S. Sensen u.a. (Hrsg.): Die preußischen Kerngebiete in NRW 1609-2009

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Titel
Wir sind Preußen. Die preußischen Kerngebiete in Nordrhein-Westfalen 1609-2009


Herausgeber
Sensen, Stephan u.a.
Erschienen
Anzahl Seiten
264 S.
Preis
€ 19,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Oliver Schulz, Lehrstuhl für Neuere Geschichte, Universität Düsseldorf

Im Jahr 2009 jährte sich zum vierhundertsten Mal die Eingliederung des Herzogtums Kleve und der Grafschaften Mark und Ravensberg in den brandenburgischen Staat. Minden, Moers, Tecklenburg, Lingen und das Oberquartier Geldern wurden später ein Teil Brandenburgs und komplettierten den altpreußischen Streubesitz im Rheinland und in Westfalen, der im allgemeinen Geschichtsbewusstsein in Nordrhein-Westfalen etwas in Vergessenheit geraten zu sein scheint. Nachdem noch 1909 der 300. Jahrestag der Angliederung im Zeichen des Wilhelminismus begangen worden war, haben sich 100 Jahre später fünf Museen zusammengefunden, um sich auf die Suche nach den Spuren Preußens in Nordrhein-Westfalen zu machen und nach deren Bedeutung für die Geschichte dieses Bundeslandes zu fragen.

Der vorliegende Sammelband vereinigt Beiträge, die die verschiedenen Ausstellungen vorstellen und Perspektiven für künftige Forschungen entwickeln. In einem einleitenden Beitrag skizziert Jürgen Kloosterhuis die Geschichte der preußischen Herrschaft im Westen. Er weist zu Recht darauf hin, dass das nach 1945 vorherrschende Preußenbild vielerorts von tagespolitischen Interessen bestimmt gewesen sei, indem man sich als „muss-preußisch“ darstellte und das preußische Erbe der eigenen Region bewusst tilgte. Im Jahr 2009 kann die Geschichte Preußens entspannter untersucht werden. Kloosterhuis skizziert die Einbindung der späteren preußischen Westprovinzen in die großen europäischen Konflikte, die große Integrationsaufgabe, die dem brandenburgisch-preußischen Staat zufiel, und zeichnet das Pendel nach, das zwischen den preußischen Kernprovinzen und dem Besitz im Westen hin und her schlug.

Die Kerngedanken von Jürgen Kloosterhuis werden im Beitrag von Helmut Langhoff und Veit Veltzke wiederaufgenommen und bis zur Auflösung des Staates Preußen nach dem Zweiten Weltkrieg verfolgt. Neben der Erforschung der Frühzeit der brandenburgisch-preußischen Herrschaft im Westen ist an die Impulse aus den Niederlanden und die Rolle des Herzogtums Kleve als Bindeglied zwischen Brandenburg und den reformierten Niederlanden als Themen für künftige Forschungen zu denken. Diese zeigten sich unter anderem in der Gründung der Universität Duisburg, die als Vermittlungsort der niederländischen Geisteswelt konzipiert war. Im 18. Jahrhundert präsentierten sich die preußischen Westprovinzen dann als „Nebenländer, Kriegsschauplätze und Laboratorien der Moderne“ (S. 20). Ihre Bedeutung nahm innerhalb der Monarchie gegenüber den östlichen Provinzen ab, strukturelle Unterschiede zwischen den ostelbischen und westlichen Besitzungen sorgten für Konflikte, beispielsweise bei der Anwendung des Kantonsystems. Der preußische Besitz im Westen des Reiches führte ein Eigenleben, da die Hauptstadt Berlin weit entfernt war und der Siebenjährige Krieg zeigte, dass die Westprovinzen militärisch nicht zu verteidigen waren. Die Entscheidung Friedrichs II., das Akzise- und Zollwesen zu vereinheitlichen, war ein Fehlschlag und führte dazu, dass die Westprovinzen aus dem preußischen Währungssystem ausschieden und zollpolitisch wie Ausland behandelt wurden. Erst im späten 18. Jahrhunderts kam es zu einem Wandel, und der in den Westprovinzen einsetzende wirtschaftliche Aufschwung profitierte von einer veränderten Wirtschaftspolitik und gezielter Gewerbeförderung durch die Berliner Regierung.

Langhoff und Veltzke verweisen auf die Aufklärung und ihre Vertreter in den westlichen Territorien der preußischen Monarchie, beispielsweise in Minden-Ravensberg der Jöllenbecker Pfarrer Johann Moritz Schwager, sowie auf Impulse aus Nachbarterritorien wie Schaumburg-Lippe oder Münster. Reformer aus den Westprovinzen bzw. dort tätige preußische Reformer wie der Freiherr vom Stein am Bergamt in Wetter an der Ruhr trugen dazu bei, dass die preußischen Westprovinzen zu einem „Laboratorium“ der Moderne wurden. Langhoff und Veltzke nennen aber auch die große Integrationsaufgabe, die sich nach der Eingliederung des gesamten Rheinlands und Westfalens 1815 erneut stellte. Betont werden die Rolle, die Westfalen wie Georg von Vincke oder Friedrich Harkort für den Liberalismus spielten, das wirtschaftliche Potential des rheinisch-westfälischen Raumes für den preußischen Gesamtstaat und die mit der Industrialisierung einhergehende soziale Frage. Scheinbar gut bekannte Aspekte wie die konfessionellen Spannungen werden in einem anderen Licht gezeigt, indem nicht nur auf den Konflikt zwischen katholischer Mehrheitskonfession und protestantischer Obrigkeit hingewiesen wird, sondern auch vergessene Konflikte erwähnt werden, etwa die Haltung der rheinischen und westfälischen protestantischen Kirchen zur preußischen Union. Diskussionswürdig erscheint allerdings die Bilanz der beiden Autoren, dass Rheinländer und Westfalen durch die Zugehörigkeit zu Preußen und die preußischen Institutionen in beiden Provinzen auf die spätere Zusammenfassung der sehr unterschiedlichen Regionen im Bundesland Nordrhein-Westfalen „mental vorbereitet“ (S. 84) worden seien. Angesichts des künstlichen Charakters, der dem Bindestrichland Nordrhein-Westfalen bis heute anhaftet, erscheint diese Einschätzung teleologisch.

Die Frage nach der Klammer zwischen dem Westen und der preußischen Monarchie wird auch im Beitrag von Eckhard Trox aufgegriffen, der die Konzeption der Lüdenscheider Ausstellung präsentiert. Die Heterogenität der Grafschaft Mark behinderte nicht nur die Entstehung einer gesamtmärkischen Identität, sondern kann auch angesichts einer fehlenden universitären Anbindung die zahlreichen Fehlstellen in der Forschung erklären. Eine wesentliche Forschungslücke stellt der Adel dar, der die erhebliche Binnendifferenzierung des Territoriums abbildet. Aspekte wie die Rolle adeligen Unternehmertums verweisen allerdings auf Phänomene, die quer zur propreußischen Deutung der älteren nationalen Historiographie liegen. Eine besondere Rolle spielte Friedrich Wilhelm II., der die Grafschaft Mark 1788 besuchte, was sich in der Ausbildung eines „preußischen Patriotismus“ unter den märkischen Untertanen niederschlug. Ein wesentlicher Aspekt der Lüdenscheider Ausstellung betrifft die Erinnerungskultur in der Grafschaft Mark. Neben dem bisher noch nicht untersuchten Jubiläum von 1859 wird auch auf die Feiern im Jahr 1909 eingegangen. Hier habe eine Verschiebung innerhalb der märkischen Gesellschaft stattgefunden, da die Vertreter aus dem märkischen Ruhrgebiet die Mehrheit stellten und dies auch im Denkmal auf der Hohensyburg seinen Ausdruck fand. Ungeachtet des wilhelminischen Zeitgeistes, der dieses Jubiläum prägte, sind vor allem die Impulse hervorzuheben, die insbesondere von der von Aloys Meister herausgegebenen Festschrift für die Landesgeschichte ausgegangen sind. Nachdem unter dem Eindruck der Niederlage des Zweiten Weltkrieges 1959 kein Bestreben vorhanden war, des 350. Jahrestages zu gedenken, ist heute eine sachliche Auseinandersetzung möglich.

Der Beitrag Maria Perreforts wirft anhand von Persönlichkeiten einen Blick auf die Entwicklung der Stadt im 18. Jahrhundert. Genannt werden unter anderem der Architekt Nicolaus Stell, der im Jahr 1734 eine Brandkarte der Stadt Hamm und damit eine wichtige Quelle zur frühneuzeitlichen Stadtgeschichte erstellte, und der preußische General Karl Friedrich von Wolffersdorff als Sinnbild für die Rolle des Militärs in der Stadt. Neben bedeutenden Kirchenvertretern wie Rulemann Friedrich Eylert (1770-1852) wird auch die Verwaltungselite gebührend berücksichtigt wie Heinrich David Reinhard Wiethaus (1768-1854), Bürgermeister von Hamm, Unterpräfekt des Arrondissements Hamm und Landrat des Kreises Hamm, oder Adam Senfft von Pilsach (1747-1830), ebenfalls Landrat und zugleich erster Meister vom Stuhl der 1791 gegründeten Hammer Freimaurerloge. Neben der Rolle der Frauen in der Zeit der Befreiungskriege, wie sie sich im „Frauenverein zur Beförderung des Wohls vaterländischer Krieger“ zeigte, wird mit der Vorstellung von Anschel Hertz (1730-1811), Obervorsteher der märkischen Judenschaft, ein Impuls zur weiteren Erforschung der jüdischen Geschichte im südlichen Westfalen gegeben. Der Beitrag von Stephan Sensen über den Streit um den Wiederaufbau der Burg Altena verweist auf eine ergiebige Fundgrube für die ideen- und mentalitätsgeschichtliche Untersuchung des Spätwilhelminismus. Sensen zeichnet nach, wie der Wiederaufbau der Burg letztendlich ein Baudenkmal zerstörte, das einem als „historistisches Gesamtkunstwerk“ verstandenen Neubau weichen musste. Dieser sollte brandenburgisch-preußischen Patriotismus und Heimatverbundenheit stiften, verhalf aber zugleich der modernen Denkmalpflege in Deutschland zum Durchbruch.

Gerhard Rendas gelegentlich etwas rasche Geschichte der altpreußischen Gebiete im östlichen Westfalen geht nicht nur auf die preußische Herrschaft in der Region und die Erinnerungskultur ein, sondern zeigt an Beispielen wie dem Justizminister Eberhard Friedrich von der Recke auch die Rolle von Persönlichkeiten aus Minden-Ravensberg in der preußischen Regierungspolitik. Die beiden letzten Beiträge des Bandes befassen sich mit Ferdinand von Schill und seinem Widerstand gegen die napoleonische Herrschaft. Veit Veltzke stellt die Frage, ob Schill ein deutscher Held gewesen sei, und verweist auf die DDR, wo er mühelos für die sozialistische Tradition in Anspruch genommen wurde. Der Autor nennt eine ganze Reihe von Persönlichkeiten, wie Stein oder Vincke, die in Schills Pläne eingebunden waren. Der Beitrag Martin Wilhelm Roelens wiederum befasst sich mit der lokalen Erinnerungskultur an Schill und die Verschwörung in Wesel. Roelen geht nicht nur auf das 1835 eingeweihte Denkmal und die Schillkasematte als Erinnerungsorte ein, sondern zeichnet auch die Instrumentalisierung Schills im Nationalsozialismus nach. Der Umgang mit dem preußischen Erbe im Westen zeigte sich nach 1945 nicht zuletzt im Weseler Stadtrat, als SPD und KPD die Umbenennung von Straßennamen forderten und die preußische Vergangenheit der Stadt tilgen wollten. Im Kontext des „Kalten Krieges“ und der Remilitarisierung kam es am 150. Todestages der Schill’schen Offiziere 1959 zu einer militärisch geprägten Festveranstaltung.

Welches Fazit lässt sich aus dem vorliegenden Sammelband ziehen? Trotz der bei Sammelbänden unvermeidlichen Unterschiede zwischen den einzelnen Beiträgen weist der Band nach, dass das Spannungsverhältnis zwischen dem Gesamtstaat und den einzelnen Provinzen noch stärker zu konturieren ist. Wer waren die lokalen Trägerschichten der preußischen Herrschaft im Westen, wie konnten diese ihrerseits auf die Regierungspolitik in Berlin einwirken und in welche regionalen, nicht-preußischen Zusammenhänge waren die Westprovinzen eingebunden? Hierbei sollte man sich stärker auf das Profil der altpreußischen Zeit und Gebiete konzentrieren und Desiderate wie Sozialgeschichte, Stadtgeschichte, historische Demographie oder Migrationsgeschichte systematisch untersuchen. Für das 19. und 20. Jahrhundert wären die Erinnerungskultur sowie die Frage nach dem Preußendiskurs nach 1945 und dem Zusammenhang mit Slogans wie „Wir in NRW“ in den Blick zu nehmen. Der Band hat hier wichtige Impulse geliefert. Allerdings hätte ein weniger affirmativer Titel dem Projekt gut getan, und angesichts der vielen Nuancierungen in den Einzelbeiträgen wäre „Sind wir Preußen?“ angemessener gewesen.