M. Romaniello u.a. (Hrsg.): Tobacco in Russian History

Cover
Titel
Tobacco in Russian History and Culture. From the Seventeenth Century to the Present


Herausgeber
Romaniello, Matthew P.; Starks, Tricia
Reihe
Routledge Studies in Cultural History
Erschienen
London 2009: Routledge
Anzahl Seiten
X, 296 S.
Preis
£ 60.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sonja Margolina, Berlin

Die Kulturgeschichte der Lebens-, Genuss- und Suchtmittel hat in Russland keine Tradition. Das ist deshalb erstaunlich, weil gerade in den sowjetischen Sozialwissenschaften eine derart ideologieferne Nische jenen Historikern ein Refugium hätte bieten können, die sich vom Marxismus zu distanzieren suchten. Doch deren kulturell bedingte Blindheit fürs profane Dasein war offenbar stärker als ihre Abneigung gegen die verordnete Ideologie. So wird die Kulturgeschichte der Lebensmittel in Russland bevorzugt von westlichen, insbesondere amerikanischen Forschern vorangetrieben. Bereits seit den 1980er-Jahren beschäftigen sich diverse angelsächsischen Studien mit den wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Aspekten der Grundnahrungsmittel und der russischen Trunksucht.1

Nun ist also auch der Tabakgenuss in den Fokus der kulturhistorischen Forschung gerückt. Der vorliegende Sammelband basiert auf einer Tagung (New Orleans 2007) und präsentiert ein erstaunlich vielfältiges Wissen. Neben dem Aufkommen des Tabaks behandelt er unter anderem verschiedene – religiös-moralische, wirtschaftliche und politische — Implikationen des importierten Genuss- und Suchtmittels im vorpetrinischen Russland; seine Themen reichen von der Entwicklung einer kapitalistischen Produktionsweise, Diversifizierungen des Verbrauchs, der Tabakwerbung im späten Kaiserreich bis hin zur sowjetischen und postsowjetischen Tabakproduktion, zu Gesundheitskampagnen und zur Rolle des Tabaks in der Kinderkultur. Der Band bietet somit breite kulturhistorische Reflexionen über eine universelle soziale Alltagshandlung: dem Rauchen unter den Bedingungen der einholenden Modernisierung in Russland.

Am Anfang stand das Verbot des Tabaks im 17. Jahrhundert. Dieses dauerte im Moskauer Reich 70 Jahre an. Grund für diese ungewöhnlich lange Dauer war, so Matthew P. Romanello („Muscovy's Extraordinary Ban on Tobacco“), das Zusammenspiel der religiös-moralischen Abneigung der Herrschenden gegen jenes „ketzerische“, als protestantisch-calvinistischer Import verachtete Produkt und der Unfähigkeit des Staates, daraus ökonomischen Profit zu schlagen. Gleichzeitig befürchteten die Herrscher eine Verarmung der Untertanen durch das neue Suchtmittel. Im Gefolge des Verbots florierte allerdings der mit hohen Strafen belegte Schmuggel und illegale Handel. Die „Uloschenie”, der Strafkodex von 1649, enthält 11 Paragraphen zur Beschränkung des Tabakhandels; die Strafen hierfür reichen von Knutenhieben und dem Ausreißen der Nasenflügel bis hin zur Todesstrafe. Zunächst war es nur der Staat, der sich einer „Überfremdung“ der Untertanen durch das neue Produkt entgegenstellte. Die orthodoxe Kirche begann erst Ende des 17. Jahrhunderts, den Tabakkonsum als Sünde aufzufassen, wie Nicolaos A. Chrissidis („Sex, Drink and Drugs. Tobacco in 17th Century Russia“) anhand der „Statir”, einer Sammlung orthodoxer Predigten von 1683-1687 demonstriert. Der Klerus brachte Tabakkonsum mit „Trunksucht, ausländischen Sitten und Unzucht“ in Verbindung. Tabakgenuss wurde in Predigten als fremder und deshalb schändlicher Brauch gebrandmarkt, der die Gläubigen von der Kirche abbringe und zu sündhaftem Verhalten verleite. Grund für diese Reaktion der Kirche war, so Chrissidis, das Schisma von 1666/67: Die fundamentalistische Bewegung der Altgläubigen, die die moralische und spirituelle Autorität der Staatskirche radikal in Frage stellte, dämonisierte das Rauchen. Um ihr Monopol auf die Seelen der Gläubigen wiederherzustellen, sah sich die Staatskirche deshalb unter anderem zu einer schärferen Anti-Tabak-Rhetorik gezwungen.

Die Aufhebung des Tabakverbots durch Peter den Großen, die mit der karnevalesken Verhöhnung des rituellen Weihrauchgebrauchs im Gottesdienst während so genannter „Tabak-Kollegien“ einherging, stellte diese Verhältnisse auf den Kopf. Sie markierte den Bruch mit der Vergangenheit und mit der religiösen Tradition. Dennoch war die Aufhebung des Verbots laut Matthew P. Romanello vor allem Folge einer „Transformation der russischen Wirtschaftspolitik“ hin zur erzwungenen Öffnung des Landes auf der Suche nach Staatseinnahmen. Von nun an wurde der Fiskus selbst tabaksüchtig. Wie den Beiträgen zur Produktion des Tabaks in der Sowjetunion (Ju. P. Bokarev), einem Interview mit Leonid Sinelnikow, dem Direktor der Tabakfabrik „Java” (Elizaveta Gorchakova) und einem Artikel zur Tabak-Politik während des Kaltes Krieges (Mary Neuburger) zu entnehmen ist, war der Staat zu keinem Zeitpunkt bereit, seine fiskalischen Interessen zugunsten moralischer oder gesundheitlicher Argumente zu gefährden.

Konstantin Klioutchkine untersucht in „I Smoke, Therefore I Think“ sich wandelnde Einstellungen zum Tabak vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Transformation in der Zeit Alexanders II. und der Großen Reformen anhand der russischen Literatur. Klioutchkine unternimmt einen amüsanten Exkurs zu literarischen Rauchermoden: vom Tabakschnupfen im Petersburg Gogols, Pfeiferauchen (Bestuschew-Marlinski, Puschkin), Zigarre und Zigarette in der Mitte des 19. Jahrhunderts (Lermontow, Tolstoi), zu Zigaretten im Zeichen der Emanzipation (Dostojewski) und zum Thema Rauchen und Frauen (Turgenew). Die Wahl des Mittels ebenso wie dessen gestische Inszenierung markierten, so Klioutchkine, die soziale Stellung des Konsumenten sowie dessen Verhältnis zur Moderne und Emanzipation in der russischen Gesellschaft: „Sage mir, was du rauchst, und ich sage dir, wer du bist“. Schnupfen und Kauen wiesen auf Zugehörigkeit zu einer niederen sozialen Schicht hin, während teurere Zigarren für Erfolg, hohen sozialen Status und Glamour standen. Zigaretten spiegelten die im Wandel begriffenen Verhaltensmodi der sich modernisierenden Gesellschaft.

Die Produktion der Tabakerzeugnisse schnellte bis zum Ersten Weltkrieg in die Höhe, wobei der Verbrauch dank der preiswerten „Papirossi”, die fast die Hälfte der Produktion ausmachten, „revolutioniert“ wurde („Tobacco Production in Russia: The Transition to Communism“). Revolutionen und Kriege sorgten indes für Engpässe: Der Preis für Papirossi verzehnfachte sich nach 1941. Nach dem Krieg wurde die Produktion hochgefahren und die Preise gesenkt. Allerdings blieb der Mangel an einheimischem Qualitätstabak und an Vielfalt der Produkte auch in den 1960er- und 1970er-Jahren bestehen; die Tabakindustrie war auf den Import aus Bulgarien angewiesen, das 75 Prozent seiner Produktion in die Sowjetunion lieferte (Mary Neuburger).

Mit der Ausbreitung urbaner Kultur wurden räumliche, soziale und geschlechtsspezifische Einschränkungen, die Vorstellungen von normativer Sittlichkeit, gesellschaftlicher Stellung und Geschlechterrollen transportierten, brüchiger. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Catriona Kellys Beitrag zu Tabak und Kinderkultur im Russland des 20. Jahrhunderts. Sie hat zwischen 1910 und 1970 geborene Personen aus vier verschiedenen Städten über ihre Kindheitserfahrungen mit dem Rauchen befragt und eine Vielfalt gegensätzlicher Verhaltensmodi offengelegt. Das Rauchen der Halbstarken konnte als Attribut von Männlichkeit, als rite-de-passage oder als Ausdruck einer Individualisierung erscheinen, aber auch als Gruppenanpassung, als Protest gegen Druck in Familie oder Schule oder, im Gegenteil, als Anpassung an einen in der Familie etablierten Brauch. Rauchen oder Nichtrauchen war zugleich eine „Geste der Identifizierung mit einer Subkultur“, ein Abenteuer oder – für Mädchen – die Verletzung des ungeschriebenen Rauchverbots für Frauen. „Die Kultur, in der Erwachsene das ‚Recht‘ der Raucher akzeptieren, mehr oder weniger überall da zu rauchen, wo es einem gefällt“ konnte, so Kelly, beides fördern: frühes Rauchen oder eine Abneigung dagegen.

Tabak als Genuss- und Suchtmittel war im Unterschied zu Wodka eine Importware und fungierte deshalb im vorpetrinischen Russland, aber auch bei den strenggläubigen Sekten, als Angriffsfläche für antiwestliches und xenophobes Denken. Nach der Zulassung des Tabakhandels und im Zuge der einholenden Modernisierung des russischen Kaiserreichs wurden Diskurse über Tabak säkularisiert und verwissenschaftlicht. Sie folgten somit im Wesentlichen, wenn auch mit Verspätung, dem europäischen Trend. Allerdings scheiterten alle Kampagnen gegen das Rauchen sowohl im Zarenreich als auch im sowjetischen und postsowjetischen Russland nicht ausschließlich an den fiskalischen Interessen des Staates (Tricia Starks, Karen F. A. Fox). Das exzessive Rauchen der industriellen Epoche konnte in Russland nicht, wie im Westen, durch medizinisch begründete und öffentlich geförderte Aufklärungskampagnen eingeschränkt werden. Für den Erfolg solcher Kampagnen fehlte Russland ein rationales individualistisches Subjekt, das zu einem bewussten Umgang mit Gesundheitsrisiken imstande wäre. Im Gegenteil: Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus nahm die Anzahl der Raucher, dank der Werbung, der neuen Konsumfreiheit, dem Verschwinden sozialer und staatlicher Kontrollen und der wachsenden gesellschaftlichen Anomie dramatisch zu. Dieser Umstand spiegelt sich in der erschreckenden Zunahme von Kreislaufkrankheiten und der hohen Sterblichkeit vor allem von Männern.

Als Genuss- und Suchtmittel bietet Tabak eine unendliche Projektionsfläche für entgegengesetzte Bedürfnisse und soziokulturelle Attribute beinahe universellen Charakters. „Tobacco in Russian History and Culture“ führt vor Augen, dass in der russischen Kulturgeschichte noch viele weiße Flecken auf ihre Erforschung warten.

Anmerkung:
1 Robert E. F. Smith / David Christian, Bread and Salt. A Social and Economic History of Food and Drink in Russia, Cambridge 1984 (Diese Monographie wurde 2008 für eine neue Auflage aktualisiert); Boris M. Segal, Russian Drinking. Use and Abuse of Alcohol in Pre-Revolutionary Russia, New Brunswick 1987; Ders., The Drunken Society. Alcohol Abuse and Alcoholism in the Soviet Union. A Comparative Study, New York 1990; David Christian / Deborah Christian, „Living Water.“ Vodka and Russian Society on the Eve of Emancipation, Oxford 1990.

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