T. Balkelis: Making of Modern Lithuania

Cover
Titel
The Making of Modern Lithuania.


Autor(en)
Balkelis, Tomas
Reihe
Basees/Routledge Series on Russian and East European Studies
Erschienen
London 2009: Routledge
Anzahl Seiten
176 S.
Preis
€ 98,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Richter, Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin

Litauen ist in der angelsächsischen und auch in der deutschen Osteuropaforschung noch immer weitgehend „terra incognita“ – nicht zuletzt wegen der hohen Sprachbarriere. Das ist bedauerlich, bietet doch das oft als so klein wahrgenommene Land insbesondere in der Zeit des späten Russischen Reiches ein gutes Beispiel für eine Region, die sehr unterschiedlichen und oft gegensätzlichen Einflüssen ausgesetzt war – politisch beherrscht vom Zarenreich, kulturell unter Druck gesetzt von Polen, und als Grenzland zum Deutschen Reich und somit als potentielles Kriegsgebiet weitgehend von Modernisierung und Industrialisierung abgeschnitten. Umso größer ist der Verdienst von Tomas Balkelis einzuschätzen, der die umfangreiche litauischsprachige Forschung zum litauischen Nationalismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts der internationalen Forschergemeinde zugänglich macht, aber auch durch eigene Archivrecherchen ergänzt.

Der Titel seiner Monographie, „The Making of Modern Lithuania“, führt den Leser dabei allerdings in die Irre. Passender wäre „The Makers of Modern Lithuania“ gewesen, denn Balkelis beschäftigt sich in erster Linie mit den Protagonisten der litauischen Nationalbewegung, ihren Wurzeln, ihrem sozialen Umfeld und ihrem publizistischen Schaffen. In den Mittelpunkt seiner Studie stellt er hierbei die Fragen nach der Schaffung einer litauischen Öffentlichkeit und der Strahlkraft der Nationalbewegung auf die litauischsprachige Bevölkerung, die zur überwältigenden Mehrheit aus Bauern bestand. Damit wendet sich Balkelis, wie bereits andere Historiker vor ihm, vom Studium des Nationalismus hin zum Studium seiner Agenten. Unter Verweis auf Klassiker der Nationalismusforschung, wie Ernest Gellner, Anthony D. Smith und Benedict Anderson, nutzt Balkelis deren – zugegebenermaßen etwas angestaubten – Begriff der „Intelligenzija“ und möchte zudem der Verbreitung nationalistischer Ideen in der bäuerlichen Bevölkerung nachgehen. Zwar bleibt letzteres Versprechen leider uneingelöst, aber Balkelis schafft es dennoch, den Blick auf einige Aspekte der litauischen Nationalbewegung zu lenken, die bisher vernachlässigt worden sind.

Zunächst beleuchtet der Autor die sozialen und politischen Voraussetzungen, die nach der Abschaffung der Leibeigenschaft im Russischen Reich die Entstehung des Nationalismus in den Nordwestgebieten erst möglich machten. Besondere Aufmerksamkeit widmet er hier den amtlichen Versuchen der „Russifizierung“ der litauischen Bauernschaft, die er als gegen den polnischen Einfluss gerichtet charakterisiert, sowie den Gründen für die vergleichsweise hohe Lese- und Schreibfähigkeit der litauischsprachigen Bevölkerung. Im zweiten Kapitel beschreibt Balkelis die Bildung der ersten Generation litauischer „Patrioten“ und die Konflikte, die ihr Wirken bis zur Schaffung der ersten litauischen Republik 1918 bestimmen sollten. Da es in Litauen seit der Schließung der Wilnaer Universität keine Hochschule mehr gab, formierte sich die litauischsprachige Elite an den Universitäten von Moskau, St. Petersburg und Warschau. Durch ihre Abwesenheit verlor sie jedoch zugleich ihre Bindung zur litauischsprachigen Bevölkerung, deren Interessen sie zu vertreten meinten. Die litauischen Patrioten waren dem Autor zufolge demnach soziale Außenseiter in der litauischsprachigen Gemeinde (S. 12 ff.).

Daran anknüpfend widmet sich Balkelis den Versuchen der litauischen „public men“, sich die städtischen Räume und insbesondere Wilna anzueignen. Obwohl Wilna von der litauischen Elite als „gefährlicher Raum“ (S. 48) angesehen wurde, in dem Litauer nur allzuleicht von der polnischen oder russischen Kultur absorbiert wurden, schaffte es die Stadt, durch kulturelle Programme und kleine wirtschaftliche Erfolge eine urbane litauischsprachige Gesellschaft zu bilden. Auf der anderen Seite schwächte dieser Erfolg wiederum die ohnehin geringe Bindung zur ländlichen Bevölkerung. Daran änderte auch die Russische Revolution von 1905 und 1906, die Balkelis in seinem vierten Kapitel behandelt, zunächst nur wenig. Alle litauischen Parteien wurden von den Ereignissen überrollt, am meisten die Liberalen. Nach der „Großen Litauischen Versammlung“ in Wilna, die einer Welle besonders massiver Gewalt in den ländlichen Regionen Litauens vorausging, war es eine kleine liberale Splitterpartei – die Litauische Bauernpartei (LVS) – die es als einzige Partei neben den Sozialdemokraten schaffte, auf die Unruhen im ländlichen Raum Einfluss zu nehmen (S. 63). Die noch immer schwache Bindung der Elite zum Großteil der Bevölkerung war laut Balkelis neben der repressiven Politik des russischen Staatsapparates der Hauptgrund, weshalb die meisten politischen Gruppierungen in Litauen nach Abklingen der Revolution von einer radikalen zu einer „evolutionären und kulturellen“ (S. 68) Politik übergingen.

Einen bisher wenig studierten Aspekt der Nationalbewegungen beleuchtet Balkelis im interessanten fünften Kapitel zur litauischen „Frauenfrage“. Die Suche nach einer litauischen Identität wurde für die Elite zur Suche nach der richtigen Heiratsstrategie. Mit der standesgemäßen Heirat einer Frau adliger Herkunft ging nicht selten die Assimilation in die polnische Kultur einher. Die Heirat mit einer Frau litauischer, bäuerlicher Herkunft, die von der Elite als Ideal der litauischen Frau angepriesen wurde, führte auf der anderen Seite aufgrund des hohen Bildungsunterschiedes häufig zu einem frühen Scheitern der Ehe (S. 83 f.). Mit Gründung des Litauischen Katholischen Frauenvereins im Jahr 1908 begann die katholische Kirche, die Frauenorganisationen und an Frauen gerichtete Publizistik zu dominieren und die säkulare Elite schrittweise aus diesem Feld zu verdrängen.

Die Vereins- und Organisationsarbeit, die nach dem Scheitern der Revolution von 1905 ins Zentrum der Aktivitäten der Nationalbewegung rückte, ist das Thema des folgenden Kapitels. Die Bindung zur Bauernschaft sollte gestärkt werden, die Bauern gebildet, auf die Herausforderungen der Moderne vorbereitet und mit der litauischen Kultur (wie sie sich die Elite vorstellte) vertraut gemacht werden (S. 98 ff.). Gleichzeitig begann die Elite, ihre eigene Rolle und Kultur kritisch zu beleuchten. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges und den Evakuierungen aus den Kriegsgebieten verlagerte sich das Zentrum des litauischen Nationalismus wiederum nach Russland. In seinem abschließenden Kapitel stellt Balkelis fest, dass es gerade hier, im innerrussischen Exil, der Intelligenzija gelang, den Graben zu breiteren Schichten der litauischen Bauerngesellschaft zu überwinden und sie durch ihre unablässige Agitation und Fürsorgearbeit unter den litauischen Kriegsflüchtlingen deren Respekt erntete und zugleich Nationalisierungsprozesse anstieß (S. 118). Damit greift Balkelis die These von Nick Baron und Peter Gatrell auf, der überforderte russische Staat habe durch Delegation von Verantwortung an die nationalen Eliten während des Ersten Weltkrieges die erfolgreiche Nationalisierung der Flüchtlinge ermöglicht.1

Unvermeidlich ist natürlich, dass das Buch bei seinem relativ schmalen Umfang von gerade einmal 126 Textseiten viele Fragen offen lässt. Balkelis vernachlässigt dabei jedoch einen zentralen Aspekt – einen Akteur, dessen Bedeutung bezüglich der Untersuchung der Strahlkraft des Nationalismus auf die Bevölkerung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann: die katholische Priesterschaft. Balkelis gruppiert die von ihm untersuchten politischen Strömungen um die von ihnen herausgegebenen Zeitungen (insbesondere die liberalen Zeitungen Auszra, Varpas und Vilniaus žinios), deren Einfluss auf die Bevölkerung aufgrund der niedrigen Auflagenzahlen gering war. Dagegen erwähnt er die Aktivisten um die katholische Zeitung Šaltinis nur am Rande, obwohl diese eine deutlich höhere Auflage und eine breitere Leserschaft auch unter der ländlichen Bevölkerung hatte (S. 87). Es ist zwar richtig, dass die Priesterschaft mehr um die Stärkung des Christentums als um den nationalen Gedanken bemüht war, letzten Endes sind aber beide Bemühungen nicht so eindeutig voneinander zu trennen, wie es Balkelis suggeriert, wenn er behauptet dass ab Mitte der 1880er-Jahre „die politische Initiative in die Hände der säkularen Intelligenzija“ überging (S. 28). Die Graswurzelarbeit leistete jedoch weiterhin die Priesterschaft, insbesondere bezüglich der Frage der wirtschaftlichen Emanzipation, die spätestens seit dem Erscheinen der Zeitung Varpas (1889) auch für die säkulare Intelligenzija ins Zentrum der nationalen Frage rückte. Dies wird nicht zuletzt am Beispiel der Konsumkooperativen deutlich, von denen im Gouvernement Kovno die Hälfte von katholischen Priestern geleitet wurde.2 Insbesondere im Hinblick auf die Zeit nach dem Aufstieg der litauischen Christdemokraten sowie der Revolution von 1905/06 können Intelligenzija und Priesterschaft kaum mehr pauschal getrennt werden. Dies war eine Entwicklung, die sich auch im unabhängigen Litauen der Zwischenkriegszeit fortsetzte, was durch die Bekleidung des Amtes des Ministerpräsidenten durch den Nationalisten und Priester Vladas Mironas oder durch Antanas Smetonas Verehrung für den Priester Juozas Tumas-Vaižgantas verdeutlicht wurde.

Bei aller Kritik bleibt zu begrüßen, dass nach den überzeugenden englischsprachigen Studien von Vytautas Petronis3 und Virgil Krapauskas4 zum litauischen Nationalismus nun eine dritte Arbeit zu diesem Thema veröffentlicht wurde. Trotz genannter Beanstandungen ist die Veröffentlichung von Thomas Balkelis der bisher wohl beste Überblick über die Geschichte der litauischen Nationalbewegung und daher jedem, der sich mit der Geschichte Litauens oder mit dem Nationalismus in Ost- und Ostmitteleuropa befasst, unbedingt zu empfehlen – alleine schon aufgrund der Synthese der den meisten Historikern sprachlich unzugänglichen litauischen Forschungsliteratur.

Anmerkungen:
1 Nick Baron / Peter Gatrell, Introduction, in: Nick Baron / Peter Gatrell (Hrsg.), Homeland. War, Population and Statehood in the East-West Borderlands 1918 – 23, London 2004, S. 1-9, hier S. 5.
2 Arvydas Gaidys, Lietuvių Katalikų Draugijų bruožai 1905 – 1907, in: Egidijus Motieka / Rimantas Miknys / Vladas Sirutavičius (Hrsg.), Atgimimas ir Katalikų Bažnyčia, Vilnius 1994, S. 254-317, hier S. 290.
3 Petronis, Vytautas, Constructing Lithuania. Ethnic Mapping in Tsarist Russia, ca. 1800-1914, Stockholm 2007.
4 Virgil Krapauskas, Nationalism and Historiography. The Case of Nineeteenth-Century Lithuanian Historicism, New York 2000.

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