A. Wilhelmi: Lebenswelten von Frauen der deutschen Oberschicht

Titel
Lebenswelten von Frauen der deutschen Oberschicht im Baltikum (1800-1939). Eine Untersuchung anhand von Autobiografien


Autor(en)
Wilhelmi, Anja
Reihe
Veröffentlichungen des Nordost-Instituts 10
Erschienen
Wiesbaden 2008: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
422 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thilo Neidhöfer, Universität Oldenburg

Mit ihrer Studie über die deutschen Frauen der Oberschicht im Baltikum möchte Anja Wilhelmi eine Lücke in der Forschung über die Deutschbalten schließen, welche sich bisher nur einigen wenigen prominenten Vertreterinnen dieser Gruppe gewidmet habe. Wilhelmi will eine Kollektivbiographie dieser Frauen über drei Generationen hinweg erstellen, nicht zuletzt, um die Frauen, „die scheinbar keine Geschichte schrieben“ (S. 11) vor dem Vergessen zu bewahren. Diese überarbeitete Fassung ihrer 2005 an der Universität Hamburg eingereichten Dissertation untersucht die Lebenswelten dieser Frauen von 1800 bis 1939.

Im Zentrum der Untersuchung stehen die „Entschlüsselung von Lebenswelten, Lebensentwürfen und Lebenswegen, Alltagserfahrungen, Wünschen oder Träumen, auch Mentalitäten der Frauen […]“ (S. 11). Der Begriff Lebenswelten wird von Wilhelmi sehr weit gefasst, neben dem „komplexen Austausch zwischen Subjekt und Gesellschaft“ stehe dieser Begriff für „kulturelle Praktiken und soziale Rahmen; [er] symbolisiert internalisiertes Wissen in der Bewältigung des Alltags“ (S. 22). Dieses sehr umfassend klingende Erkenntnisinteresse findet bestimmte Fokussierungen, so werden den Familienkonstruktionen sowie den Geschlechterverhältnissen und Geschlechtskonstruktionen besondere Aufmerksamkeit zuteil.

Nach einem historischen Überblick, welcher die besonderen Bedingungen der deutschen Minderheit in den Ostseeprovinzen des Russischen Reichs und der Staaten Estland und Lettland in den Blick nimmt (Kapitel 2), folgt eine Zusammenfassung der rechtlichen und sozialen Situation der Frauen in der deutschbaltischen Gesellschaft (Kapitel 3). Interessant sind hier insbesondere die Ausführungen zur Stereotypisierung der deutschbaltischen Frauen. Wilhelmi versteht es, diese Muster freizulegen, mit passenden Quellenzitaten zu untermalen und die gesellschaftlich-sozialen Zusammenhänge zu verdeutlichen. Im vierten Kapitel findet die eigentliche Quellenanalyse anhand eines fein gegliederten Rasters statt, anschließend werden die Ergebnisse zusammengefasst (Kapitel 5).

Die Quellenbasis für die Untersuchung bilden 162 teilweise unveröffentlichte autobiographische Schriften von 123 Verfasserinnen, wobei deren Großteil dem Adel und dem Bildungsbürgertum entstammt und der evangelisch-lutherischen Konfession angehört. Die Auswahl der Quellen ergab sich vor allem aus deren Verfügbarkeit, so seien lediglich zwei autobiographische Schriften aus der „deutschbaltischen Unterschicht“ (S. 12) nachweisbar. Eine weitere wesentliche Einschränkung betrifft die Bestimmung der Frauen als Deutschbaltinnen, hier fungierte die Selbstidentifizierung der Autobiographinnen als Abgrenzungskriterium. Außerdem ist die Mehrzahl der Geburtsjahrgänge der Autobiographinnen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verortet.

Um die autobiographischen Schriften nach ihren „weiblichen“ Lebenswelten zu befragen, bedient sich Wilhelmi eines Methoden-Mix aus Gender Studies, Mentalitätsgeschichte und Autobiographieforschung. Der besondere Fokus auf die Geschlechtsidentität, welche ein „wesentliches Element in der Fragestellung nach Lebenswelten“ (S. 13) bilde, hätte allerdings eine intensivere Auseinandersetzung mit den aktuellen Theorien in diesem Feld erfordert.

In der Untersuchung sollen vor allem zeitgenössische Gender-Konstrukte aufgezeigt werden.1 Der mentalitätsgeschichtliche Ansatz bezieht sich vor allem auf den Begriff der Lebenswelten und der Frage nach „gemeinsamen Mentalitäten und Mentalitätsbausteinen deutschbaltischer Frauen“ (S. 21), für welche sich autobiographische Quellen besonders eignen würden. Eben diese Quellen werden zwar in vielerlei Hinsicht problematisiert, doch stößt die Untersuchung durch die Anzahl der Quellen an praktische Grenzen. Ein textkritisches Vorgehen für jede einzelne autobiographische Schrift konnte so nicht gewährleistet werden. Hier ist allerdings die Quellenübersicht im Anhang aufschlussreich, dort werden entsprechende Merkmale der autobiographischen Schriften skizziert (Kapitel 6).

Die eigentliche Untersuchung der autobiographischen Schriften (Kapitel 4) erfolgt anhand eines sehr fein gegliederten Analyserasters, das übergeordnete Interesse bezieht sich hierbei auf „die konkreten Lebensweisen der Frauen. Hier stehen die Rekonstruktion der sozialen Wirklichkeit und die individuelle Wahrnehmung derselben im Vordergrund.“ (S. 124) Angefangen bei der Kindheit bis zum eigenen Haushalt werden bestimmte Lebensphasen der Frauen in chronologischer Reihenfolge bzw. thematisch untergliedert. Gegen Ende der jeweiligen Abschnitte werden die wesentlichen Ergebnisse in prägnanten Zusammenfassungen gesammelt. Bei einer so umfassenden Quellenstudie nimmt die Analyse notwendigerweise zu einem gewissen Teil den Charakter einer quellengestützten Darstellung an. Angesichts der Vielfalt des Materials arbeitet Wilhelmi jedoch mit verhältnismäßig wenigen, dafür aber treffenden Zitaten und verknüpft die herausgearbeiteten Informationen mit entsprechenden gesellschaftlich-sozialen Kontexten und Interpretationen. Dadurch, wie auch durch einen bisweilen erzählenden Schreibstil, werden die Ausführungen insgesamt sehr gut lesbar und verständlich. Stellenweise scheint die Quellensprache ein wenig abgefärbt zu haben.2 Die Untersuchungen bieten interessante Einblicke in die jeweiligen Lebenswelten, und Wilhelmi wird ihrem Anspruch gerecht, unterschiedliche methodische Ansätze zu verbinden. So werden zum Beispiel an verschiedenen Stellen Diskrepanzen zwischen gesellschaftlichem Ideal bzw. Konventionen und (autobiographisch überlieferter) Wirklichkeit freigelegt, und an zahlreichen Beispielen werden die jeweiligen Geschlechterkonstruktionen (zum Beispiel in Erziehung, Spiel, Kleidung, Wahrnehmung der Eltern usw.) demonstriert. Immer wieder auftauchende Motive stellen hier die Abgrenzung von Adel und Bürgertum sowie eben die jeweiligen Vorstellungen und Wahrnehmungen von männlich und weiblich dar. Das Analyseraster scheint insgesamt sehr hilfreich, um die thematisch teilweise komplexen Beziehungsverflechtungen darzulegen, die verschiedenen Generationen werden dabei jedoch nicht durchgehend berücksichtigt.

Der Quellenanalyse folgt eine Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse (Kapitel 5). Hier bündelt Wilhelmi die besonderen Merkmale der verschiedenen Lebensphasen der Frauen und nimmt dabei eine die Generationen übergreifende Perspektive ein. Außerdem werden die jeweiligen Besonderheiten der deutschbaltischen Minderheit über den untersuchten Zeitraum pointiert wie auch die Verbindungen von Identität und Stereotypisierung der Frauen. Die Lebenswelten der deutschbaltischen Frauen hätten sich zwar über ihre Schichtenzugehörigkeit bis 1939 angeglichen, dennoch „kann von ‚der‘ Lebenswelt nicht die Rede sein“ (S. 329). Die gesellschaftliche Hierarchisierung sowie die ökonomischen Ungleichheiten hätten auch die Lebenswelten bestimmt. Aber auch die Bedeutung der gesellschaftlich-politischen Transformationsprozesse und Umbrüche werden betont. Wilhelmi akzentuiert zwar die Spezifika der Deutschbaltinnen, spricht aber schlussfolgernd von einer „verblüffenden Parallelität“ (S. 334) betreffend der Ähnlichkeit der Erfahrungen zu den Frauen aus den deutschen Ländern bzw. dem Deutschen Reich.

Das Vorhaben Anja Wilhelmis, die Lebenswelten dieser Frauen zu entschlüsseln, ist insgesamt gelungen. Diesem recht umfänglichen Anspruch wird durch die Bandbreite der befragten Kategorien sowie der entsprechenden Feingliederung der Untersuchung Rechnung getragen. Die Fokussierung auf autobiographische Schriften scheint dafür geeignet. Angesichts der von Wilhelmi durchaus erkannten Bedeutung des Tagebuchschreibens der insbesondere jüngeren deutschbaltischen Frauen wäre allerdings noch die Auswertung dieser Quellen für die Analyse der Lebenswelten wünschenswert gewesen.

Anmerkungen:
1 Ein aufmerksameres Lektorat hätte hier allerdings einen unbeholfen klingenden und inhaltlich unkorrekten Satz wie: „Der Begriff ‚Gender‘ wurde von Jane [sic!] Butler in ‚Gender trouble‘ 1991 eingeführt“ (S. 20), korrigiert.
2 So etwa auf S. 136: „Auch scheute sie nicht den Kontakt mit den Gutsleuten, mit denen sie manche Abenteuer erlebte.“

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension