C. Augustynowicz: Die galizische Grenze 1772-1867

Cover
Titel
Die galizische Grenze 1772-1867: Kommunikation oder Isolation?.


Herausgeber
Augustynowicz, Christoph; Kappeler, Andreas
Reihe
Europa Orientalis 4
Erschienen
Berlin 2007: LIT Verlag
Anzahl Seiten
248 S., 1 Karte
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dietlind Hüchtker, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Universität Leipzig

Mit der Feststellung: "There is an extensive literature on how states have dealt with their borderlands, but historians have paid much less attention to how borderlands have dealt with their states"1, haben Michiel Baud und Willem van Schendel vor mehr als zehn Jahren dafür plädiert, Regionen beiderseits einer Grenze sowie deren Aneignung und kulturelle Bedeutung zum Gegenstand historischer Untersuchungen zu machen. Der von Christoph Augustynowicz und Andreas Kappeler herausgegebene Band ist in dieser Hinsicht ein interessantes Beispiel. "Königreich Galizien und Lodomerien" taufte die Habsburgermonarchie das Gebiet, das sie mit der ersten Teilung Polens 1772 annektierte. Der Band widmet sich der neu gezogenen Grenze, die nicht nur eine neue Provinz konstituierte, sondern nunmehr auch zwischen Staaten verlief, zunächst zwischen der Habsburgermonarchie und Polen, nach der dritten Teilung von 1795 zwischen ihr und Russland. Diese Grenze zerschnitt einen historisch gewachsenen bis dahin grenzlosen Handels- und Kommunikationsraum. Die thematischen Schwerpunkte des Bandes sind die Geschichte von Grenzstädten und Freihandelszonen sowie die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen von 1772 bis 1867, als das Kronland Autonomiestatus erhielt, das heißt weitgehende Selbstverwaltungsrechte. Auch wenn die Grenze hauptsächlich aus der Perspektive Galiziens analysiert wird, beziehen viele Beiträge schon aufgrund ihres mikrohistorischen Ansatzes beide Seiten der Grenze ein und betrachten sie nicht als zwei feste, einander gegenüberstehende, gar fremde Einheiten.

Die Grenzziehung war kein einmaliger Akt. Bis 1849, der Einrichtung eines eigenständigen Kronlands Bukowina, wurde die Grenze immer wieder verschoben sowohl in kleineren als auch in größeren Dimensionen. Svjatoslav Pacholkiv untersucht daher in seinem profunden Beitrag deren Entstehung als einen langen Prozess, als Ergebnis von Praktiken ihrer Überwachung und Übertretung. Im Laufe der Zeit gelang es, Galizien als eigenständige Region zu erfinden, wie der Beitrag von Andreas Kappeler zeigt, der die Beschreibung der Grenze in Reiseberichten untersucht: Aus einer konstruierten Provinz wurde der essentialisierte Begriff "Galizien".

Mehrere informative und differenzierte Studien beschäftigen sich mit den Veränderungen von Handelsbeziehungen und Produktionsbedingungen, die sich aus den neuen Zollsystemen sowie der Einbeziehung in den habsburgischen Wirtschaftsraum ergaben. Zwar veränderten sich die alten Handelsbeziehungen in vielfacher Hinsicht, dennoch bedeutete dies nicht einfach Ausbeutung einer peripheren Provinz durch die Habsburgermonarchie. So wurden auf der einen Seite die alten Handelswege nach Norden durch die neuen Zollbestimmungen erschwert, wie Tomasz Kargol in seinem Beitrag zu den wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Galizien und den Ländern der österreichisch-ungarischen Monarchie feststellt. Auf der anderen Seite profitierten von den Veränderungen manche Grenzstädte, waren die Kaufleute in Brody darin erfolgreich, den österreichischen Handel nach Russland an sich zu ziehen. Auch Börries Kuzmany betont "den großen Vorteil", den Brody durch seine Lage hatte. Andere Städte dagegen wurden isoliert. Laurie R. Cohen beschäftigt sich mit der durch die neue Grenze geteilten und zugleich quasi abgeschnittenen Grenzstadt Husjatyn/Gusjatin und muss feststellen, dass diese in den Quellen kaum mehr Erwähnung findet, obwohl sie sich offenbar nicht erfolglos um Zollprivilegien und Zentralfunktionen bemüht hatte.

Besondere Aufmerksamkeit wird der wechselvollen Geschichte Krakaus zwischen dem Wiener Kongress bis zur Niederschlagung des 1846 von dort ausgehenden Insurrektionsversuchs des polnischen Adels gewidmet. Das Zusammenspiel von rechtlichen Bedingungen sowie politischer und wirtschaftlicher Bedeutung der Stadt zeigen die beiden Studien von Isabel Röskau-Rydel und Piotr Franaszek. Krakau wurde aufgrund seiner exemten Stellung als Freie Stadt Handels- und Schmuggelmetropole, Exil und Erinnerungsort für die polnische Nation. Krzysztof Ślusareks Auswertung der so genannten "Hefte von Kozłowski" – Tabellen über die Beschaffenheit des Landes, die Bevölkerung und das Gewerbe von 1773 – schließt mit dem Verweis auf ein beachtliches und differenziertes Wirtschaftspotential der Region und ist darüber hinaus Anregung, die noch viel zu wenig berücksichtigten Landesbeschreibungen und Statistiken in die Geschichtsschreibung über Galizien einzubeziehen.

Folgt man den Studien, so ist der Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung in Galizien - immer wieder als periphere Grenzregion und "Armenhaus" der Monarchie apostrophiert - kein Selbstläufer oder ausschließlich Folge imperialer Politik, sondern differenziert sich nach Region, Zeit, politischen und wirtschaftlichen Bedingungen. Grenzregionen, und das zeigt der Band eindrucksvoll, sind nicht nur vernachlässigte Peripherien, sondern eröffnen auch einige Möglichkeiten: Exil, Kontakte, Privilegien, Konkurrenz zu Nachbarregionen, erst recht, wenn eine Grenze erst ausgebildet wird – so auch Stanisław Stępień in einer Studie zu Przemyśl.2 Zu empfehlen ist der Band daher allemal, nicht nur als ein Beispiel für Grenzforschungen, sondern besonders für die Geschichte Galiziens. Die Perspektive von Grenzstudien erhellt deren Komplexität jenseits des Verdikts eines "Armenhauses", auch wenn man vielleicht dem ein oder anderen Beitrag in dieser Hinsicht eine weitergehende Perspektive gewünscht hätte: im Sinne der Mikrogeschichte nicht Städte, sondern übergreifende Fragen in Städten zu analysieren (Hans Medick). Der positive Eindruck gilt vor allem, wenn man den Band als Ganzes liest: Die vielschichtigen Beziehungen, Schwierigkeiten, Fluchtmöglichkeiten, Handelsbeschränkungen und Profite, die Verräumlichung von Konfessionsgrenzen, imaginäre Zivilisationsunterschiede und staatliche Grenzregime erschließen sich besonders eindringlich in der Gesamtheit des Bandes. Erleichtert hätte solche Lesepraxis eine andere Anordnung der Beiträge, so wenn die Analyse des "Grenze Machens" von Pacholkiv an den Anfang gestellt worden wäre. Dennoch sei hervorgehoben, dass es dem Band gelingt, im Unterschied zu vielen wenig konsistenten Sammelbänden, ein differenziertes und umfassendes Bild der galizischen Grenze zu zeichnen.

Anmerkungen:
1 Michiel Baud / Willem van Schendel, Toward a Comparative History of Borderlands, in: Journal of World History 8 (1997), S. 211-242, hier 235.
2 Stanisław Stępień, Borderland City: Przemyśl and the Ruthenian National Awakening, in: Christopher Hann / Paul Robert Magocsi (Hrsg.), Galicia. A Multicultured Land, Toronto 2005, S. 52-70.

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