er sie zum Inbegriff einer systematischen Grammatik erklärte.3 Dank diverser Nachdrucke waren sie fast durchgängig bis in die 1980er-Jahre im Buchhandel greifbar. Inzwischen sind sie längst vergriffen; ein antiquarisches Exemplar ist schwieriger aufzutreiben als Karten für den Bayreuther Ring. So ist es von Herzen zu begrüßen, dass dieser Klassiker endlich wieder verfügbar ist.

Und es gibt allen Grund zur Freude. Denn dieser Wackernagel in neuem, englischem Gewand ist schlechterdings grandios. David Langslow hat als Herausgeber und Übersetzer keine Mühe gescheut, dieses anspruchsvolle Werk seinem Rang gemäß zu präsentieren. Die nicht wenigen Druckfehler der Vorlage und die vielfältigen Irrtümer und Versäumnisse beim Nachweis der Zitate wurden von ihm sorgfältig korrigiert; Wackernagels stiefmütterlichen Stellenangaben sind präzise, mit Hinweisen auf maßgebliche moderne Ausgaben aufgelöst. Zudem hat Langslow die ungezählten Zitate aus einem runden Dutzend Sprachen ausnahmslos übersetzt. Damit nicht genug, hat er die zahlreichen Nachträge Wackernagels in dessen (in Basel noch zugänglichen) Handexemplaren und Notizen durchgesehen und jeweils in eckigen Klammern in den Text integriert. Am höchsten anzurechnen ist Langslow das Füllhorn langer Anmerkungen, in denen er von Wackernagel angesprochene Phänomene oder Beispiele aus moderner Sicht ergänzt (mit extensiven Hinweisen auf jüngere Sekundärliteratur), korrigiert oder auch kritisiert – wobei der Text der Anmerkung das Angemerkte mitunter an Länge deutlich übertrifft.4

Man kann Langslow nicht genug loben für seine Verdienste um dieses große Werk. Doch ein Wermutstropfen bleibt – zumindest in unseren Breiten. Denn diese exquisite Edition, die im Übrigen auch Wackernagel begeistert hätte, vertröstet uns Muttersprachler mit einer Übersetzung. Was gäbe man für eine vergleichbare Edition des Originals…

Anmerkungen:
1 Es beschreibt eine Beobachtung Wackernagels zur indogermanischen Wortstellung, der zufolge Klitika (unbetonte Partikel) im Satz meist an die zweite Stelle hinter betonte Wörter rücken.
2 Es lebt fort unter anderem in lateinisch nequeo, französisch ne (pas), deutsch nur, aber auch in Shakespeares nill („nicht wollen“).
3 Ulrich von Wilamowitz-Möllendorff, Erinnerungen 1848-1914, 2. Auflage, Leipzig o.J. [1928], S. 291.
4 Ein gutes Beispiel: S. 244 Anm. 4 zu italischen Imperfektformen.

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