Titel
"Wir sind die Stadt!". Kulturelle Netzwerke und die Konstitution städtischer Räume in Leipzig


Autor(en)
Steets, Silke
Erschienen
Frankfurt am Main 2008: Campus Verlag
Anzahl Seiten
289 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Alexa Färber, Institut für Europäische Ethnologie, Humboldt Universität zu Berlin

Leipzig gilt vielen als die eigentliche „kreative Stadt“ im Osten Deutschlands, und dies nicht erst seit dem Herbst 1989. Als Knotenpunkt für Netzwerke von Kreativen hat schon in den 1980er-Jahren die mit der Hochschule für Grafik und Buchkunst einhergehende Kunstszene gegolten. Besonders der Bereich Malerei hat dann auch seit Ende der 1990er-Jahre über den nun bundesdeutschen Kontext hinaus zur Verknüpfung der Stadt mit dem globalen Kunstmarkt geführt. Während dieser Sektor der Kreativwirtschaft, nicht nur in Leipzig, zu den besonders schillernden Segmenten zählt, was sich für die Beteiligten auch in ihren unterschiedlichen Marktchancen ausdrückt, ist in den frühen 1990er-Jahren eine Vielzahl subkultureller, einzelne Kulturbereiche übergreifender Netzwerke entstanden, die die räumlichen Bedingungen der Stadt Leipzig für sich zu nutzen wussten.

Dieser Raumpraxis und ihren Bedingungen widmet sich die (Stadt)Soziologin Silke Steets in ihrer Dissertation, die Ende 2008 unter dem Titel „Wir sind die Stadt“ als zweiter Band der vom Forschungsschwerpunkt „Stadtforschung“ an der Technischen Universität Darmstadt herausgegebenen Reihe „Interdisziplinäre Stadtforschung“ im Campus Verlag erschienen ist. Die Arbeit von Silke Steets setzt diesen Reihentitel in vortrefflicher Weise um, indem sie nicht allein den aktuellen Stand des multidisziplinären Forschungsfelds „Raumtheorien“ darlegt; sie erfüllt darüber hinaus den selbst gestellten Anspruch, anhand der ethnologischen Dichten Beschreibung lokal wirksame kulturelle Bedeutungen zu rekonstruieren und gleichzeitig mit Hilfe der soziologischen Grounded Theory die beobachteten Raumpraktiken und Vergemeinschaftungsformen konzeptionell neu zu fassen. Dass Steets sowohl in den aktuellen Theoriedebatten zu Raum und Stadt (und deren Vorläufern) als auch in der für ihre Forschungsfrage relevanten Methodologie qualitativer Sozialforschung und Kulturanalyse zu Hause ist, zeigt die gleichwertige Gewichtung sowie dichte Verknüpfung von Empirie und Theorie als auch die sprachlich durchgehend klare und unverstellte Darstellung.

Einleitend zeigt Steets die Aktualität der Leipziger Selbst- und Fremddeutungen als dynamische, sub- und hochkulturell verfasste Stadt auf und spannt damit auch den Bogen zur Debatte um die „kreative Stadt“. Die in dieser Debatte effektreich als Motoren für die Stadtentwicklung hervorgehobenen urbanen „Sub- und Off-Kulturen sowie Kunstmilieus“ (S. 17) stellen das ethnografische Zentrum der von Steets zwischen Ende 2001 und 2006 durchgeführten Forschung dar. Ihr Forschungsinteresse gilt dabei der Bedeutung dieser Akteure für die kulturelle Identitätskonstruktion der Stadt Leipzig.

Die (stadt)kultur- und raumtheoretischen Grundlagen für diese Perspektive legt Steets in zwei ebenso kompakten wie fundierten Kapiteln dar (Ökonomie, Kultur und Stadt, S. 23-63; Raum, Ort und Zeit, S. 64-99), die auch als eigenständige Einführungen in spätmoderne Raumtheorien gelten können: Steets skizziert hier marxistische, an Henri Lefebvre anschließende Theorien in der Geographie und Soziologie, die in der postkolonialen Debatte formulierten (Gegen-)Entwürfe und in deren Folge die Konzepte zur Analyse der von Globalisierung durchdrungenen Lokalität (Doreen Massey, Helmuth Berking). Abschließend lehnt sich Steets an die soziologische Raumtheorie von Martina Löw an, um als Ausgangspunkt für ihre empirische Untersuchung zu formulieren: „Ausgehend von der Annahme, dass jede alltagsweltliche Konstitution von Raum in der Wechselwirkung zwischen dem Handeln der Akteure und den ökonomischen, sozialen, kulturellen und physisch-materiellen Rahmenbedingungen dieses Handelns (Struktur) entsteht, gilt die Hauptaufmerksamkeit dem Wie der Konstitution von Raum.“ (S. 100) Im Kapitel Untersuchungsdesign (S. 100-143) zeigt Steets, dass und wie sie ethnografische Erhebungsmethoden und Repräsentationsformen mit einer Theorie bildenden Auswertung verknüpfen kann.

Die anschließenden drei Kapitel sind nun der Fallanalyse „Leipzig“ gewidmet. Hier erarbeitet Steets zunächst die historischen Eckpunkte der Stadtentwicklung wie auch die Entstehung eines Sektors „Kulturwirtschaft“. Als zentrales Motiv von Stadtplanungspolitik und Imagekampagnen seit den 1990er-Jahren schält sich das Motiv des „Dornröschens“ heraus, das Leipzig als „Stadt der schlummernden Potentiale“ plausibel machen will (S. 169). Inwiefern diese (Selbst)Deutung auch für die Milieus relevant ist, die Steets teilnehmend in ihrem Alltag beobachtet hat und deren Entstehung sie anhand von Interviews und Medienanalyse rekonstruiert, zeigt sie in zwei Fallstudien, denen jeweils ein Kapitel gewidmet ist.

Unter der Überschrift „Öffentliches Wohnzimmer: Neues zur Situation der Couchecke“ (S. 182-211) vollzieht Steets in einer materialreichen Beschreibung die Herausbildung eines kulturellen Netzwerkes nach, das bereits in den frühen 1990er-Jahren zu einem beachtlichen Teil aus westdeutschen Zugezogenen besteht: viele der jungen Akteur/innen, die Silke Steets in ihrer Untersuchung befragt und beobachtet, waren aus den alten Bundesländern nach Leipzig gezogen. Eine spezifische Akteurskonstellation, die der historischen Umbruchsituation geschuldet war und derjenigen im Ostteil Berlins ähnelte. Diese Ortsspezifik beruhte darüber hinaus auf der besonderen räumlichen Situation oder besser: Raumnutzung, das heißt den vielen Leerständen an Wohn- und Gewerberaum wie auch industriellen Brachen. Umfunktioniert in (temporäre) Kneipen und Clubs, bespielt mit nichtkommerziellen Musik- und Kulturveranstaltungen, entstehen hier die Orte, die Steets als „öffentliche Wohnzimmer“ bezeichnet: „Sie tragen Kennzeichen des Öffentlichen, weil sie zweifelsohne Orte des Geld-gegen-Waren-Tausches sind, weil sie theoretisch allen zugänglich sind und weil sie Orte der gestenreichen, nämlich lässig-ironischen Aufführung eines Stils oder Geschmacks sind, die eine relativ unverbindliche Kommunikation und Gruppenbildung (etwa beim Besuch eines Konzerts) ermöglichen.“ (S. 202) Privatheit vermittelt sich an diesen Orten jedoch gleichzeitig über eine zwar ironisierte Familiarität und Intimität, die es dennoch erlaubt, dass dort „Seelenfreundschaften kultiviert werden und sich Persönlichkeiten verwirklichen und ausprobieren können.“ (ebd.)

Diese detailliert beschriebene und im Anhang anhand von sechs Netzwerkkartierungen nachvollziehbar visualisierte Vergemeinschaftungsform weist im „Spannungsfeld zwischen materieller Umwelt (verfallende Gründersubstanz), sozialen Praktiken (Szenevergemeinschaftung) und Wahrnehmungsformen (Stadt als Möglichkeitsraum) ... trotz des Systemwechsels und ökonomischen Umbruchs eine erstaunliche Persistenz des Lokalen“ auf (S. 211).

Die zweite Fallstudie (S. 212-245) beschäftigt sich anhand einer ebenso markanten wie umstrittenen Immobilie, dem in den 1960er-Jahren im Zentrum Leipzigs erbauten Wohn- und Geschäftsgebäude „Brühl-Ensemble“, mit einer im Vergleich „urbanistischeren“ Praxis des reflexiven Aufgreifens und Umdeutens gebauter Umwelt: Das Puppentheater „Philemon und Baucis und die Faust AG“, das im Dezember 2003 an dem vom Abriss bedrohten Gebäudekomplex uraufgeführt wurde, ist ein Beispiel für eine Praxis der „künstlerisch-aktivistischen Interventionen“ (S. 223), die in translokale diskursive und auf Netzwerken beruhenden Arbeitszusammenhänge eingewoben ist. In der detaillierten Rekonstruktion dieser Intervention und ihrer Effekte wird diese Praxis als kulturelle Verdichtung innerhalb des Diskursraums „performative Architektur“ erkennbar, der in diesem Fall von der „Situationistischen Internationale“ bis hin zur Architekturzeitschrift „arch+“ reicht. Sie ist gleichzeitig aber in dem Sinne ortsspezifisch, als sie es mit konkreten Konflikten um Immobilien aufnimmt (und deshalb lokale Akteur/innen einbezieht) und sich darüber hinaus an der Deutung dessen beteiligt, was als Ostdeutsches, in der Stadt erfahrbares bauliches Erbe gelten darf. Konflikte um Immobilien, die Privatisierung des DDR-Staatseigentums, partizipative Instrumente wie „Städtebau-Workshops“, Abrissszenarien – all dies sind Elemente, die dem aus Architektur- und Kunstgruppierungen und anderen Aktivist/innen bestehenden Netzwerk „Stadt als geeignetes Aktionsfeld“ erscheinen lassen (S. 226). Steets schließt daraus, dass neue Raumnutzungen von den popkulturellen Akteur/innen, Künstler/innen und Architekten/innen in „Räumen des Dazwischen“ erprobt werden (S.246-257). Mit dem eingangs dargelegten raumtheoretischen Zugriff liest sich dieses Ergebnis wie folgt: „Über spezielle Platzierungspraktiken (…) schaffen sie (An)Ordnungen, durch welche diese vernachlässigten Resträume – auch für Außenstehende – zu identifizierbaren Orten werden.“ (S. 253) Der Zwischenraum gilt Steets deshalb als ein „experimenteller Schutzraum“ (ebd.).

Silke Steets rekonstruiert in ihrer Ethnografie nicht allein eine (Vor)Geschichte der heute als viel versprechende Kreativwirtschaft wahrgenommenen Kulturproduktion in Leipzig. Städtischer Raum stellt sich in der kulturellen Logik der darin involvierten Akteur/innen als „nutzungsoffener Raum“ dar, „der kreative Formen der Aneignung zulässt, an dem man die ‚richtigen Leute’ trifft und der neuartige Formen der Kulturproduktion erlaubt“ (S. 189). Ob der von Steets gewagt bildhafte Begriff der „wohnzimmertypischen Vergemeinschaftungsform“ anschlussfähig sein wird, muss sich zeigen. Im Kontext ihrer Ethnografie vermittelt er jedoch schlüssig, woraus der Kitt für die Konstitution städtischen Raumes in szeneförmigen Zusammenhängen besteht: aus ihrem öffentlich-privaten Charakter, aus translokalen Netzwerken und Diskurszusammenhängen, die den kulturellen Bedeutungshorizont lokaler Raumpraktiken bilden. In der theoretisch hervorragend informierten wie empirisch äußerst reflexiven Arbeit zeigt Steets nicht zuletzt die stadtkulturelle Seite des wissenschaftlichen „spatial turn“, die sich auch in der Aufwertung städtischen Raumes niederschlägt.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension