M. Juneja u.a. (Hrsg.): Religion und Grenzen in Indien und Deutschland

Titel
Religion und Grenzen in Indien und Deutschland. Auf dem Weg zu einer transnationalen Historiographie


Herausgeber
Juneja, Monica; Pernau, Margrit
Erschienen
Göttingen 2008: V&R unipress
Anzahl Seiten
476 S.
Preis
€ 61,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Neubert, Religionswissenschaftliches Seminar, Universität Luzern

In letzter Zeit ist ein wachsendes Interesse der kulturwissenschaftlich orientierten Geschichtswissenschaft an Prozessen sozialer Identitätsbildung und der Ziehung von (realen und imaginären) Grenzen zu beobachten. Davon zeugt auch der vorliegende Band. Er enthält Beiträge, die sich auf Grenzziehungsprozesse durch und zwischen Religionen in Südasien und Deutschland konzentrieren. Das Buch gliedert sich in eine Einleitung und vier Teile, welche die Rolle von Religion(en) in verschiedenen Grenzziehungsprozessen (religiöse Gruppen, Nationen, Geschlechter, soziale Schichtungen) zum Thema haben.

Die Einleitung der Herausgeberinnen soll methodisch, begrifflich und typologisch zum theoretischen Rahmen des Bandes hinleiten. Sie greift die wissenschaftshistorischen und methodologischen Problematiken von Komparatistik, Globalgeschichte und Übersetzung aus einer „postkolonialen“ Perspektive auf, um danach Religionsbegriffe zu erläutern (S. 18-22). Eine eingehende Diskussion des Begriffs der Transnationalität vermisst man angesichts der derzeit laufenden sozial- und kulturwissenschaftlichen Debatten über transnationalism. An die Klärungsversuche schließen sich Abschnitte zur Einordnung der einzelnen Teile des Bandes an. Leider stellen Juneja und Pernau dabei zwar viele Fragen in den Raum, geben aber nur wenige Antworten. Der Text gibt so kaum eine Orientierung für die weitere Lektüre. Überdies machen lange und komplizierte Sätze die Lektüre zu einem harten Stück Arbeit, zumal im Zusammenwirken mit dem Fehlen klarer positiver Aussagen zu den angesprochenen methodischen Desiderata.

Shail Mayaram geht in ihrem Beitrag der Frage nach, was die Konzepte von Synkretismus und Liminalität zur Erforschung der „Grenzen zwischen religiösen Gruppen“ (so der Titel des ersten Teils des Buches) beitragen können. Sie geht dabei von der Feststellung aus, dass es nicht nur weltweit, sondern speziell in Indien eine große Zahl von Gemeinschaften gebe, die multiple religiöse Zugehörigkeiten aufweisen. In Anbetracht der im modernen Religionsdiskurs herrschenden Vorannahme, dass religiöse Identitäten eindeutig bestimmt sein müssen, ruft Mayaram dazu auf, im Sinne eines (friedlichen) Zusammenlebens „die Legitimität nicht-exklusivistischer Weisen religiösen Seins“ (S. 74) anzuerkennen. Thomas Mergel betrachtet „konfessionelle Grenzen und überkonfessionelle Gemeinsamkeiten im 19. Jahrhundert“. Er fragt in seinem starken, überblicksartigen Beitrag nach „Nähen“ und „Grenzen“ der christlichen Konfessionen im Europa und speziell im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Er beschreibt „soziale Annäherungen über die Konfessionen hinweg“ (S. 97) als Grenzen auflösende Erscheinungen in einem von Privatisierungstendenzen geprägten Religionsdiskurs. Als Hauptmotoren dieser Privatisierung benennt Mergel die vor allem protestantisch geprägte Arbeiterschaft sowie das protestantische Bürgertum. Den Niederschlag von Annäherung und Differenzkonstruktion zwischen den Konfessionen in der Sakralarchitektur des 19. Jahrhunderts betrachtet Barbara Stambolis in ihrem Beitrag.

Die auf Indien bezogenen Beiträge des ersten Teils beschäftigen sich mit interreligiösen Grenzen und Grenzüberschreitungen im Rahmen der Missionsgeschichte. Monica Juneja analysiert die Quellen der frühen Halleschen und Leipziger Missionare in Tranquebar (Südindien) auf die „diskursive Errichtung von Grenzen“ und „ihre Überwindung in der Praxis“ (S. 129). Mission interessiert Juneja dabei unter dem Aspekt der Begegnung zwischen Religionen, wobei als zentrale grenzüberschreitende Akte Konversionen untersucht werden, soweit sie in den Quellen fassbar sind. Mit der Biographie eines zum Christentum konvertierten Hindus befasst sich Sudhir Chandra.

Der zweite Teil des Buches umfasst fünf Beiträge zur Rolle von Religion(en) bei der Bildung nationaler Identitäten. Einen Überblick über die Leistungen der neueren Nationalismusforschung seit 1983 liefert Heinz-Gerhard Haupt. Während in den folgenden Fallstudien für Deutschland die Frage der Zugehörigkeit der Juden zur deutschen Nation (Uri W. Kaufmann) und Diskurse des Ausschlusses des Katholizismus aus der deutschen „Hochkultur“ im 19. Jahrhundert (Manuel Borutta) im Mittelpunkt stehen, geht es in Bezug auf Indien um die Konstruktion der indischen Nation bei Gandhi (Claude Markovits) und um die Teilung Indiens (Gyanendra Pandey). In all diesen Fällen ist die Frage der Definition religiöser Zugehörigkeiten eng verknüpft mit den Prozessen der Nationenbildung, in Deutschland durch Ausschluss aus der Nation, in Indien durch die Herausbildung zweier sich aufgrund religiöser Zugehörigkeit voneinander abgrenzender Nationen.

Der Teil „Religion und die Grenzen zwischen den Geschlechtern“ beginnt mit einem Beitrag von Margit Pernau. Sie zeigt darin anhand katholischer Andachtsbücher während des Kaiserreichs auf, wie Interessenverschiebungen zu Veränderungen des Geschlechterdiskurses führen. Im Zuge der neuen katholischen Identitätsbildungsprozesse weichen traditionelle Geschlechterrollen angesichts der erlebten Ausgrenzung in nationalen Diskursen (Beitrag Borutta) auf: „[…] Grenzen zwischen männlichen und weiblichen Aufgaben konnten, ja mussten überschritten werden, wenn die Verteidigung der Außengrenze dies erforderte“ (S. 299). Ulrike Gleixner wendet sich der Aneignung größerer Handlungsmacht durch pietistische Frauen zu und wertet diese als wichtigen Schritt auf dem Weg zu modernen Gleichberechtigungsdiskursen. Auch ihr gelingt es, die Interdependenzen zwischen verschiedenen Diskursfeldern zu verdeutlichen, die dazu führten, dass die Geschlechterdurchmischung sich langsam auch außerhalb der engeren religiösen Kreise ausbreiten konnte. Der stellenweise deutlich feministische Unterton hätte zugunsten der historischen Analyse allerdings weiter zurücktreten dürfen. Barbara D. Metcalf fragt in ihrem Beitrag nach den Gründen für das beinahe vollständige Fehlen von Frauen in der politischen Ideologie und Historiographie der Muslime im Indien des 19. Jahrhunderts. Dies falle besonders im Vergleich mit den hindureformerischen Bestrebungen im gleichen Zeitraum ins Auge. Metcalf gewinnt von dieser Frage aus Einsichten in die Identitätsbildungsprozesse der Muslime in Indien: Diese seien zu weit entfernt vom gängigen Diskurs der Nationenbildung gewesen, um für die spätere Gründung eines eigenen Staates Pakistan gewappnet zu sein. Der Beitrag von Malavika Kasturi wendet sich aus gendertheoretischer Perspektive einmal Männlichkeitsdiskursen zu. Rajput-Identität konnte, wie sie zeigt, nach außen gegenüber der Kolonialmacht durch spezifisch „männlich“ unterlegte und auf Kriegerschaft fokussierte Strategien erwiesen werden, was dann auch Auswirkungen auf Strukturen innerhalb der als rajputisch definierten Gemeinschaften zeigte.

Im Teil „Religion und soziale Grenzen“, befasst sich Michael N. Ebertz zunächst mit Vorstellungen von „Volksreligiosität“ und verwandten Ideen. Sein Beitrag zeichnet eine kurze Geschichte der Abgrenzungsdiskurse um „Volksreligion“ nach, bevor er den Begriff der popularen Religion als relationalen Terminus einführt, der nur in Zusammenhang „mit einer Gegengröße, der offiziellen Religiosität“ sinnvoll verwendet werden könne (S. 383). Die postulierten Beziehungen zwischen den Typen popularer Religion und sozialen Grenzen, auf die Ebertz eingeht (Familien, „agrarische Gemeinschaften“) werden dabei nicht weiter spezifiziert. Frank Konersmann zeigt, wie sich wandelnde Inklusions- und Exklusionsinteressen der Gesellschaft gegenüber der religiösen Minderheit der Mennoniten deren sozialen Status mitbestimmten und wie diese Interessen in die Selbstverortungsdiskurse der Mennoniten einflossen. Margit Pernau fragt in ihrem zweiten Beitrag am Beispiel einer muslimischen Händlergemeinschaft in Delhi nach der Dynamik sozialer Hierarchien und ihrem Bezug zu religiösen Zugehörigkeiten. Es geht um eine Gemeinschaft von zum Islam konvertierten Händlern, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu großem Wohlstand gelangte. Die Prozesse des Statusgewinns und ihre Verstärkung durch Herstellung von historischen Bezügen zu islamischen Reformbewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts werden von Pernau deutlich herausgearbeitet. Im letzten Beitrag untersucht Martin Fuchs die Ausgrenzung und Identitätsbildung der indischen Unberührbaren. Im gesamten Band reflektiert er am ausführlichsten und konsequentesten die begrifflichen Grundlagen von „Grenzen“ und „Religion“ (S. 447-458). In der Darstellung des Beispiels der Dalits zeigt Fuchs, dass Diskurse der extrem Marginalisierten eine besondere Affinität zu „Positionen des Respekts für andere Optionen“ aufweisen: Sie „betonen [...] die existenzielle Relevanz des Anderen als prinzipieller Möglichkeit auch für das eigene Selbst, ohne die universelle Reichweite des einen wie des anderen infrage zu stellen“ (S. 468).

Der Band bezieht seine Stärke aus den vielen, für sich genommen meist sehr interessanten und guten Einzelbeiträgen, während der durch die Begriffe „Religion“ und „Grenzen“ angedeutete rote Faden verborgen bleibt, da es der Einleitung nicht gelingt, das Buch als ein theoretisch und methodisch innovatives Ganzes zu präsentieren. Dazu trägt auch die Tatsache bei, dass die sehr disparaten Themenfelder (Nation, Geschlecht, religiöse Gruppen, soziale Hierarchien) sich unter einem Rahmenthema wie „Religion und Grenzen“ nur schwer zu einem einheitlichen Ganzen verweben lassen.