J.E. Schulte (Hrsg.): Die SS, Himmler und die Wewelsburg

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Titel
Die SS, Himmler und die Wewelsburg.


Herausgeber
Schulte, Jan Erik
Reihe
Schriftenreihe des Kreismuseums Wewelsburg, Bd. 7
Erschienen
Paderborn u.a. 2009: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
XXXVI, 556 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Köhler, Historisches Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster

Der methodische und inhaltliche Anspruch des zu besprechenden voluminösen Sammelbandes „Die SS, Himmler und die Wewelsburg“ ist ambitioniert: Fokussiert auf die von der SS umgestaltete Wewelsburg und das am Ortsrand errichtete Konzentrationslager Niederhagen soll mit Hilfe von insgesamt 27 Einzelbeiträgen eine Verschränkung mit der Gesamtgeschichte der Schutzstaffel geschaffen und sollen darüber hinaus noch Kontinuitäten nach 1945 in den Blick genommen werden. Grundlage des Sammelbandes war eine wissenschaftliche Tagung aus dem Jahr 2005, wobei der Sammelband lobenswerter Weise nicht einfach eine schriftliche Zusammenfassung der Tagungsbeiträge darstellt, sondern nun deutlich erweitert in sechs Großkapiteln („Strukturen“, „Radikalisierung“, „Weltbilder und Selbstbilder“, „Hybris und Realität“, „Ort des Terrors“ sowie „Kontinuitäten“) die jeweiligen Fachbeiträge unter einer Leitthematik gebündelt werden. Tagung wie Sammelband dienen als Grundlage der Neukonzeption der Dauerausstellung, die 2010 die ursprüngliche und mittlerweile veraltete Präsentation ablösen soll.

Jan Erik Schulte als Herausgeber des Bandes schickt zwei einführende Beiträge voraus, die den methodischen Aufbau des Bandes – also die Verzahnung von Mikro- und Makroebene in Bezug auf die Wewelsburg und die überregionale SS-Geschichte – widerspiegeln. Zunächst gelingt ihm ein konziser Überblick zu den Erzähltraditionen und zum Forschungsstand der SS-Geschichte, aus dem zugleich die paradigmatischen Perspektivwechsel in der Forschung zum NS-Staat insgesamt deutlich werden. Schwerpunkte setzt Schulte hier unter anderem bei den Themengebieten Weltanschauung, Holocaustthesen, Täterforschung zu SS und Polizei sowie bei Netzwerkbildungen nach 1945 sowie der Frage der Integration der Täter in die bundesdeutsche Gesellschaft.

Anhand der Analyse der SS-Gruppenführerbesprechung auf der Wewelsburg vom 12. bis 15. Juni 1941 nimmt Schulte anschließend eine „historische Ortsbestimmung“ zum zentralen Themenkomplex „SS, Wewelsburg und nationalsozialistischer Rassenkrieg“ vor. In Himmlers mythologischen und weltanschaulichen Vorstellungen stellten die Wewelsburg und das dazugehörige Dorf in geographischer und kultureller Hinsicht germanisches Kernland dar. Im September 1934 wurde der Komplex offiziell angemietet. Erste Bauarbeiten führte der Reichsarbeitsdienst (RAD) durch, ab 1939 wurden dafür Häftlinge eingesetzt, die im Konzentrationslager Niederhagen – dem zweitkleinsten KZ-Hauptlager – am Rande des Dorfes inhaftiert waren. Vom Nutzungskonzept her betrachtet fungierte die Burganlage nicht als Massenschulungsstätte für untere und mittlere SS-Dienstränge, sondern als elitäres ideologisches Zentrum der SS-Führung. Himmler versuchte also auf Grundlage von germanischer Mystik und Rassenideologie den Orden SS und den „Mythos Wewelsburg“ zu konstruieren. Insofern rief Heinrich Himmler kurz vor Beginn des sogenannten Barbarossa-Feldzuges die Führungsspitzen aus SS und Polizei (unter anderem Reinhard Heydrich, Kurt Daluege und Oswald Pohl) nicht im politischen Zentrum Berlin, sondern am vermeintlich dezentralen Ort Wewelsburg zusammen, um dort die Rahmenbedingungen des Lebensraum- und Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion abzustecken und die SS-Generäle weltanschaulich auf den mörderischen Charakter des Unternehmens festzulegen. Es wurde nach Schulte somit auf der Wewelsburg die gemeinschaftliche Basis geschaffen, „von der aus die Radikalisierung der verbrecherischen Praxis Raum greifen konnte“ (S. 20).

In den Beiträgen von Armin Nolzen zu Abgrenzungsstrategien der SS gegenüber der NSDAP und Michael Wildt, der in Anlehnung an seine Habilitationsschrift den prototypischen Charakter des Reichssicherheitshauptamtes als dynamische und sich radikalisierende Terrorzentrale herausstellt, wird überwiegend der Makrokosmos der strukturellen Voraussetzungen und Ausgestaltungen der SS in den Blick genommen. Ruth Bettina Birn unterstreicht zum Abschluss dieser Sektion „Strukturen“ den Grundlagencharakter der Rassenlehre in der SS im dynamischen Spannungsverhältnis zur kriegstechnisch (vorübergehend) notwendigen und pragmatischen Einverleibung von sogenannten „Fremdvölkischen“ in die SS. Sie unterstreicht somit erneut das aktuelle Forschungsparadigma einer hohen Anpassungsfähigkeit und Flexibilität nationalsozialistischer Machtpolitik.

Auch der Themenblock „Radikalisierung“ verharrt auf der Makroebene. Während Matthias Hambrock versucht, Radikalisierungsschübe und damit einhergehende Verbrechenskomplexe mit Hilfe eines SS-eigenen Opfernarrativs zu deuten, reflektieren Martin Cüppers in Anlehnung an seine 2005 veröffentlichte Dissertation sowie Jan Erik Schulte Entscheidungsprozesse hin zum Genozid. Dazu gehen sie auf die Fallbeispiele des Kommandostabes Reichsführer-SS sowie des SS- und Polizeiführers in Lublin, Otto Globocnik, zum Bau des Vernichtungslagers Belzec im Rahmen der „Aktion Reinhardt“ zur Ermordung der polnischen Juden ein.

Eine engere thematische Verzahnung weisen die Beiträge in den Kapiteln „Weltbilder und Selbstbilder“, „Hybris und Realität“ und „Ort des Terrors“ auf, da die Forschungsergebnisse einen direkten Bezug zur geplanten neuen Dauerausstellung aufweisen. Skizziert Christian Jansen zunächst die übergreifenden Tendenzen völkischer und rassischer Ideologeme in der deutschen Wissenschaftslandschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, geben die Studien unter anderem von Markus Moors, Beate Herring und Frank Huismann Einblicke in die teils recht diffusen Vorstellungen und Planungen zum ideologischen Nutzungskonzept der Wewelsburg. Vor allem anhand der Biographie des Archäologen Wilhelm Jordan werden aber auch Karrierewege zwischen der Wewelsburg und späteren „wissenschaftlichen“ Einsatzaufgaben als „Wehrgeologe“ in den eroberten Ostgebieten deutlich.

Die zwei letztgenannten Abschnitte nehmen dagegen das Lager Niederhagen in den Blick, sowohl in der Nutzung als SS-Umsiedlungslager für Volksdeutsche in einem sehr dichten Beitrag Norbert Ellermanns als auch als Konzentrationslager. Aus verschiedenen Perspektiven werden Täter, Opfer wie Zuschauer in den Blick genommen. Konzentriert sich Kirsten John-Stucke auf die Zeugen Jehovas und deren Widerstandsversuche, weitet Andreas Neuwöhner den Blickwinkel auf Wandlungsprozesse in der Häftlingszusammensetzung zu Beginn der 1940er-Jahre aus. Die Verschränkung von Mikro- und Makroebene verdeutlicht hier, dass auch das KZ Niederhagen-Wewelsburg im Analysefokus der Häftlingszusammensetzung Teil des dynamischen Gesamtsystems der nationalsozialistischen Konzentrationslager war. Dominierten bis 1942 deutsche Häftlinge und die Zeugen Jehovas die Häftlingsgesellschaft, wurden während der Kriegsphase immer mehr osteuropäische Häftlinge interniert und als Zwangsarbeiter eingesetzt. Ein dramatischer Anstieg der Todeszahlen verdeutlicht zudem Radikalisierungsprozesse auf Seiten des SS-Wachpersonals.

Am biographischen Beispiel von Hans Lau rekonstruiert Sabine Kritter exemplarisch das Selbstbild und die Motivationsgrundlage des SS-Wachkompanieführers. Eine gefestigte und zum Teil fanatische ideologische Überzeugung, der Wunsch nach kameradschaftlicher Anerkennung sowie das Streben nach materiellem Vorteil waren die Basis seiner Handlungslegitimation, wobei Kritter das weltanschauliche Moment vor allem in der Kriegsendphase deutlich heraushebt. Diana Schlegelmilch öffnet mit einer anspruchsvollen Analyse von Zeitzeugen-Interviews, die einen (retrospektiven) Blick in Wahrnehmungsmuster der einheimischen Bevölkerung offenlegen, die Forschungsperspektive auf den bundesrepublikanischen Zeitraum.

Im Schlusskapitel „Kontinuitäten“ sind die Beiträge von Wulff E. Brebeck zur konfliktbehafteten Geschichte der Gedenkpraxis an die Opfer des KZs Niederhagen sowie die Analyse von esoterischer und rechtsradikaler Literatur und deren Einfluss auf das Geschichtsbild der Wewelsburg durch Daniela Siepe hervorzuheben. Dagegen bleiben die Beiträge Michael Okroys zum Wuppertaler Bialystok-Prozess und Karsten Wilkes Ausführungen zum Netzwerk der „Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS“ etwas unverbunden im Raum stehen, zumal Karola Fings übergreifende Einordnungen zur selektiven bundesdeutschen Erinnerungskultur an das Konzentrationslagersystem bereits den diskursiven Rahmen gewohnt präzise abgesteckt hatten.

Der Sammelband „Die SS, Himmler und die Wewelsburg“ löst Karl Hüsers Dokumentation aus dem Jahr 1982 als grundlegendes Werk zur Geschichte der Wewelsburg ab. Durch den methodischen Ansatz, nicht nur lokal- und regionalgeschichtlich zu arbeiten, sondern Mikro- und Makroebene miteinander in eine enge Beziehung zu setzen, gelingt es, sowohl aktuelle Forschungsansätze zur SS- und Konzentrationslagergeschichte auf den Themenkomplex zu übertragen, als auch in einzelnen Beiträgen Impulse in den überregionalen Forschungsdiskurs einzubringen. Wenn auch in den Kapiteln „Strukturen“, „Radikalisierung“ und „Kontinuitäten“ eine noch stärkere Verzahnung zur Wewelsburg hätten vorgegeben werden können, darf schon mit Spannung auf die museale Umsetzung des Forschungsprojektes am historischen Ort gewartet werden.

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