D. Avraham: In der Krise der Moderne

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Titel
In der Krise der Moderne. Der preußische Konservatismus im Zeitalter gesellschaftlicher Veränderung 1848-1876


Autor(en)
Avraham, Doron
Reihe
Schriftenreihe des Minerva-Instituts für Deutsche Geschichte der Universität Tel Aviv 27
Erschienen
Göttingen 2008: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
443 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Arthur Schlegelmilch, Historisches Institut, Neuere Deutsche und Europäische Geschichte, Fern-Universität Hagen

Das erklärte Ziel dieser bereits 2002 als Dissertation an der Universität Tel Aviv entstandenen Studie besteht darin, das „eindimensionale Vergangenheitsbild“ des preußischen Konservatismus als dem „Kern des deutschen Konservatismus“ zu korrigieren. Doron Avraham richtet sein Hauptinteresse auf die Phase zwischen der Niederschlagung der Revolution in Preußen Ende 1848 und der Gründung der Deutschen Konservativen Partei 1876. Unter parteiengeschichtlichem Blickwinkel erscheint dies sinnvoll, andererseits führt der Autor die von ihm als Begründung angesprochene Verfestigung des ideellen und politischen Diskurses in Gestalt des Parteiprogramms der DKP nicht explizit aus, so dass sich die Frage aufdrängt, warum nicht zumindest perspektivisch die „zweite Reichsgründung“ als nächste große innenpolitische Zäsur nach der Reichsgründung einbezogen wird. Zuzustimmen ist indes der Einschätzung, dass sich im Preußen der 1850er-, 1860er- und 1870er-Jahre durchgreifende Modernisierungsprozesse auf ökonomischer und gesellschaftlicher Ebene vollzogen haben, deren Verarbeitung durch den Konservatismus ein aussichtsreiches, bislang unzureichend erkundetes Forschungsfeld darstellt. Ferner ist es zweifellos zutreffend, dass sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der kritischen Sonderwegshistoriographie vor allem auf das Bürgertum und den Liberalismus konzentriert hat1, während die in geringerem Umfang vorhandene Konservatismus-Forschung entweder die vermeintliche Unbeweglichkeit (vor 1876/78) oder die radikale Dynamik der namentlich von der Gründung des Bundes der Landwirte ausgehenden Neuformierung der konservativen Bewegung betont.2

Auch wenn Doron Avrahams Kritik an der wissenschaftlichen Erforschung des preußisch-deutschen Konservatismus im 19. und 20. Jahrhunderts etwas überzogen erscheint, sind Gewinn und Ertrag des von ihm gewählten Ansatzes nicht in Abrede zu stellen: Mit Hilfe der systematischen Durchleuchtung des preußischen Konservatismus anhand der Themenfelder „Staatstheorie“, „Gleichheit“, „Kapitalismus“, „Staat und Gesellschaft“, „Kollektive Identität“ und „Minderheiten“ gelingt es ihm, teils neu eruierte, teils bekannte Einzelbefunde3 zu einem in sich stimmigen Ergebnis zusammenzufügen. Demnach war der preußische Konservatismus nicht nur Getriebener der sozioökonomischen Entwicklungen, sondern zeigte sich in seiner „fruchtbarsten Phase“ zwischen 1848 und 1876 auf der Grundlage sorgfältiger Gegenwartsanalyse im Stande, ein eigenständiges und zukunftsfähiges Gegenmodell zum Fortschrittsdogma der Liberalen herauszubilden. In staatstheoretischer Hinsicht ist dies nach Avraham vor allem dem organischen Staatsdenken mit seinen Protagonisten Adam Müller und Carl Ernst Jarcke, insbesondere aber Friedrich Julius Stahl zu verdanken. Stahls herausragende Rolle für die Entwicklung einer modernen konservativen Staatslehre bestand demnach vor allem darin, dass er die – im Übrigen auch im Lager des gemäßigten Liberalismus beliebte – Organismus-Metapher nicht bloß für restaurative Zwecke heranzog, sondern sie als Ausgangspunkt für den Aufbau eines normativen Rechtssystems einschließlich Konstitutionalisierungsperspektive produktiv nutzte. Als erster Konservativer differenzierte Stahl zudem zwischen Staat und Gesellschaft und erfüllte damit ein zentrales Kriterium modernen politischen Denkens.

Auch im Hinblick auf die weiteren, oben genannten Bemessungskategorien konservativer Modernität erweist sich Stahl als wichtigster Vordenker und Pionier des konservativen Lagers, das ihm freilich oftmals nur recht zögerlich zu folgen bereit war. So äußerte sich Stahl als erster und für längere Zeit einziger Konservativer bereits in vormärzlicher Zeit positiv zum Prinzip bürgerlicher Rechtsgleichheit und zur Möglichkeit sozialer, auch ständeübergreifender Mobilität4 und erwarb sich ferner Verdienste um die Öffnung des Konservatismus für die Verantwortung des Staats gegenüber hilfsbedürftigen Gesellschaftsgruppen im laufenden Prozess der ökonomischen Liberalisierung. Diese Position sollte in der Folge durch Victor Aimé Huber weiter profiliert und durch Bismarcks Sozialgesetzgebung in die Praxis überführt werden.

In weitgehender Übereinstimmung mit neueren Forschungsergebnissen5 verortet Avraham die Anfänge der konzeptionellen Auseinandersetzung des Konservatismus mit den Herausforderungen der Moderne bereits in den 1830er-Jahren (Müller, Gerlach, Stahl), wobei offenbar wiederum Stahl am „modernsten“, das heißt unter Verwendung ethnischer und kultureller, nicht jedoch politischer Kategorien argumentierte. Das eigentliche Substrat kollektiver Identität bestand für Stahl indes im Christentum des Volkes. Den (christlichen) Kirchen oblag nach seiner Überzeugung die Aufgabe der Verzahnung von Staat und Gesellschaft zu einem harmonischen und gottgefälligen Ganzen. Diese dem liberalen Nationalstaatsverständnis konträre Disposition hatte einerseits positive Folgen für die Perzeption des orthodoxen Judentums, dessen Wertschätzung des Religiösen für das Leben respektiert wurde, andererseits bestand für die Betroffenen in letzter Konsequenz keine Möglichkeit, zu einem integralen Bestandteil der Nation zu werden, solange am jüdischen Glauben festgehalten wurde. Rechtliche Normierung, Assimilation und Konversion wurden vom größeren Teil der Konservativen, so auch von Stahl, selbst konvertierter Jude, demgegenüber als gegebene Option angesehen, ein deutlich kleinerer Teil, so etwa Franz Perrot in der Kreuzzeitung (1875), vertrat allerdings die Ansicht, dass Juden auf Grund ihrer jahrhundertelangen Sozialisation als Teil eines „vaterlandslos vagabundirenden Zigeunervolks“ unwürdig und unfähig seien, Teil des staatlichen Gesamtorganismus zu werden.6

Von Avrahams Studie sind neue Impulse für die deutsche Konservatismus-Forschung zu erwarten. Ob seine letztlich doch sehr stark auf die Ausnahmefigur Friedrich Julius Stahl abhebende Argumentation in der Breite der zeitgenössischen politischen Kultur tatsächlich ihre Bestätigung finden wird, bleibt abzuwarten, stellt in jedem Fall aber eine wichtige Forschungsfrage dar. Ungeachtet der Fokussierung der Studie auf das theoretische Schrifttum ist deren Beweiskette eng genug geknüpft, um vom Vorhandensein eines eigenständigen Konservatismus-Typs zwischen restaurativem Konservatismus und konservativem Nationalismus ausgehen zu können. Da Avraham selbst aufzeigt, dass dessen Grundlagen bereits vor 1848 gelegt wurden, überzeugt seine besondere Betonung dieser Zäsur allerdings nicht hundertprozentig. Dies gilt ebenso in Bezug auf das Verhältnis zwischen Liberalismus und erneuertem Konservatismus, dessen Analyse im Grunde einer ebenso differenzierten Betrachtung des Liberalismus bedürfte wie sie hier für den Konservatismus, teilweise in antithetischer Gegenüberstellung zum Liberalismus, geleistet wurde.

Anmerkungen:
1 Dies gilt auch und gerade für die prononcierte Kritik der britischen Historiker David Blackbourn und Geoff Eley. Vgl. dies., The Peculiarities of German History, Oxford 1984.
2 Vgl. z.B. Hans-Jürgen Puhle, Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservatismus im wilhelminischen Reich 1893–1914. Ein Beitrag zur Analyse des Nationalismus in Deutschland am Beispiel des Bundes der Landwirte und der Deutsch-Konservativen Partei, Hannover 1966; Dirk Stegmann, Die Erben Bismarcks. Parteien und Verbände in der Spätphase des wilhelminischen Deutschlands. Sammlungspolitik 1897-1918, Köln 1970.
3 Einzelbefunde insbesondere zu einzelnen Protagonisten, vgl. hierzu Wilhelm Füßl, Professor in der Politik: Friedrich Julius Stahl (1801-1861). Das monarchische Prinzip und seine Umsetzung in die parlamentarische Praxis, Göttingen 1988; Hans-Christof Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach, Göttingen 1994; Michael A. Kanther / Dietmar Petzina, Victor Aimé Huber (1800-1869). Sozialreformer und Wegbereiter der sozialen Wohnungswirtschaft, Berlin 2000; Wolf Nitschke, Adolf Heinrich Graf von Arnim Boitzenburg, Berlin 2004.
4 Vgl. Friedrich Julius Stahl, Philosophie des Rechts, Bd. 2, Heidelberg 1833.
5 Vgl. Bernhard Ruetz, Der preußische Konservatismus im Kampf gegen Einheit und Freiheit, Berlin 2001.
6 Vgl. Franz Perrot, Bismarck und die Juden. „Papierpest“ und Aera-Artikel von 1875. Ergänzt durch Karl Perrot, Berlin 1931.

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