M. Christmeier: Besucher am authentischen Ort

Cover
Titel
Besucher am authentischen Ort. Eine empirische Studie im Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände


Autor(en)
Christmeier, Martina
Reihe
Schriften zur Geschichtsdidaktik 24
Erschienen
Anzahl Seiten
419 S.
Preis
€ 44,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bert Pampel, Stiftung Sächsische Gedenkstätten, Dresden

Neben den Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus ist in den letzten zehn Jahren zunehmend eine weitere Art von historischen Stätten der NS-Diktatur in das Blickfeld der Öffentlichkeit geraten. An Orten wie der ehemaligen Raketenerprobungsanstalt Peenemünde, dem „Kraft durch Freude“ (KDF)-„Seebad der Zwanzigtausend“ in Prora auf Rügen oder dem Obersalzberg in Berchtesgaden steht nicht die Erinnerung an die NS-Verbrechen und ihre Opfer im Mittelpunkt. Vielmehr geht es um die Aufklärung über Führerkult, Volksgemeinschaftsideologie oder moderne Technikfaszination sowie um die Auseinandersetzung mit Integrationsmechanismen nationalsozialistischer Herrschaft. Zu den bedeutsamsten Erinnerungsorten dieser Art gehört das ehemalige Reichsparteitagsgelände in Nürnberg mit seinem 2001 eröffneten Dokumentationszentrum. Es ist Gegenstand der vorliegenden Studie, die 2007 als Dissertation an der Universität Erlangen-Nürnberg angenommen wurde.

Der Autorin Martina Christmeier, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Dokumentationszentrums, geht es vor allem um die Frage, was Besucher der Dauerausstellung zum Besuch motiviert und wie sie die Ausstellung beurteilen. Im Zentrum der Arbeit steht daher die Auswertung einer Besucherbefragung, die durch eine Untersuchung von Nutzungsdaten des vor Ort verwendeten Audio-Guide-Systems, eine Analyse von Besucherbüchern und eine Presseauswertung ergänzt wird. Darüber hinaus äußert Christmeier die Hoffnung, aus der Nürnberger Befragung verallgemeinerbare Erkenntnisse darüber abzuleiten, wie es auch in Zukunft gelingen könne, Menschen für die Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte in Museen zu interessieren.

Im ersten Kapitel wirft die Autorin ein Schlaglicht auf aktuelle Präsentationsformen von NS-Geschichte in Gedenkstätten, Ausstellungen und Museen. Anschließend stellt sie die Geschichte Nürnbergs als Stadt der Reichsparteitage, den Umgang mit dem Gelände nach 1945 und die Entstehungsgeschichte des Dokumentationszentrums dar. Dabei geht sie ausführlich auf die konzeptionellen Überlegungen zu Inhalt und Gestaltung dieser Einrichtung sowie auf Art und Weise der Realisierung ein. Dies ist aufschlussreich und nützlich, um die Ergebnisse der empirischen Studien einordnen zu können, die im 3. Kapitel auf etwa 60 Prozent des Gesamtumfangs präsentiert werden. Das Buch schließt mit einem Kapitel, in dem nach Schlussfolgerungen für die Arbeit des Dokumentationszentrums wie auch für die Vermittlung von NS-Geschichte an Erinnerungsorten insgesamt gefragt wird. Außerdem werden die in Folge der Studie in der Ausstellung bereits durchgeführten Verbesserungsmaßnahmen vorgestellt und Konfliktpunkte zwischen den Besuchererwartungen bzw. -wünschen und den Ansprüchen der Initiatoren und Kuratoren genannt.

Die Befragung wurde zwischen Juni 2003 und Mai 2004 durchgeführt, also etwa zwei bis drei Jahre nach der Eröffnung des Dokumentationszentrums. Insgesamt wurden 500 Personen per Fragebogen direkt im Anschluss an den Besuch befragt. Es handelte sich dabei nicht um eine statistisch repräsentative Stichprobe. Unterrepräsentiert waren etwa Schulklassenbesucher (rund jeder sechste Befragte), Gruppenbesucher und Besucher, die im Laufe der Woche kamen. Es wurden nur deutschsprachige Besucher befragt. Der Fragebogen enthielt unter anderem Fragen zur Besuchsmotivation, zur Bewertung einzelner inhaltlicher Themenbereiche, zur Beurteilung der Gestaltung, zur Zufriedenheit mit den verschiedenen Informationsträgern, zu den Besuchseindrücken und zu möglichen Verbesserungsvorschlägen. Leider spielten die außerhalb des Dokumentationszentrums gelegenen Relikte, wie etwa die Zeppelintribüne, keine Rolle bei der Befragung.

Die meisten Ergebnisse bestätigen die Resultate vergleichbarer Untersuchungen. So kamen viele Besucher gänzlich ohne oder nur mit unspezifischen Erwartungen oder aus einem allgemeinen historischen Interesse in das Dokumentationszentrum. Bei denjenigen, die ihre Erwartungen, zum Beispiel nach Informationsvermittlung oder nach einem Nachempfinden der Vergangenheit, deutlicher formulierten, zeigte sich, wie sehr diese Vorannahmen und Hoffnungen die Wahrnehmung und Bewertung der Ausstellung prägten. Die meisten Befragten hoben die Bedeutung des historischen Ortes hervor – wegen seiner Atmosphäre, seiner vermeintlichen Authentizität und seiner Beförderung des Vorstellungsvermögens. Die umfangreiche multimediale Darstellung vieler Inhalte, die Kombination alter und neuer Architektur sowie die inhaltliche Gliederung wurden überwiegend positiv beurteilt. Bei der Kritik am Umfang der präsentierten Inhalte oder an der Gestaltung der Ausstellung ließen sich kaum Schwerpunkte erkennen; vielmehr zeigte sich eine große Bandbreite von nicht selten gegensätzlichen Positionen. Lobten die einen eine sachliche und weitgehend auf die Geschichte des Ortes bezogene Darstellung, so kritisieren andere fehlende Emotionalität und Gegenwartsbezüge. Vermissten einige ein tiefergehendes Nachspüren der „Faszination“ und der Verblendungstechniken nationalsozialistischer Ästhetik, so kritisierten andere eine vermeintliche Verharmlosung der Nazi-Propaganda, weil Widerstand und politische Verfolgung zu kurz kämen. Interessant ist, dass sich solche kontroversen Beurteilungen weniger als erwartet bestimmten Altersgruppen (zum Beispiel Schülern) zuordnen ließen, sondern sich auch innerhalb einer Altersgruppe zeigten. Leider sind viele im Buch abgedruckte Grafiken in ihrem Gebrauchswert stark eingeschränkt, da Unterschiede in den Graustufen teilweise nicht erkennbar sind. Zudem hätte Christmeier auf einige der Grafiken ohne Bedenken verzichten können, da die Ergebnisse auch noch parallel ausführlich im Text dargestellt werden.

In der Bewertung der Vermittlungsmedien (Filme, Fotografien, Texte, Exponate usw.) kommt zum Ausdruck, wie sehr multimediale Komponenten als Präsentationsmittel geschätzt werden und wie hoch andererseits die Ansprüche an ihre Funktionalität und Qualität inzwischen sind. So wurden etwa Touchscreenmonitore, Hörstationen und Audio-Guides im Dokumentationszentrum wegen mangelnder Attraktivität des Inhalts kritisiert. Dass der Einsatz dreidimensionaler Objekte von vielen als zu gering bewertet wurde, zeigt, dass museale Darstellungen trotz immer weiter zunehmender Audio-Visualisierung der medialen Kommunikation nicht auf sie verzichten sollten.

Aufgrund der überwiegend positiven Bewertung der aktuellen Ausstellung schlägt Christmeier im Ergebnis ihrer Studie keine grundsätzlichen konzeptionellen Änderungen des Dokumentationszentrums vor, sondern regt nur Modifikationen an. Diese Anregungen sind zwar nachvollziehbar, zugleich aber mehrheitlich so spezifisch auf das Dokumentationszentrum ausgerichtet, dass sie kaum auf andere Einrichtungen übertragbar sind. Wo sie es doch sind, handelt es sich oft um Selbstverständlichkeiten, die inzwischen bereits zum Allgemeingut von Kuratoren historischer Ausstellungen gehören.

Hier deutet sich die größte Schwäche des Buches an: Es bleibt in seiner Aussagekraft weitgehend auf das Dokumentationszentrum begrenzt. Ein Grund hierfür ist, dass (abgesehen von eher sporadischen Hinweisen auf Gedächtnistheorien) ein theoretischer Bezugsrahmen fehlt, wie ihn beispielweise die Konzepte von „Geschichtskultur“, „Historischem Lernen“ oder „Public History“ hätten liefern können. Zum anderen mangelt es an einer angemessenen Rezeption des Forschungsstandes, etwa im Hinblick auf Wahrnehmung und Wirkung historischer Ausstellungen oder Stätten. Anders als die Autorin behauptet, gibt es eine Reihe vergleichbarer Einrichtungen, etwa das Jüdische Museum Berlin oder das Haus der Geschichte in Bonn, die regelmäßig Besucherbefragungen durchführen. Auch die Besucher von KZ-Gedenkstätten, „Täterorten“ oder sonstigen historischen Ausstellungen zur NS-Vergangenheit sind bereits ähnlichen Untersuchungen unterzogen worden. Deren Kenntnis und Einbeziehung in die eigene Studie, wie auch eine wesentlich stärkere Reflexion des gedenkstättenpädagogischen Diskurses über den Umgang mit vermeintlich authentischen Orten, hätten die Autorin wahrscheinlich vor einigen mit Verve vorgetragenen Schlussfolgerungen und Empfehlungen bewahrt. Weiterführende Impulse, Erkenntnisse oder Thesen für die Gestaltung von Erinnerungsorten der NS-Geschichte enthält ihre Arbeit leider kaum.

Demgegenüber sollen jedoch die Stärken der Studie nicht unterschlagen werden. Überzeugen können – trotz mancher Einschränkungen – der Methodenmix bei der Datenerhebung und die relativ große Anzahl von Befragten. Lobenswert ist darüber hinaus die große Anzahl offener Fragen (ohne Antwortvorgaben), trotz nachvollziehbarer Probleme bei der Kategorisierung der Antworten, die wie immer eine sehr große Bandbreite aufweisen. Trotz aller Kritik ist das Unternehmen an sich, das für die Arbeit des Dokumentationszentrums und seinen Anspruch auf Besucherorientierung wertvoll gewesen ist, positiv zu würdigen. Noch immer gibt es zu wenige solcher Untersuchungen, noch immer wird ihr Wert für nutzerfreundliche Ausstellungen von Kuratoren und leitenden Personen unterschätzt oder kleingeredet. Dagegen kann Christmeier anschaulich zeigen, wie viele Hinweise auf Verbesserungsmöglichkeiten solchen Vorhaben entnommen werden können. Ihr ist daher zuzustimmen, dass weitere vergleichbare Studien in ähnlichen Einrichtungen wünschenswert sind. Hierfür liefert ihre Arbeit hilfreiche Anregungen und potenzielle Vergleichswerte.

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