S. Odenwald-Varga: „Volk“ bei Otto von Bismarck

Titel
„Volk“ bei Otto von Bismarck. Eine historisch-semantische Analyse anhand von Bedeutungen, Konzepten und Topoi


Autor(en)
Odenwald-Varga, Szilvia
Reihe
Studia Linguistica Germanica 98
Erschienen
Berlin 2009: de Gruyter
Anzahl Seiten
XVI, 638 S.
Preis
119,95 Euro
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Lappenküper, Otto-von-Bismarck-Stiftung, Friedrichsruh

„Es ist kein Ausdruck im letzten Jahre mehr mißbraucht worden, als das Wort ‚Volk‘“, räsonierte der junge Abgeordnete Otto von Bismarck am 21. März 1849 in der Zweiten Kammer des Preußischen Landtags.1 Ob dies der historischen Wirklichkeit entspricht, sei dahingestellt. In jedem Fall aber avancierte der fragliche Begriff im 19. Jahrhundert, wie Szilvia Odenwald-Varga in ihrer von Oskar Reichmann betreuten Dissertation zu Recht darlegt, zu einem „politischen Schlüsselwort“ (S. 1). Auf der Basis der „Gesammelten Werke“ Bismarcks und sonstiger einschlägiger Editionen möchte die Germanistin im Rahmen einer „kulturwissenschaftlich orientierten Sprachgeschichtsschreibung“ zeigen, wie Bismarck „diesen Begriff bezeichnende Ausdrücke“ benutzte und zur Erreichung seiner politischen Ziele einsetzte (S. 1f.).

Nach breiten theoretischen Ausführungen über die linguistischen Grundlagen und die einen „semasiologisch-onomasiologisch orientierten textlexikographischen und ein[en] argumentationstheoretischen Ansatz“ (S. 3) verknüpfende Methode ihrer Arbeit unterzieht Odenwald-Varga die zentralen Begriffe in einem ersten empirischen Teil einer semantischen Analyse. Dabei gelangt sie zu dem Ergebnis, dass sich der Begriff ‚Volk‘ in Bismarcks Sprachgebrauch „ausdruckseitig unterschiedlich realisieren“ ließ (S. 453): sowohl durch das Lexem ‚Volk‘ selbst als auch durch Synonyme wie Bevölkerung, Landsleute, Masse, Nation, Nationalität, Pöbel, Publikum, Rasse, Stamm und Untertan. Die von ihr insgesamt identifizierten zwölf Einzelbedeutungen ordnet sie sechs „Konzepten“ zu, von denen das „Staatsgemeinschaftskonzept“ gegenüber den fünf anderen - dem „Kulturgemeinschaftskonzept“, dem „Schicksalgemeinschaftskonzept“, dem „Wesengemeinschaftskonzept“, dem „Schichtenkonzept“ und dem „Lokalkonzept“ - dominierte (S. 210).

Die meisten der ‚Volk‘-Ausdrücke waren mehrfach „polysem“; Definitionen oder eine Systematik blieb Bismarck aber schuldig. Odenwald-Varga spricht daher von „Schlechtbestimmtheit der einzelnen Verwendungen“ (S. 454) und bestätigt damit den Bismarck-Biographen Otto Pflanze, der mit Blick auf den Begriff ‚Nation‘ Bismarck vorwarf, ihn „nicht mit der Eindeutigkeit [gebraucht zu haben], die man von dem Historiker, Philosophen oder Sozialwissenschaftler verlangen darf, der sich [seiner ...] bedient“.2

Im zweiten empirischen Teil der Studie untersucht Odenwald-Varga dreizehn „besondere (kotextgebundene)“ (S. 352) und zehn „sprachthematisierende Topoi“ (S. 430), um so Bismarcks „Intentionen bzw. Volitionen im Zusammenhang mit seiner Verwendung von ‚Volk‘-Ausdrücken“ herauszuarbeiten (S. 37). Aus dem Vergleich der textlexikographischen und der Argumentations-Analyse wird deutlich, „dass etliche ‚Volk‘-Ausdrücke sich typischerweise oder zumindest gehäuft mit bestimmten Bismarck-spezifischen bzw. kotextgebundenen Topoi verbinden, so dass eine gewisse Affinität zwischen Bedeutungen und Topoi feststellbar ist“ (S. 450).

Den selbstbewusst angemeldeten Anspruch, „zu einem besseren Verständnis von ‚Volk‘ bei Bismarck zu gelangen“ (S. 453), vermag Odenwald-Varga nur bedingt einzulösen. Gewiss, für die historiographisch nach wie vor aktuelle Frage, ob Bismarck in erster Linie ein preußischer oder ein deutscher Staatsmann gewesen sei, ist ihr Hinweis hoch interessant, dass der Begriff ‚deutsches Volk‘ bei ihm in den Jahren der Reichseinigung eine „Bedeutungsverengung“ (S. 130) erfuhr, indem er nur noch die Angehörigen des Norddeutschen Bundes und der süddeutschen Staaten, nicht aber mehr Österreich umfasste. ‚Deutsches Volk‘ galt fortan bei Bismarck „als eine Hoffnungs- und Erwartungsformel, deren Verwendung eine zukunftsorientierte Deontik beinhaltet[e]“ (S. 141).

Ähnlich verhält es sich mit dem Ausdruck ‚Deutschland‘. Bezeichnete Bismarck vor dem Krieg von 1866 auch Österreich „als Teil des offenbar mit dem Deutschen Bund gleichgesetzten Deutschlands“, umfasste dies danach nur noch den Norddeutschen Bund und die süddeutschen Staaten (S. 324). Dass Bismarck, wie Odenwald-Varga behauptet, die „Trennung von Österreich [...] in den 1860er Jahren sprachlich vorbereitet“ habe (S. 457), bedarf aber wohl zumindest der zeitlichen Präzisierung.

Für den um die Sprachgewalt des Reichsgründers Wissenden nicht eben überraschend ist ihr Befund, dass Bismarck die ‚Volk‘-Ausdrücke keineswegs willkürlich, sondern „in Abhängigkeit von Adressaten, Text(-sorte) und Zeit- bzw. Kommunikationssituation sehr unterschiedlich“ gebrauchte (S. 456) und sie oft unter Verwendung wiederkehrender Argumentationsmuster zur Legitimation seiner politischen Ziele einsetzte. Keine wirklich neue Erkenntnis bietet auch die These, Bismarck habe „trotz seiner Ideale - vor allem des Erhalts des monarchischen Systems - reale Ziele verfolgt“ und dürfe deshalb „als Pionier eines modernen Politikertyps gelten“ (S. 464). Gleichwohl, Odenwald-Varga bereichert die Bismarck-Forschung aufgrund der mit hohem Aufwand betriebenen akribischen Textanalysen durchaus, wobei aber eine Unzulänglichkeit ihrer Studie deutlich herausgestellt werden muss: Ein Buch, das „zu interdisziplinär interessanten Anregungen und Erkenntnissen“ führen möchte (S. 2), sollte sprachlich so verfasst sein, dass es auch für den Nicht-Germanisten lesbar ist. Dass Odenwald-Varga die Grenze des Zumutbaren ungeachtet der ihr natürlich zugestandenen fachimmanenten Terminologie überschreitet, mag neben dem einen oder anderen oben angeführten Zitat die folgende, resümierende Sentenz verdeutlichen: „Im Kulturgemeinschaftskonzept ist Volk mit der nicht sehr häufigen Bedeutung 4 und deren Subkategorien a, b und c vertreten [...] Volk ist im Schicksalgemeinschaftskonzept - Bedeutung 5 (D.II.7.) - und im Wesengemeinschaftskonzept - Bedeutung 6 (D.II.8.) - eher selten repräsentiert. Häufiger findet sich Volk mit den Bedeutungen 7 bis 9 im Schichtenkonzept, wobei Volk7 erkennbar dominiert (D.II.9.-12.). Quantitativ am rarsten ist Volk im Lokalkonzept (Volk10 und Volk11, D.II.13. und D.II.14) vertreten“ (S.211).3

Anmerkungen:
1 Otto von Bismarck, Die gesammelten Werke, Bd. 10: Reden 1847 bis 1869. Bearb. von Wilhelm Schüßler, Berlin 1928, S. 25.
2 Otto Pflanze, Bismarck. Der Reichsgründer, München 1997, S. 607.
3 „Volk7“, „Volk10“ und „Volk11“ im Original mit tiefergestellten Ziffern als Indezes.