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Titel
Ehen vor Gericht. Paare der Renaissance vor dem Papst


Autor(en)
Schmugge, Ludwig
Erschienen
Anzahl Seiten
289 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julia Ilgner, Historisches Seminar, Universität Freiburg

„In der Ehe muss man sich manchmal streiten, nur so erfährt man etwas voneinander“, wusste bereits Goethe zu verkünden, „um die Ehe“ allerdings auch, möchte man nach der Lektüre Ludwig Schmugges hinzufügen. Während der Dichterfürst hier den Liebesbund jedoch wohl eher mit Martin Luther als „ein eusserlich, weltlich Ding“ apostrophiert, nimmt der Schweizer Historiker die Ehe aus kirchenrechtlicher Perspektive in den Blick.

Ludwig Schmugge, emeritierter Ordinarius für Geschichte des Mittelalters an der Universität Zürich und langjährig mit der Herausgabe des ‚Repertorium Poenitentiariae Germanicum‘ befasst,1 unternimmt in der vorliegenden Monografie eine Betrachtung des spätmittelalterlichen Ehewesens ex negativo, in der Widerspiegelung der geistlichen Gerichtsbarkeit, an die sich die Petenten immer dann wandten, wenn etwas an ihrer Ehe nicht kanonischen Regeln entsprach. Als Grundlagen dienen ihm dafür exakt 6387 Bittschriften (Suppliken), die in der vatikanischen Pönitentiarie (Paenitentiaria Apostolicae), einer noch heute bestehenden kirchlichen Behörde, zwischen 1455 und 1492/1500 eingereicht wurden.2

In insgesamt fünf Kapiteln leuchtet Ludwig Schmugge in einem akribischen wie quellengetreuen Parlando alle erdenklichen Schattierungen des mittelalterlichen Ehewesens aus. Kanonische Voraussetzungen der Eheschließung gelangen ebenso zur Darstellung wie Ehehindernisse (impedimenta), etwa die Blutsverwandtschaft (consanguinitas), die Schwägerschaft (affinitas), die geistliche Verwandtschaft (cognatio spiritualis) durch Tauf- oder Firmpatenschaft sowie die Bindung durch das Gelübde (votum) oder Verstöße gegen das Eherecht, seien sie vorsätzlich geschehen oder nicht. Auf den einleitenden Teil, der propädeutisch zunächst den Untersuchungsgegenstand konturiert (Kapitel 1) und die kanonischen Bestimmungen des Eherechts darlegt (Kapitel 2), folgt eine differenzierte Zusammenstellung der Begebenheiten, mit denen der diözesane Eheprozess befasst sein konnte (Kapitel 3). Unter dem Titel „Geschichten aus den römischen Suppliken“ entfaltet Ludwig Schmugge ein Panorama matrimonialer Eventualitäten, die er anhand zahlreicher Fallbeispiele illustriert. Über unter Eheversprechen (per verba de futura) vorgenommene Verführungen liest man ebenso wie über außerehelichen Geschlechtsverkehr – beides galt, da die Ehe ohne feierliche Einsegnung (solemnatio) nicht legitim war, als Sünde. Die Auflösung kirchlich nicht sanktionierter, sogenannter Klandestinehen (matrimonium clandestinum) oder zu Unrecht geschlossener Ehen (matrimonium praesumptum), die aufgrund paternalistischer Tradition „unter Zwang und Furcht“ (vi et metu) geschlossen wurden, bildeten ebenfalls einen wiederholten Verhandlungsgegenstand. Selbst wenn man sich in einer legitimen Verbindung befand, konnte die Nichterfüllung der ehelichen Pflichten oder mangelnde Übereinstimmung der Partner zur Auflösung führen. So liest man in einem nicht zufällig an Shakespeare, zutreffender jedoch an Keller gemahnenden Unterkapitel („Romeo und Julia in Deutschland“, S. 166–169) von der „mutigen Anna“ (S. 167), die sich einer in minderjährigem Alter (unter zwölf Jahren) oktroyierten Ehe widersetzte. Dem Mann übergeben, entfloh sie nach nur sechs Wochen, ohne die Ehe vollzogen zu haben.

Die Bandbreite der juristischen Streitfälle bildet die Grundlage des vierten Kapitels, das mit dem „Eheprozess“ die geistliche Gerichtsbarkeit im Reich eingehender betrachtet, wobei den Bistümern Konstanz und Chur besondere Aufmerksamkeit zuteil wird. Auch die weiteren Beispiele dürften insofern nicht nur für den landesgeschichtlich ambitionierten Leser von Interesse sein, als die Auswahl paradigmatisch unterschiedlichen topografischen Faktoren Rechnung trägt. Während mit Passau eine vergleichsweise große Diözese betrachtet wird, handelt es sich bei Regensburg und Augsburg um mittelgroße, bei Eichstätt und Worms um kleine bzw. kleinste Bistümer. Mit Köln erfährt hingegen nicht nur das Erzbistum, sondern zugleich die Reichsstadt Würdigung.

Das als knappes Resümee konzipierte fünfte Kapitel leitet den Blick zurück auf die übergreifende Ebene des Reiches und den Konnex zwischen den hiesigen Ordinarien und der Pönitentiarie in Rom. Wesentliche Ergebnisse werden summiert und mit einem Ausblick auf künftige Forschung, etwa die Auswertung von Notariatsregistern und -imbreviaturen, einer vorläufigen Wertung unterzogen. Ein knapp gehaltenes Nachwort, Anmerkungsapparat und Bibliografie beschließen die Studie.

Die inhaltliche Konzeption des Bandes ist zweifellos gelungen. Dass sich die Makrostruktur der Argumentation im Einzelnen als zweckdienlich erweist, zeigt sich etwa darin, dass sich der Text nicht einer sequentiellen Lektüre versperrt, sondern verschiedene Zugriffe ermöglicht. Zwar verhindert das Fehlen eines Namen-, Orts- oder Sachregisters einen lexikalischen Zugang. Jedoch gleicht die zugrundeliegende Edition der Suppliken im Rahmen des RPG dies mehr als aus.3

Durchgängig beeindruckt auch, wie es Ludwig Schmugge angesichts der Vielzahl und des Variantenreichtums der Einzelfälle gelingt, immer wieder auf die jeweilige historische Gemengelage zu rekurrieren. Die für das Spätmittelalter charakteristische Omnipräsenz von Fehden und Häresie, demografische Veränderungen durch die regelmäßig wiederkehrenden Pestepidemien, klimatische Instabilität und Missernten werden ebenso berücksichtigt wie politische Großereignisse, seien es der Hundertjährige Krieg oder die Bedrohung durch Hussitenkrieg und Türkeneinfälle.

Obschon die eingangs herausgestellte differenzierte Darstellung vornehmlich den zahlreichen (über hundert) Fallbeispielen zu verdanken ist, die Ludwig Schmugge zumeist paraphrasierend oder unter Zitation (Übersetzung) besonders aussagekräftiger Formulierungen supplementär in den Text integriert, wäre stellenweise eine stärkere Ausdeutung (und Ausdünnung) des Materials wünschenswert gewesen. Das Intendierte ließe sich zumeist auch an zwei bis drei Beispielen zeigen, als dass stellenweise fünf bis sechs – zweifellos allesamt lohnende Einzelfälle – angeführt würden, was bisweilen an ein onomastisches Kompendium gemahnt.

Zwar ist es Ludwig Schmugge zugutezuhalten, dass ein solches Darstellungsverfahren sich der heuristischen Methode des Historikers selbst annähert, der Leser mithin – ganz Quellenkritiker – die Gelegenheit erhält, Wissenschaft in statu nascendi nachzuerleben. Die wiederholt aufgeworfenen Fragen des Autors bezüglich möglicher Lesarten der präsentierten Geschehnisse („Wie ging es weiter?“, S. 114) schüren eine solche Rezeption. Narrative Strategien und eine Spannung wie Unmittelbarkeit suggerierende Wortwahl (Temporaladverbien, verkürzte Syntax) stehen in selbiger Funktion, sodass, wie bereits an anderer Stelle bemerkt,4 sich die Paraphrase der Suppliken wie eine Lektüre novellistischer Renaissanceliteratur im Stile Bandellos, Grazzinis oder Boccaccios ausnimmt. So faszinierend die schillernde Welt des Cinquecento mit seiner hochartifiziellen Liebeskasuistik auch sein mag, bedarf es am Ende doch der Rückführung in das Untersuchungsfeld des Historikers. Dies ist immer dann gelungen, wenn der Verfasser als solcher transparent bleibt und sich nicht hinter dem Kompilator (selten) oder dem Erzähler (gelegentlich) verbirgt: Eine knapp gehaltene Synopsis am Ende der Einzelkapitel, sei sie auch aufgrund der Quellenlage präsumtiv, tut der Plastizität der Sache keinen Abbruch, leider fehlt sie mitunter.

Diese angesichts Anlage, Umfang und Durchführung des Projekts unbeträchtlichen Monita sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Ludwig Schmugge die Ehe als bestimmende Lebensgemeinschaft neu positioniert und damit einen entscheidenden Beitrag zur Sozial- und Mentalitäts-, aber auch zur Kirchen- und Rechtsgeschichte des Spätmittelalters geleistet hat. Mit den eruierten Aussagen gelingt es zum einen, in der Frage um die Verbreitung des Kanonischen Rechts im „gemeinen Volk“, an die Forschung anzuknüpfen und bestehende Urteile zu verifizieren.5 Auch im Bereich der Rechtspraxis, meines Erachtens eine der wesentlichen Leistungen des Bandes, erweisen sich die Resultate als anschlussfähig: So war die Konsultierung geistlicher Gerichte durch die Laien bereits Gegenstand der Arbeiten Christina Deutschs.6 Hinsichtlich der Kooperation geistlicher und weltlicher Gerichtsbarkeit wäre künftig (zumindest im Falle Churs und Konstanz') eine Lektüre Ludwig Schmugges vergleichend mit Thomas Albert lohnend.7 Zum anderen gelingt eine die Arbeiten Filippo Tamburinis8 fortführende Ausdifferenzierung der Ehepraxis, die Annahmen über die Klandestinehe als causa essendi gravierender Sozialprobleme (Beatrice Gottlieb9) relativieren.

Schließlich ermöglicht Ludwig Schmugges Betrachtung der Suppliken in einem breiteren, die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts umfassenden zeitlichen Rahmen, eine Neubewertung seiner eigenen Forschungen. Die Vernetzung mit Phänomenen wie der Sozialdisziplinierung oder der Verbreitung einer Rechtskultur mag dabei nicht nur als Brückenschlag hin zur Frühen Neuzeit, sondern auch zu einer erweiterten Leserschaft fungieren, die nach beschlossener Lektüre wahrhaftig „so manches erfahren hat“.

Anmerkungen:
1 Seit 1992 sind bislang sieben Bände erschienen, die den Zeitraum von 1431–1492 abdecken: Deutsches Historisches Institut in Rom, Repertorium Poenitentiariae Germanicum (RPG): Verzeichnis der in den Supplikenregistern der Pönitentiarie vorkommenden Personen, Kirchen und Orte des Deutschen Reiches, <http://www.dhi-roma.it/rep_poen_germ.html> (15.11.2009).
2 Zur Geschichte der Pönitentiarie, die 1913 wiederentdeckt und seit 1986 als Archiv der Wissenschaft zugänglich ist vgl. die Ausführungen Ludwig Schmugges an anderer Stelle: Ludwig Schmugge, Kirche, Kinder, Karrieren. Päpstliche Dispense von der unehelichen Geburt im Spätmittelalter, Zürich 1995.
3 Vgl. Anm. 1. Für den vorliegenden Zeitraum sind die Bände II (Nikolaus V., 1447–1455) bis VII. (Innozenz VIII., 1484–1492) von Relevanz.
4 Michael Borgolte, Meine Ehe ist ungültig. Ludwig Schmugge über eine Alternative zur Scheidung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.9.2009, S. 41.
5 Frederik Pederson, The Legal Sophistication of Litigants in Marriage Cases from Medieval York, in: Kenneth Pennington / Keith H. Kendall (Hrsg.), Proceedings of the 10th International Congress of Medieval Canon Law, Vatikanstadt 2001, S. 965–984.
6 Christina Deutsch, Ehegerichtsbarkeit im Bistum Regensburg (1480–1538), Köln 2005.
7 Thomas D. Albert, Der gemeine Mann vor dem geistlichen Richter. Kirchliche Rechtsprechung in den Diözesen Basel, Chur und Konstanz vor der Reformation, Stuttgart 1998.
8 Filippo Tamburini, Le dispense matrimoniali come fonte storica nei documenti della Penitentieria Apostolica (sec. XIII–XVI), in: Le modèle familial européen. Normes, deviances, contrôles du pouvoir, Actes des séminaires, org. par l'Ecole Française de Rome et l'Università di Roma, Rom 1986, S. 9–30.
9 Beatrice Gottlieb, The Meaning of Clandestine Marriage, in: Robert Wheaton / Tamara K. Hareven (Hrsg.), Family and Sexuality in French History, Philadelphia 1980, S. 49–83.

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