S. Rajagopalan: Indian Cinema and Soviet Movie-going

Cover
Titel
Leave Disco Dancer Alone!. Indian Cinema and Soviet Movie-going after Stalin


Autor(en)
Rajagopalan, Sudha
Erschienen
New Delhi 2008: Yoda Press
Anzahl Seiten
xvi, 241 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tobias Rupprecht, European University Institute, Florenz

Braucht die Welt ein Buch über indische Filme in der Sowjetunion? Was zunächst klingt wie Loriots "Neues aus Wissenschaft und Forschung", erweist sich bei der Lektüre als ein durchaus aufschlussreicher Einblick in Kulturpolitik und -konsum der poststalinistischen UdSSR. Tatsächlich feierte Bollywood in der scheinbar so isolierten Sowjetunion Erfolge überraschenden Ausmaßes. Zwischen Stalins Tod 1953 und dem Ende der UdSSR kamen nicht weniger als 210 indische Filme in sowjetische Kinos, von denen die Mehrzahl enorme Kassenschlager wurden. Das Melodrama „Awara“ etwa rührte allein 1954 über 60 Millionen Sowjetbürger zu Tränen und war damit der erfolgreichste Film der Dekade – anscheinend noch vor bis heute bekannten sowjetischen Klassikern wie Michail Kalatosows „Letjat schuravli“ („Es fliegen die Kraniche“). Während die Kulturgeschichte der Sowjetunion oft als die Verwestlichung einer zuvor weitgehend abgeschotteten Sonderwelt erzählt wird, gibt die Autorin Sudha Rajagopalan ein überzeugendes Beispiel, dass zumindest bis in die 1960er-Jahre die sich formierende Dritte Welt ebenso großen Einfluss auf den kulturellen Horizont vieler Sowjetbürger hatte.

Als indischstämmige Russlandhistorikerin mit amerikanischer Ausbildung und holländischem Wohnsitz bringt die Autorin günstige biographische Voraussetzungen für ihr weitgehend gelungenes Stück sowjetischer Globalgeschichte mit. Ihrem Buch hätte ein bisschen mehr historischer Kontext von Kaltem Krieg, Dekolonisierung und sowjetischen Avancen in Richtung der Entwicklungsländer allerdings nicht geschadet – und darüber hinaus deutlich machen können, dass ähnliche rückwirkende Folklorephänomene durchaus auch von anderen Regionen der Dritten Welt ausgingen.1 Die Erkenntnis, dass indische Filme in der Sowjetunion populär waren, wäre allein etwas dürftig. Die Stärke des Buches liegt aber in seinem methodischen Ansatz, der die Filme in Bezug setzt zur Interaktion von Zuschauern, Kulturoffiziellen und Mediatoren. Diese Fragestellung stellt „Disco Dancer“ somit in den Kontext von Arbeiten über die zuletzt verstärkt ins Interesse der Forschung gerückten Aspekte um Konsum und Kultur im Tauwetter.2

In Ermangelung zeitnaher Quellen nähert sich Rajagopalan zunächst über Fragebögen und Interviews der Erinnerung von Moskauern an ihre zum Teil recht lange zurückliegenden Erfahrungen mit indischen Filmen. Wie wurden sie rezipiert, was motivierte, was begeisterte das Publikum? Die in der Mehrzahl melodramatischen indischen Filme verhandelten rein private, nicht soziale Probleme. Mit viel Musik und Tanz und einem Hauch Glamour boten sie einen Blick auf sonst nicht zugängliche exotische Welten – Aspekte, die in den Augen der Zuschauer in sowjetischen Filmen zu kurz kamen. Gegenüber dem westlichen Kino, das ohnehin nur selektiv in der UdSSR gezeigt wurde, erwies sich das indische als anschlussfähiger: Einfache Gut-Böse-Schemata, keine Gewalt und noch nicht einmal andeutungsweise Sex entsprachen den recht biederen Moralvorstellungen des sowjetischen Publikums. Das vielleicht interessanteste Ergebnis der Interviews: Auch wenn Bösewichte in den Filmen oft machtsüchtige Politiker oder Bürokraten waren, bezog kein einziger der befragten Zuschauer dies auf das Leben im sowjetischen System – der Kinobesuch war kein Akt der Resistenz, sondern ein rein eskapistischer.

Die Auswahl der Filme durch staatliche Behörden ist Gegenstand des zweiten Kapitels. Rajagopalan rekonstruiert über den offiziellen Diskurs und Archivmaterial der beteiligten Stellen, warum diese ideologisch eigentlich gar nicht so recht passenden Filme überhaupt in dieser Anzahl in der Sowjetunion gezeigt wurden. Anfang der 1950er-Jahre hatten sowjetische Filmemacher aufgrund der rigiden spätstalinistischen Kulturpolitik immer weniger Filme produziert, die nun auch nach dem Tod des Diktators fehlten. Die Nachfrage war aber riesig. Bezeichnend für die neue Führung war, dass sie sich tatsächlich auch um die Konsumwünsche ihrer Bevölkerung – zumindest ansatzweise – scherte. Zudem hatte Indien den Vertrieb sowjetischer Filme an den Ankauf indischer durch die UdSSR geknüpft. Kulturoffizielle entschieden hier oft zuungunsten ideologischer Prämissen auf pragmatische Weise. Zwar benötigte der staatliche Filmvertrieb Goskino bis 1965 noch für jeden einzelnen Film das Plazet des Zentralkomitees. Wie lax dieser Auswahlprozess aber gerade bei den bewährten Filmen aus Indien geführt wurde, erfährt man aus einem Interview mit einem ehemaligen Verantwortlichen.

In einem dritten Schritt schließlich stellt Rajagopalan die Frage nach der Interaktion von Zuschauern und Offiziellen. Aufschluss darüber geben einerseits Briefe der Filmfreunde an Fachzeitschriften und staatliche Organe sowie die Organisation von Fangruppen, andererseits der Diskurs von Mediatoren, also Filmkritikern und Soziologen. Die Mediatoren hatten weiterhin offiziell den pädagogischen Auftrag, den Massengeschmack nicht nur zu analysieren, sondern normativ auf ihn einzuwirken. Die Mehrzahl der Zuschauer aber, das kommt nun nicht mehr überraschend, wollte unterhalten und nicht belehrt werden. Während Filmkritiker nicht ohne „paternalistische Herablassung“ (S. 118) nur die wenigen, vom Publikum kaum wahrgenommenen indischen Arthouse-Filme lobten, erwähnten sie die Melodramen gar nicht, obwohl sie enorme Kassenschlager waren, oder verurteilten sie als bourgeoisen Kitsch. An der Importpolitik aber änderte das nichts. Zusammen mit den recht offen geführten Debatten in den Fachzeitschriften zeigt dies ein Ausmaß an Vielstimmigkeit und Heterogenität, gar Ansätzen einer Öffentlichkeit, das zu Zeiten des Stalinismus undenkbar gewesen wäre.

Ein paar Schwächen schließlich hat das Buch auch: Zum Teil ist nicht ganz klar, woher die Informationen stammen. Rajagopalan übernimmt leider die gängige Unsitte, ihre Archivdokumente nicht beim Namen zu nennen – mit den kryptischen russischen Archivkürzeln allein kann man recht wenig anfangen. Wer? Wem? Wann?, fragt man sich da des Öfteren. In der Einleitung erklärt sie zudem, keinen Zugang zu offiziellen Zuschauerdaten bekommen zu haben – um dann in Text und Anhang sehr präzise Zahlen zu nennen. Auch wären Zuschauerzahlen zu sowjetischen Produktionen als Vergleichsmaßstab interessant gewesen. Letztere kommen ein bisschen zu schlecht weg im Buch. So blutleer, überideologisiert und unbeliebt wie Rajagopalan sie schildert waren sie keineswegs alle. Bis heute erfreut sich der russische Fernsehkanal Kultura mit seinen endlosen Wiederholungen sowjetischer Filmklassiker höchster Beliebtheit. Warum die Autorin den Kinobesuch gegen Ende als „Ausdruck eines Strebens nach kulturellem Kapital (Wissen und Information)“ (S. 143) liest, bleibt unklar. Bourdieu hätte zu dem Distinktionsgebaren der Mediatoren sicher mehr hergegeben, als zum Eskapismus der gewöhnlichen Zuschauer. Trotz einiger Wiederholungen und manchmal fehlender Seitenblicke ist das Buch handwerklich-methodisch gut, zugänglich und mit knapp 180 Seiten erfreulich konzis. Die Erkenntnis ist, dass mit dem Tauwetter die Außenwelt als Bezugs- und Orientierungspunkt eine immer größere Rolle spielte, und dass die Kulturgeschichte der poststalinistischen Sowjetunion viel komplexer und heterogener war, als die Meistererzählung von parochialen Behörden und Verwestlichung des Massengeschmacks.

Anmerkungen:
1 Zu den sowjetischen Beziehungen zur Dritten Welt: Odd Arne Westad, The Global Cold War. Third World Interventions and the Making of our Times, Cambridge 2007; Bernd Stöver, Der Kalte Krieg. 1947-1991. Geschichte eines radikalen Zeitalters, München 2007; zur Folklorisierung als einziger knapp: Vladislav Zubok, A Failed Empire. The Soviet Union in the Cold War from Stalin to Gorbachev, Chapel Hill 2005; speziell zu Indien: Andreas Hilger, Revolutionsideologie, Systemkonkurrenz oder Entwicklungspolitik? Sowjetisch-indische Wirtschaftsbeziehungen in Chruschtschows Kaltem Krieg, in: Archiv für Sozialgeschichte 48 (2008), S. 389-410; David Engerman, The Romance of Economic Development and New Histories of the Cold War, in: Diplomatic History 28 (2004), S. 23-54.
2 So etwa Melanie Ilic / Jeremy Smith (Hrsg.), Soviet State and Society under Nikita Khrushchev, New York 2009; Polly Jones (Hrsg.), The Dilemmas of De-Stalinization. Negotiating Cultural and Social Change in the Khrushchev Era, London 2007; Susan Reid, Cold War in the Kitchen. Gender and De-Stalinization of Consumer Taste in the Soviet Union under Khrushchev, in: Slavic Review 61 (2002), S. 211-252.

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