M. von Salisch: Treue Deserteure

Cover
Titel
Treue Deserteure. Das kursächsische Militär und der Siebenjährige Krieg


Autor(en)
von Salisch, Marcus
Reihe
Militärgeschichtliche Studien 41
Erschienen
München 2009: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
X, 336 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Sikora, Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Die vorliegende Arbeit begleitet die kursächsischen Truppen durch den Siebenjährigen Krieg. Damit sind von vornherein zwei ganz unterschiedliche Besonderheiten programmiert. Zum einen muss sich das Buch neben der umfassenden Kulturgeschichte des sächsischen Militärs im 18. Jahrhundert, die Stefan Kroll 2006 vorgelegt hat, behaupten. Zum anderen steht zwangsläufig eine kriegsgeschichtliche Kuriosität im Mittelpunkt, nämlich die Tatsache, dass das Gros der kursächsischen Armee schon im Oktober 1756 nach der Kapitulation bei Pirna in preußische Gefangenschaft geriet, ja mehr noch, der preußischen Armee einverleibt wurde. Der paradoxe Titel des Buches spielt darauf an, dass sich mehrere Tausend sächsische Soldaten dieser Form der Zwangsverpflichtung entzogen.

Das Buch erzählt chronologisch. Das erste Kapitel referiert die Vorgeschichte der Verwicklung Sachsens in den Krieg. Das zweite und längste Kapitel verfolgt minutiös die Geschehnisse vom Vorabend des Krieges bis zur Kapitulation. Daran schließt sich ein Abschnitt mit Beobachtungen über die Reaktionen der Sachsen nach ihrer Zwangseingliederung in das preußische Heer an. Dass damit allerdings die Geschichte noch nicht zu Ende war, führt das vierte Kapitel vor Augen, das das Schicksal der aus den Deserteuren gebildeten Formationen unter fremdem Oberkommando verfolgt. Der Umgang mit den Überläufern oder Rückkehrern, wie man es nimmt, wurde in Gestalt des „Sammlungswerks“ rasch institutionalisiert. Daraus wurde ein beachtliches Korps aus Fußtruppen formiert, das schließlich auf den westlichen Kriegsschauplatz geführt wurde, dort auf Kosten und unter dem Oberkommando Frankreichs focht und immer wieder aus dem Sammlungswerk verstärkt werden konnte. Vervollständigt wird dieser Überblick durch die Einbeziehung der sächsischen Kavallerie, die nicht an den Operationen bei Pirna beteiligt war und daher in ursprünglicher Formation dem österreichischen Oberkommando als Verstärkung überstellt werden konnte. In einem letzten Abschnitt werden die Maßnahmen der Reorganisation nach dem Krieg skizziert.

Die Darstellung kann aus einer gründlichen Auswertung der teilweise älteren und entlegenen Literatur und aus zahlreichen archivalischen Quellen schöpfen. Daraus entsteht ein relativ lückenloses Panorama mit einer Fülle von aufschlussreichen Einzelheiten. Aus einer sozialhistorischen Perspektive fallen vor allem die Befunde über die Reaktionen der sächsischen Soldaten nach der Übernahme in die preußische Armee ins Auge. Das gilt etwa für die Sonderrolle der Offiziere, die nicht zum Dienst gezwungen wurden, die Rolle der Unteroffiziere, die an ihrer statt in Führungsrollen hineinwuchsen, die vielfältige Unterstützung und Ermunterung, die die Deserteure erfuhren, auch den Grad der Organisation, der diese massenhaften Regelverstöße in routinierte Bahnen lenkte. Daneben steht aber auch beispielsweise die beinahe dramatische Rekonstruktion der Vorgänge, die zur Kapitulation führten, bis hin zum verzweifelten und chaotischen Ausbruchsversuch über die Elbe und das vergebliche Warten auf österreichischen Entsatz. Auch das Gesamtkonzept, bei dem sich zwangsläufig Pirna und die Folgen in den Vordergrund drängen, das aber trotz der Ungleichgewichtigkeiten darauf beharrt, dass damit die Geschichte der sächsischen Armee im Siebenjährigen Krieg nicht beendet war, vermittelt ein berechtigtes Anliegen.

Gemäß den geschilderten Inhalten kommt der größte Teil des Buches als Operationsgeschichte daher. Insofern ergeben sich tatsächlich nur wenige Berührungspunkte mit Stefan Krolls Studie, die zwar sowohl Kapitulation und Sammlungswerk als auch das Kriegserleben der Soldaten anspricht, aber doch nur summarisch und gerade nicht in einer operationsgeschichtlichen Absicht. Marcus von Salisch will genau dies und verbindet damit, im Anschluss an jüngere Diskussionsbeiträge, die erklärte Absicht, diesen angestaubten und unansehnlich gewordenen Zweig der Militärgeschichte zu modernisieren. Dieses Ziel soll vor allem durch die Erweiterung der Perspektive über den Feldherrnhügel hinaus erreicht werden, im konkreten Fall durch Einbeziehung von soziologischen, alltagsgeschichtlichen und Motivationsaspekten.

Daraus folgt konkret, dass die primär narrativ, auf punktuelle Kausalitäten ausgerichtete Darstellung mit Beobachtungen aus der Perspektive von unten, oder genauer: auf unten, angereichert wird, wobei die Probleme der Belastbarkeit und Motivation der Soldaten ja auch der klassischen Operationsgeschichte nicht völlig fremd waren. Diese Kombination mündet allerdings auch in ein gewisses Dilemma. Denn der Vorrang der Chronologie, der dem operationsgeschichtlichen Erkenntnisinteresse geschuldet ist, bringt es mit sich, dass diese Beobachtungen nur eingestreut werden können. Dabei wären sie es wert, gebündelt und im Zusammenhang systematisch diskutiert zu werden. Der Erkenntnisgewinn betrifft dabei nicht so sehr das Phänomen der Desertion, dazu sind die Umstände zu einzigartig. Zu Recht hebt der Autor aber immer wieder darauf ab, dass gerade unter diesen Umständen das kollektive Verhalten von Soldaten in besonderer Weise herausgefordert war und sich daher wie in einer experimentellen Extremsituation beobachten lässt. Erst die Tatsache, dass die preußische Seite die sächsischen Verbände beisammen ließ, schuf daraus eine kritische Masse, die dann zu solch eigentlich unerhörten Konsequenzen führte. Dabei machten sich gemeinsame Loyalitäten bemerkbar, aber auch Widerstände gegen die preußischen Disziplinierungspraktiken und die besondere Rolle der Unterführer.

Inwieweit die preußischen Maßnahmen selbst als unerhört betrachtet wurden, bleibt ein wenig unterbelichtet. Die Art und Weise, wie die Zeitgenossen das preußische Vorgehen öffentlich skandalisierten oder legitimierten, kommt nur aus zweiter Hand zur Sprache. Eine solche diskursgeschichtliche Perspektive auf die Frage, wie in dieser Situation Recht und Unrecht diskutiert und konstituiert wurden, wäre zwar im Hinblick auf die Motivationsangebote für die Soldaten wohl nicht ganz ohne Bedeutung, würde aber, das muss man zugeben, den durch Fragestellung und Methode gesetzten Rahmen sprengen.

Dass der Anspruch auf eine solcherart erweiterte Operationsgeschichte tendenziell in zwei auseinander laufende Perspektiven weist, kommt in der Zusammenfassung noch deutlicher zum Ausdruck. Dort wird zum einen die Führung der Operationen diskutiert, also die Motive der Entscheidungen und deren militärische Folgen; Aspekte, die zwangsläufig nur aus retrospektiven Lagebeurteilungen extrapoliert werden können. Gegenüber den zeitgenössischen Anschuldigungen ist die Darstellung besonders darum bemüht, dem Befehlshaber Friedrich August Graf von Rutowski gerecht zu werden. Die Belagerung erscheint zudem in milderem Licht, weil die preußischen Kosten im Hinblick auf den weiteren Kriegsverlauf, insbesondere der Zeitverlust, höher veranschlagt werden.

Zum anderen wird das Verhalten der einfachen Soldaten erörtert. Vielleicht ist es einem operationsgeschichtlichen Sog zuzuschreiben, dass die analytischen Ansätze auch in dieser Perspektive in Bewertungen münden, die schon beinahe wie eine Art Ehrenrettung der sächsischen Soldaten anmuten. Ihnen werden gute Zeugnisse über ihre militärische Leistungsfähigkeit ausgestellt, womit denn auch ihre Erinnerung als große Verlierer korrigiert werden soll. Die einzelnen, durchaus differenzierten Beobachtungen über das Fluchtverhalten der „treuen Deserteure“ werden tendenziell auf eine konsistente, patriotisch inspirierte Grundhaltung zugespitzt. Angesichts der vielschichtigen und viel diskutierten Bedeutung der Kategorie Patriotismus gerade im 18. Jahrhundert wird dieses Attribut hier ziemlich pauschal verteilt. Da ließen sich bei Stefan Kroll doch Vorschläge für eine differenziertere Handhabung aufgreifen, die gerade auf diesen speziellen Kontext zugeschnitten sind.

Unter dem Strich bietet dieses Buch dem Leser also eine breit untermauerte, sehr belesene und belehrende Gesamtdarstellung und darüber hinaus, vor allem den Fachleuten, bedenkenswerte methodische Anregungen und Thesen. Ob damit aber das letzte Wort über eine an die heutigen Debatten unseres Fachs anschließende, konsistente Konzeption von Operationsgeschichte gesagt ist, sei dahin gestellt – schon um der Frage auszuweichen, ob das wirklich ein erfolgversprechendes Projekt wäre.

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