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Titel
Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR


Autor(en)
Kowalczuk, Ilko-Sascha
Erschienen
München 2009: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
602 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus-Dietmar Henke, Institut für Geschichte, Technische Universität Dresden

In einem Punkt ist Ilko-Sascha Kowalczuks „Endspiel“ bereits überholt, nämlich in seinem eindringlichen Plädoyer dafür, endlich den Widerwillen dagegen zu überwinden, die Revolution von 1989 eine Revolution zu nennen. Die ebenso erfreuliche wie ohrenbetäubende politisch-mediale Begleitmusik zur zwanzigsten Wiederkehr des ostdeutschen Aufbruchs zur Demokratie und des Mauerfalls hat ihr Soll in dieser Hinsicht übererfüllt. Wie die seinerzeitigen Protagonisten der Revolution reden inzwischen alle von Revolution. Sogar die FAZ staunte darüber, wie entschieden die bundesrepublikanische Geschichtsvorstellung die revoltierenden DDR-Bürger inzwischen als „die eigentlichen Schöpfer der deutschen Einheit anerkannt“ hat.1

In der Zeitgeschichtswissenschaft ist diese Einordnung ohnehin nicht mehr ernstlich umstritten, auch wenn die zugrunde liegenden revolutionstheoretischen Überlegungen divergieren oder ganz fehlen. Jedenfalls etablierte die ostdeutsche Revolution durch eine Massenmobilisierung dauerhaft gerade jene Verhältnisse, die das alte Regime explizit ausgeschlossen hatte. Nachgerade schlagartig zeigte sich die Übereinstimmung in der Qualifizierung der Monate zwischen Herbst 1989 und Frühjahr 1990 in allen größeren Publikationen, die zu diesem Jubiläum auf den Markt kamen.2

Ilko-Sascha Kowalczuks Werk ist das gewichtigste unter den wichtigen neueren Publikationen zum Thema – nicht nur, weil seine Studie bei aller nüchternen Präzision der Analyse von einer selten gewordenen Leidenschaft für ihren Gegenstand getragen ist; nicht nur, weil sie eine verblüffende Breite und Intensität bei der Verarbeitung der Quellen an den Tag legt; auch nicht nur, weil das Buch ungemein lebendig und mitunter sehr witzig erzählt (das Kapitel „Zwischentöne“ kann als historiographisch-literarisches Glanzstück gelten). Der Rang des Werkes wird vor allem dadurch begründet, dass es Kowalczuk gelingt, die in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre einsetzende „politische, gesellschaftliche und kulturelle Krise“ (S. 291), die der ostdeutschen Revolution voraus lag und ohne deren genaue Kenntnis das plötzliche Aufplatzen scheinbar auf ewig betonierter Verhältnisse mysteriös bleiben müsste, in bisher unerreichter Tiefe und Farbigkeit zu erklären. Dabei werden die innen- und außenpolitischen Konjunkturen, ökonomische Blockaden und Malaisen, alternative Subkulturen, treffende Psychogramme, Stimmungen und Unterströmungen in verschiedenen Milieus bis hin zur Ton angebenden Glaubensgemeinschaft SED so miteinander verknüpft, wie das eine wissenschaftliche Krisendiagnose eben tun muss. Sie umfasst mehr als die Hälfte des Buches.

Die beiden folgenden Kapitel „Von der Gesellschafts- zur Diktaturkrise“ und „Untergang einer Diktatur“, die mit den Volkskammerwahlen am 18.März 1990 enden („der krönende Höhepunkt einer revolutionären Entwicklung“, S. 535), fallen gegenüber dem fulminanten ersten Kapitel durchaus nicht ab, bringen naturgemäß aber mehr Bekanntes und Vertrautes. Trotzdem versteht es Kowalczuk immer wieder, mit klugen Überlegungen und neuen Ergebnissen zu überraschen, wenn er beispielsweise die Zersplitterung der Bürgerrechtsgruppen in der gegebenen Situation als Stärke interpretiert oder gut begründete Zweifel an den inzwischen beinahe kanonischen Teilnehmerzahlen der Massendemonstrationen anmeldet. Schales Pathos findet sich nirgends im Text, die historischen Urteile sind fundiert begründet: fast allen westlichen Beobachtern sei die „innere Dynamik, die innere Erosion, die die DDR befallen hatte“, entgangen (S. 343); wirkliche SED-Reformer habe es nicht gegeben; wie alle anderen Handlungsträger so habe auch die Opposition der rasanten Entwicklung bald nur noch hinterher laufen können; selbst die Apparatschiks hätten nach und nach den Glauben an die eigene Sache verloren (wie Walter Süß bereits vor Jahren für die MfS-Mitarbeiter gezeigt hat); „überall war alles anders, aber das Ergebnis war überall gleich“ (S. 410); das Regime stürzte nicht, es wurde von beherzten Bürgern gestürzt, die freilich wie bei jeder Revolution eine laute Minderheit inmitten einer schweigenden Mehrheit gewesen seien; der 9.November, „das endgültige Ende der SED-Diktatur“ (S. 460); die Betonung der großen staatsmännischen Leistung Helmut Kohls, der sich jederzeit der überragenden politischen Bedeutung des anhaltenden Drucks der Straße bewusst gewesen ist – das Bismarcksche „unda fert nec regitur“.

Manchmal ist es der Geschichtsschreibung nicht zuträglich, wenn nahe Beobachter, Betroffene oder Akteure Geschichte schreiben. Hier schon. Ebenso wie Rainer Eckert, Guntolf Herzberg, Michael Lemke, Ehrhart Neubert, Wilfriede Otto, Detlef Pollack, Mike Schmeitzner, Stefan Wolle und andere Wissenschaftler aus Ostdeutschland bereichert Ilko-Sascha Kowalczuk unser Bild von der DDR und der ostdeutschen Revolution 1989 in herausragender Weise. Obgleich es viele von ihnen nicht leicht hatten, in der Zeitgeschichtswissenschaft der neuen Bundesrepublik Fuß zu fassen, ist es glücklicherweise längst nicht mehr, nicht einmal überwiegend mehr so, dass westdeutsche Historiker ihren ostdeutschen Kollegen die DDR erklären. Auch das ist beinahe revolutionär, wenn man sich der anfänglichen Ressentiments gegen eine westdeutsch dominierte Historie und ihre „Grüß-Gott-Historiker“ (Jürgen Fuchs) erinnert.

Anmerkungen:
1 Georg Paul Hefty, Dramaturgisches Talent, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11.11.2009.
2 Vgl. Hermann Wentker, Sammelrezension: Friedliche Revolution und Wiedervereinigung in neuer Perspektive? Neuerscheinungen zum Umbruch in Deutschland, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 10 <http://www.sehepunkte.de/2009/10/druckfassung/15852.html> (04.12.2009).

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