S. Hornblower: A Commentary on Thucydides

Cover
Titel
A Commentary on Thucydides. Volume III. Books 5.25-8.109


Autor(en)
Hornblower, Simon
Erschienen
Anzahl Seiten
xix, 1107 S.
Preis
€ 55,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Habermehl, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin

Zu den altertumswissenschaftlichen Meilensteinen des 20. Jahrhunderts zählt zweifelsohne der vor rund einem halben Jahrhundert erschienene „Historical Commentary on Thucydides“ (im Folgenden HCT) von Gomme, Andrewes und Dover,1 dessen fünf Bände sich bald international als Brennpunkt aller Beschäftigung mit dem Historiker etablierten. Und Thukydides hat die Forschung der letzten Jahrzehnte intensiv beschäftigt – nicht zuletzt auch mit Themen, die Gomme und seine beiden Nachfolger bewusst ausgeklammert haben (wie z.B. Fragen des Kultes und der Religion) oder noch nicht auf ihrer Agenda hatten (wie z.B. das Instrumentarium der Narratologie). Wer Orientierung sucht in den reichen Erträgen der jüngeren Forschung, wird dankbar zur Kenntnis nehmen, dass der HCT inzwischen eine würdige Ergänzung gefunden hat. Mit dem für ein solches Unterfangen notwendigen langen Atem und in insgesamt drei Bänden hat Simon Hornblower, Professor am University College London, einen neuen Kommentar zu Thukydides vorgelegt (gleichfalls bei Oxford University Press)2, der schon angesichts seines Konzeptes und Umfangs den Vergleich mit dem HCT förmlich herausfordert.

Wie schon die Rezensionen zu den beiden ersten Bänden (1991 und 1996) festhielten, ist Hornblower mit der Sekundärliteratur zu seinem Autor bestens vertraut. Es dürfte schwerlich ein Buch, einen Aufsatz, eine Miszelle zu Thukydides geben, die ihm entgangen ist. Die bibliografischen Hilfestellungen sind exquisit – auch wenn es mitunter Geduld erfordert, sich in etlichen Lemmata erst durch einen wahren Berg von Referaten zu den diversen Titeln und ihren Positionen arbeiten zu müssen, bis allmählich Hornblowers eigene Einschätzung zu Tage tritt. Dieses etwas umständliche Verfahren hat seine unbestreitbaren Vorzüge. Gerade jene Passagen der Historiae, die zu wissenschaftlichen Disputen Anlass boten, werden umsichtig referiert und reflektiert. Den Reichtum an epigrafischen Quellen, den die Quellenwerke der letzten Jahrzehnte zutage gefördert haben, hat Hornblower ausgeschöpft wie wenige vor ihm. Besonderes Augenmerk gilt der Behandlung literarischer Topoi (z.B. Fragen der erzählerischen Fokalisierung: aus welcher Perspektive werden Ereignisse geschildert – aus der des Autors, oder aus der Perspektive Dritter?). Vor allem aber im historischen Kernbereich beweist er profunde Kenntnisse und kritisches Urteilsvermögen.3

Leser, die des Griechischen nicht mächtig sind, dürften Schwierigkeiten haben mit dem Band (was für den HCT definitiv noch mehr gilt). Dies ist deshalb zu erwähnen, weil Hornblower als Publikum expressis verbis auch Leser im Auge hat, „who are interested in the detail of Thucydides’ thought and subject matter, but have little or no Greek“ (Band I, 1991, S. V; noch vollmundiger heißt es im Klappentext von Band III: „All Greek is translated.“). Die durchgängig griechischen Lemmata werden stets übersetzt; so weit, so gut. Anders die nicht eben wenigen griechischen Zitate im laufenden Text; sie bleiben in aller Regel unübersetzt. Doch dieser Punkt scheint reichlich akademisch. Wer außer Althistorikern, klassischen Philologen und da und dort Archäologen wird ein solches Referenzwerk überhaupt zu Rate ziehen?

Die Einführung des dritten Bandes folgt Hornblowers bisher praktiziertem Konzept. Band eins verzichtete auf ein allgemeines Vorwort, da Hornblower auf seine vier Jahre zuvor erschienene Monografie zu dem Historiker verweisen konnte.4 Die umfangreiche Einführung des zweiten Bandes galt einigen spezifischen Themen, die nicht nur für die Bücher 4 und 5 relevant waren, so unter anderem der Rolle epigrafischer Quellen in der Erschließung der Historiae (§ 6) oder Thukydides’ Auseinandersetzung mit (moderner: Rezeption des) Herodot (§ 2). Die eher knappe Einführung zu Band drei wiederum behandelt Sujets, die vor allem die Sizilische Expedition der Athener betreffen. Lesenswert ist insbesondere § 3 zur Sizilischen Kultur und ‚Theatralik‘ (im Original ‚theatricality‘ – die Art und Weise, wie das Theater das öffentliche Leben der griechischen Poleis auf der Insel prägte).5 Ein belangreiches Detail zu unserem Bild des Historikers liefert § 5 über Thukydides’ Umgang mit dem athenischen ‚Rat der Fünfhundert‘, der aus seiner Geschichte jener Schicksalsjahre quasi verbannt bleibt.

Und welchen Eindruck macht der gewichtige Hauptteil des Bandes, der Kommentar? Ein Blick auf vier ausgewählte Passagen mag dies verdeutlichen.

1.) Der melische Dialog (5,85– 113).
Bereits der HCT schenkte diesem in mehr als einer Hinsicht singulären Dokument die gebührende Aufmerksamkeit (Band IV, S. 181-188, Andrewes). Gleiches gilt für Hornblower (S. 218-225), der, gestützt auf neuere Diskussionen, vor allem drei Punkte mit Nachdruck herausstreicht: In diesem diplomatischen ‚Protokoll‘ tritt das aggressive Wesen attischer Politik oder, wie manche Autoren zuspitzen, der ‚Athenische Imperialismus‘ unverwässert zu Tage. Der Überfall auf Melos wird bei Thukydides zur Ouvertüre des so folgenreichen, in den Büchern 6 und 7 geschilderten Himmelfahrtskommandos in Sizilien. – Der Dialog lässt aber auch Licht fallen auf die heikle Beziehung der Melier zu Sparta, auf ihr blindes (und bitter enttäuschtes) Vertrauen in den mächtigen Verbündeten. – Hinzu kommt eine kompositorische Beobachtung. Die markante Position des Dialogs am Ende von Buch fünf (und damit am Ende der ersten Pentade) lässt sich als ein Indiz dafür lesen, dass Thukydides zehn Bücher geplant hatte – und dass am Ende des 10. Buches womöglich ein Gegenstück zum melischen Dialog vorgesehen war, eine Art ‚Athener Dialog‘.

2.) Alkibiades (z.B. 6,15).
In einem vielzitierten Exkurs geht der HCT (Band V, S. 423-427, Andrewes) auf das in den verschiedenen Büchern der Historiae so oszillierende Bild des Alkibiades ein und versucht sich an der schwierigen Frage, zu welchem Zeitpunkt diese diversen Passagen verfasst wurden, und in der Konsequenz, ob und wie Thukydides’ Bild des Alkibiades sich entwickelt hat. Hornblower bleibt hier oft im Kielwasser des HCT und kann sich entsprechend kürzer fassen. Wo z.B. Dover eine Schlüsselpassage im Porträt des Athener Politikers (6,15,3f.) auf über drei Seiten erörtert (Band IV, S. 242-245), kondensiert Hornblower die Ergebnisse in einem Paragrafen (S. 340). Nur gelegentlich treten klare Differenzen zutage – z.B. zu Alkibiades’ kühnem Vorschlag, Karthago zu erobern (6,15,2; später, als Gast der Spartaner, unterstellt Alkibiades dieses Vorhaben den Athenern: 6,90,2). Dover nimmt die Idee durchaus ernst (Band IV, S. 241). Anders Hornblower, der hier wohlfeile Rhetorik am Werk sieht, die sich gut vertrage mit der Ignoranz der Athener in Sachen Karthago (S. 339).

3.) Der Hermen- und Mysterienfrevel (6,27–29)
Diesen bis heute ungeklärten politischen Krimi, dessen dürre Fakten Thukydides auf einer einzigen Oxfordseite vor uns ausbreitet, haben gerade in jüngerer Zeit mehr wie minder seriöse Thesen zu erhellen gesucht. Ein Höhepunkt der Sekundärliteratur war Dovers Exkurs (HCT Band IV, S. 264-288) zum genauen Datum der Ereignisse, zu den von verschiedenen Quellen genannten Verdächtigen und zu den Hintergründen der ikonoklastischen Anschläge – ein Meisterstück historischer Zeitrechnung und politischer Prosopografie. Hornblower diskutiert den aktuellen Forschungsstand vergleichsweise kurz und ohne Berührungsängste mit exotischeren Theorien (wie E. Keuls’ provokanter Unterstellung, dieser konzertierte Schlag gegen die Athener ‚Phallokratie‘ gehe auf das Konto der Athenerinnen).6 Deutlich ernster als Dover nimmt Hornblower die Vorgabe des Thukydides, beide Übergriffe zielten auf den „Sturz der Demokratie“ (6,28,2). Der Hermenfrevel und die zeitgleiche Profanierung der Eleusinischen Mysterien seien vor dem Hintergrund eines Klimas zu verstehen, „in which religious traditions, as well as democratic values, were becoming increasingly fragile“ (S. 372). Offen bleibt auch bei ihm, ob oder wie weit Alkibiades in eines oder beide Attentate auf die öffentlich-demokratische Ordnung verwickelt war.

4.) Das Ende der peisistrateischen Tyrannis (6,54–59)
Dieses erzählerische Juwel hat Dover (HCT Band IV, S. 317-329) in der Summe wohl zu streng beurteilt: Auch wenn es nicht recht in den Kontext passe, korrigiere Thukydides gerne historische Fehler seiner Quellen und Kollegen; so auch in dieser polemischen digressio. Wie Hornblower zurecht anmerkt, wird ein solches Verdikt dieser ausgefeilten Geschichte kaum gerecht.7 Er unterstreicht die vorzügliche literarische Qualität der Geschichte, mit der Thukydides (ungeachtet unbestreitbarer politischer Implikationen) eindeutig unterhalten wolle – mit einem deutlichen Seitenblick auf seinen Vorgänger und Konkurrenten Herodot, den Meister der historischen Novelle. Eine literarische Funktion habe der Exkurs zudem im größeren Kontext. Er gewährt dem Leser eine Pause, bevor der große Erzählbogen des Sizilischen Feldzuges beginnt (eine Parallele findet sich 7,57f. – der ‚homerische Katalog‘ der Verbündeten vor der letzten Seeschlacht).

Doch genug der Beispiele.8 Der HCT war beileibe nicht das letzte Wort in Sachen Thukydides – und ebenso wenig ist es Hornblower. Doch dieser große Wurf versorgt den Leser der Historiae mit einer Fülle hilfreicher Materialien und kluger Gedanken; an etlichen Stellen lässt er neues Licht ins Dunkel der thukydideïschen Formulierungen fallen. Kenner wie Liebhaber des größten aller Historiker werden sich den prachtvoll produzierten Band kaum entgehen lassen.

Anmerkungen:
1 Arnold W. Gomme / Antony Andrewes / Kenneth J. Dover, A Historical Commentary on Thucydides (5 Bde.), Oxford 1945–1981. Die beiden letzten Bände (zu den Büchern 5,25–8,109) stammen von Andrewes und Dover, die nach Gommes Tod das Werk zu Ende führten.
2 Simon Hornblower, A Commentary on Thucydides. Volume I: Books 1–3. Oxford 1991; Ders., A Commentary on Thucydides, Volume II: Books 4–5.24, Oxford 1996.
3 Die Kritik am quasi gänzlichen Fehlen von Karten in den beiden ersten Bänden hat Frucht getragen. Der dritte Band wartet mit immerhin acht detaillierten Karten auf.
4 Simon Hornblower, Thucydides, London 1987.
5 Als Quelle könnte Hornblower auch Charitons Roman heranziehen. Gleich mehrere Schlüsselszenen der „Kallirhoe“ belegen, welche gewichtige Rolle der Ort ‚Theater‘, aber auch theatralisch inszenierte Szenen im öffentlichen Leben von Syrakus spielten. Zudem hat General Hermokrates, einer der historischen Protagonisten im Krieg um Sizilien, nicht nur bei Platon einen literarischen Auftritt, sondern auch (als strenger Vater Kallirhoes) in Charitons Roman.
6 Zu Recht hebt er einen Beitrag aus der Menge des Neueren heraus: Fritz Graf, Der Mysterienprozess, in: Leonhard Burckhardt / Jürgen von Ungern-Sternberg (Hrsg.), Grosse Prozesse im antiken Athen, München 2000, S. 114-127.
7 Die kleine Novelle hat sogar in der modernen Literatur Spuren hinterlassen, in Mary Renaults Roman The Praise Singer (1978) – „a brilliant historical novel about Simonides“ (Hornblower, S. 434).
8 Ein spannender Punkt wird bei Hornblower eher stiefmütterlich behandelt – das Verhältnis Xenophons zu Thukydides. Schreiben die Hellenika die Historiae bewusst fort? Hatte Xenophon Zugang zu Thukydides’ Nachlass?

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