M. Nissen: Populäre Geschichtsschreibung

Titel
Populäre Geschichtsschreibung. Historiker, Verleger und die deutsche Öffentlichkeit (1848-1900)


Autor(en)
Nissen, Martin
Reihe
Beiträge zur Geschichtskultur 34
Erschienen
Köln 2009: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
375 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Horst Gies, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Gern wird unterstellt, es sei schon immer ein Problem der Geschichtswissenschaft gewesen, dass ihre Vertreter – von wenigen Ausnahmen abgesehen – ihre hart und entsagungsvoll erarbeiteten Forschungsergebnisse auf eine Weise präsentieren, die beim breiten Lesepublikum nicht recht ‚ankomme’. Doch dies war nicht immer so. Die vorliegende kulturgeschichtliche Studie, eine Dissertation der Humboldt-Universität, die von Sylvia Paletschek (Freiburg) angeregt und von Rüdiger vom Bruch und Wolfgang Hardtwig betreut wurde, zeigt, dass schon im 18., vor allem aber im 19. Jahrhundert die heute beklagte Trennung von Fachhistorie und populärer Geschichtsschreibung nicht existierte. Empirisch belegt wird dies von Martin Nissen, der zugleich Historiker und Bibliothekswissenschaftler ist, mit Hilfe privater Korrespondenzen von Autoren und Verlegern, Rezensionen, Bibliothekspräsenzen und Ausleihkatalogen, wobei er eine ungewöhnlich große Anzahl von Leihbibliotheken aus dem deutschsprachigen Raum auswertet.

Nissen geht es darum, Strukturen der Wissensproduktion und Wissensrezeption auf dem Feld der Geschichte zu untersuchen. Das geschieht in vier Schritten: Zunächst steht das Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit im Vordergrund. Untersucht wird die Beziehung von universitärer und außeruniversitärer Historiographie, aber auch die zwischen zunehmend spezialisierten Fachhistorikern und fächer- sowie länderübergreifend arbeitenden Publizisten. Dann beschreibt Nissen die verlags-, buchhandels- und bildungsgeschichtlichen Voraussetzungen der populären Geschichtsschreibung. Geschildert werden die Vielfalt der Vermittlungswege historischer Literatur, die Mechanismen des Buchmarktes und auch das Verhältnis von Autor und Verleger sowie das zwischen Verlagen und dem Buchhandel. Mit diesen Schwerpunkten werden die Entstehungskontexte und Veröffentlichungspraktiken populärer Geschichtsschreibung analysiert. Im dritten Kapitel stehen Traditionen, Typen und Darstellungsformen populärer Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert im Fokus Martin Nissens. Das Fallbeispiel, das er ausgewählt hat, mit dem er aber erst am Ende der Abhandlung aufwartet, ist Gustav Freytags kulturgeschichtlicher Longseller „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“, der von 1859 bis 1866 in enger Zusammenarbeit zwischen dem aus dem Universitätsbetrieb ausgeschiedenen Autor und seinem Verleger Hirzel (Leipzig) entstanden ist.

Die Ergebnisse der Studie, die mit manchem beliebten Vorurteil aufräumen, sind: Die Meinung, das 18. Jahrhundert sei von ahistorischem Denken geprägt gewesen, ist angesichts der Breite und Präsenz historischer Werke und Zeitschriften auf einem wachsenden Buchmarkt nicht aufrecht zu erhalten. Die Vermittlungskultur historischer Bildung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde vom Publikumsinteresse und nicht von der sich immer mehr spezialisierenden Fachhistorie bestimmt. Daran hatte gewiss die historische Legitimation der kleindeutschen Nationsbildung in der literarischen Form einer anschaulichen Erzählung ihren Anteil. Um das Verhältnis von historischem Wissen und öffentlicher Teilhabe zu verbessern, waren narrative Darstellungsformen geeigneter als theoretisch fundierte analytische. Die außeruniversitären Geschichtsschreiber begriffen das früher als die universitären Wissenschaftler. Dies wird insbesondere am Beispiel von Zeitschriften, die unterhalten (wie „Die Grenzboten“) und solchen, die den Forschungsstand dokumentieren wollten (wie die „Historische Zeitschrift“) verdeutlicht.

Auch das Vordringen der Geschichte ins Zentrum der bürgerlichen Bildungskultur spielte eine nicht unwesentliche Rolle für den Erfolg populärer Historiographie im 19. Jahrhundert. Nissen betont, dass eine eindeutige und trennscharfe Unterscheidung von wissenschaftlicher und populärer Geschichtsschreibung „von Beginn an“ (S. 16) schon nicht möglich gewesen sei. Wie bei der Popularisierung der explodierenden Erkenntnisse der Naturwissenschaften, die damals einen beispiellosen Aufschwung erlebten, seien in der Geschichtsschreibung dieser Zeit die Übergänge zwischen wissenschaftlicher und populärer Vermittlung sowohl bei den Inhalten als auch bei den Darstellungsformen eher fließend gewesen. Alle Versuche einer Abgrenzung nach dem Schema Objektivität – Subjektivität, Wissenschaft – Kunst oder Politikgeschichte – Kulturgeschichte seien damals schon obsolet gewesen. Auch die Kennzeichnung der volkstümlichen und allgemeinverständlichen Geschichtsschreibung als trivial oder gar verfälschend, wie es manche Fachhistoriker damals versuchten, sei nicht akzeptabel. Dafür gäbe es zu viele Beispiele subjektiver Einmischung von Universitätshistorikern insbesondere bei zeitgenössischen politischen Streitfragen. Ihr Vorwurf des Dilettantismus an die außeruniversitär tätigen Historiker, vorgetragen unter Ausnutzung der Aura der Wissenschaftlichkeit, sei häufig unberechtigt gewesen.

Der Topos der unüberwindlichen Kluft zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit im Deutschland des 19. Jahrhunderts wird also gründlich hinterfragt. Dies trifft auch zu für den Unterschied zwischen quellenbasierter Geschichtsschreibung, die auch den Erkenntnisprozess transparent macht, und fiktionaler historischer Belletristik, wie etwa dem historischen Roman. Eine Abgrenzung habe schon deshalb sichtbar stattgefunden, weil die seriöse, populär ausgerichtete Geschichtsschreibung keineswegs auf eine Berücksichtigung des Forschungsstandes und eine quellenkritische Benutzung der Überlieferung verzichtet habe. Allenfalls hielt sie den Nachweis in einem breit angelegten Anmerkungsapparat für überflüssig, um die Lesbarkeit der Texte zu erleichtern. Weiterhin stellt Martin Nissen fest, dass von der populären Geschichtsschreibung nicht nur affirmative, sondern auch innovative Einflüsse auf die professionell betriebene Historiographie ausgingen, weil sie kulturgeschichtliche Themen bevorzugte und fächer- sowie länderübergreifend arbeitete.

Es war schon immer ein Ideal der Historiographie, eine Einheit von Wissenschaftlichkeit und Allgemeinverständlichkeit zu erlangen. Es ist das Verdienst dieser Studie, die entsprechenden Fragestellungen auf die populäre Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts angelegt zu haben, die bisher in der historiographiegeschichtlichen Forschung vernachlässigt worden ist. Dies geschieht hinsichtlich der Transparenz von Untersuchungsgegenstand, Arbeitsmethode und Darstellungsform in vorbildlicher Weise. Dies trifft auch für die Plausibilität der Gliederung der Arbeit zu, die den Erkenntnisprozess und die Ergebnisse der Forschungen Nissens widerspiegelt.

Gegenüber den wichtigen und neuen Erkenntnissen, welche die Studie präsentiert, spielen Einwände nur eine untergeordnete Rolle: Es fehlt die großdeutsche historisch-politische Publizistik (z.B. Konstantin Frantz) und der Didaktikbegriff Nissens ist zu einseitig und verkürzt auf Belehrung reduziert. Er vermeidet es bewusst, von „Wissenspopularisierung“ oder gar von „Präsentation von Wissen“ zu sprechen (S. 13 und S. 324). Stattdessen bevorzugt er zu Recht den Begriff „Wissensvermittlung“. Die Entstehung von Geschichtsbewusstsein durch Vermittlung von Geschichte – nicht nur Belehrung mit Hilfe von Geschichte unter anderem in der Schule – ist aber das Arbeitsfeld der Geschichtsdidaktik schon seit den 1970er-Jahren. Den Namen Karl-Ernst Jeismann sucht man im Literaturverzeichnis dieser Studie leider vergebens.