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Titel
Michel de Certeau. Geschichte - Kultur - Religion


Herausgeber
Füssel, Marian
Erschienen
Konstanz 2007: UVK Verlag
Anzahl Seiten
371 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ute Seiderer, Institut für Kulturwissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin

Marian Füssels Sammelband „Michel de Certeau. Geschichte – Kultur – Religion“ war zum Zeitpunkt seines Erscheinens im Herbst 2007 die erste deutschsprachige Monographie über den französischen Theoretiker Certeau (1925-1986), einen Jesuiten, der seine Identität mit der Historie verbunden sah. Im deutschsprachigen Raum wird er im Umkreis der französischen Poststrukturalisten als Kulturtheoretiker rezipiert 1; im angloamerikanischen Raum schätzt man seine kulturkritischen und geschichtstheoretischen Ansätze 2; in Frankreich selbst gilt er in der Religionswissenschaft, in der er sich (nach einem Lizenziat für Altphilologie, klassische Literatur und Philosophie) über die christliche Mystik qualifizierte, nach wie vor als Außenseiter. Seine Forschungen auf dem Gebiet der Religionsanthropologie 3, der frühneuzeitlichen Mystik 4 oder zur Alltagsgeschichte kultureller Praktiken bezeugen also ein breites Interessensspektrum, welches meist zur Folge hat, dass man sein Werk nur in Ausschnitten diskutiert. Das eigentliche Verdienst von Füssels Sammelband liegt somit darin, Michel de Certeau in der Gesamtheit seines Facettenreichtums vorzustellen.

Die Dreiteilung des Bandes verdanke sich, so Füssel, den Rezeptionsschwerpunkten im Werk Certeaus. Mit einem internationalen Autorenstab wurde versucht, dem Rang Certeaus gerecht zu werden, der auch in den USA und in Lateinamerika lehrte und forschte. Zugleich stammen die Autoren aus den unterschiedlichsten Fachgebieten: aus der Geschichte, der politischen Theorie, der Theologie, Kulturtheorie, Kulturgeschichte, Wissenschaftsgeschichte, aus den Frankreich-Studien, der Literaturwissenschaft sowie der Medien- und Kommunikationswissenschaft. Mit Ausnahme eines Beitrages sind alle ins Deutsche übersetzt worden. Leider kann man sich jedoch nicht des Eindrucks erwehren, dass dieses Buch nicht redigiert, das Material nicht aufeinander abgestimmt worden ist (ganz abgesehen von vielen Rechtschreib- und Grammatikfehlern). Zwar folgen die Beiträge den Hauptsektionen Geschichte/Kultur/Religion, doch wir lesen wiederholt über Certeaus mangelhafte Rezeption in den akademischen Disziplinen, die zuweilen metaphernreiche Sprache („Stilmittel der gepflegten Ungenauigkeit“, S. 13) oder über sein Konzept der Geschichtsschreibung als „Trauerarbeit“, als einen Diskurs über Vergangenes, Verlorenes, Abwesendes, methodisch angesiedelt zwischen Rekonstruktion, Narrativität und Fiktion, womit er sich von den Vätern der Historiographie wie von seinen Zeitgenossen (vor allem Michel Foucault und Paul Veyne) abgrenzte. Am Ende des Bandes wäre ein Werkverzeichnis zu Certeau wünschenswert, gerade weil seine Schriften so disparat und großteils unübersetzt sind. Auch eine tabellarische vita im Anhang wäre eine hilfreiche Ergänzung gewesen.

Luce Giard, langjährige Mitarbeiterin Certeaus, eröffnet mit ihrem Text über dessen Leben und Werk die erste Sektion – „Geschichte“. Sie gewährt Einsicht in Certeaus Privatleben, das von großen familiären Verlusten geprägt war. Seine Vorliebe für das „Recycling“ (ré-emploi) von Begriffen, Institutionen, sozialen Codes und Praktiken, die er „aus der Vergangenheit hinein in die Gegenwart[,] evident zu machen“ (S. 25) suchte, wird bereits erwähnt. Peter Burke spricht von der Säkularisierung religiöser Begriffe bei Certeau und betont, wie wichtig es sei, ihn wieder in den kirchengeschichtlichen Zusammenhang zu stellen, in dem seine Ideen entstanden sind. Er deutet die Transformation jesuitischer Vorstellungen als Grundlage für Certeaus „Soziologie der Kreativität“ (S. 46). François Dosse setzt die Grundzüge der Certeauschen Geschichtstheorie in Beziehung zum Denken Paul Ricœurs, demzufolge der Historiker entweder vor der Wahl stehe, mit der Erzählung zu brechen, um einen wissenschaftlichen Status anzunehmen, oder sich im Reich der reinen Fiktion anzusiedeln. Bei Certeau werde deutlich, dass die Aufgabe des Historikers in einer Mittlerposition liege, um „den Irrtumsanteil der Fabel zu verringern“ und „Falsches zu diagnostizieren“, ohne jedoch „zu einer endgültig etablierten Wahrheit gelebter Vergangenheit vorzustoßen“ (S. 53). Dosses Text geht – wie auch der Beitrag Koenraad Geldofs über Certeaus „Genealogie der Moderne“ (S. 91ff.) – ausführlicher auf den Begriff der Alterität ein, der „Entdeckung des Anderen“, welche konstitutiv für die Geschichtsschreibung wie für die Identität des Historikers sei.

Der Alteritätsbegriff, den man aus der Kulturtheorie zur Differenzierung von Wahrnehmungs- und Werteparadigmen kennt, kursiert in fast allen Beiträgen, jedoch nicht systematisch. Füssel zufolge besteht Certeaus Geschichtsschreibung aus Heterologien, Diskursen über das „Andere“ (S. 7). Bei Certeau selbst taucht Alterität in verschiedenen Kontexten auf. In seinen ethnographischen Studien wird der Begriff für den „Raum des Anderen“, Fremden, verwendet, der dort in ein Bild der Oralität umgesetzt wird.5

In „La Possession de Loudun“ (1970), einer Spielart der Mikrohistorie, wird das Fremde auf besondere Weise in Szene gesetzt. Wim Weymans führt anhand dieses Werkes Certeaus Umgang mit dem Quellenmaterial vor: Sein zentrales Anliegen, Fragen zu stellen, bewegte ihn dazu, vergangene Ereignisse auf eine andere Ebene zu transferieren, um ihre Abläufe besser zu verstehen. So stellte er das Loudun des 17. Jahrhunderts als Bühne für öffentliche Teufelsaustreibungen und die besessenen Nonnen als Schauspielerinnen vor (S. 77ff.). Geschichtsschreibung wird dort als Rekonstruktion eines theatralischen Vorgangs betrieben. Der Historiker selbst sei dabei nur ein „Clochard“, da er sich lediglich auf Reste, auf Übriggebliebenes stützen könne. Im Unterschied zum traditionellen „Überrest“-Begriff geht es hier jedoch weniger um unabsichtlich überliefertes Material als um das geringe Residuum dessen, was aus der Vergangenheit überhaupt noch vorhanden ist. Weymans beschreibt Certeaus Rekonstruktionsstrategien derart genau und nachvollziehbar, dass man Lust auf dieses Buch bekommt.

Certeaus kulturpolitisches Handeln steht, mit Blick auf „L’invention du quotidien“ (1980), im Zentrum des Textes von Jeremy Ahearne, mit dem die zweite Sektion – „Kultur“ – beginnt. Dort, wie auch in Ben Highmores Beitrag über Ethik, Ethnographie und Alltagsleben bei Certeau, lernt man den Autor als kreativen und engagierten politischen Denker kennen. Die Idee der freien Assoziation wurde Certeau zufolge im Mai 1968 kulturelle Wirklichkeit. Rainer Winter zeigt, wie sich durch die 68er-Generation sowohl Sprache als auch Inhalte öffentlicher Debatten veränderten: „Es […] wurde eine Utopie der Kommunikation entfaltet. […] Gesellschaftliche Grenzen der Kommunikation wurden durchbrochen, Träume, Wünsche und Phantasien öffentlich artikuliert, der gesellschaftliche Raum verwandelte sich in einen Ort der Begegnung. Die Sprache repräsentierte nicht, sondern wurde performativ und poetisch.“ (S. 208)

Mit den theologischen Anknüpfungspunkten der Historiographie Certeaus wird die dritte Sektion – „Religion“ – durch Joachim Valentin eingeleitet, der (wie Jan Buchanan im Abschnitt „Kultur“) auf den Einfluss Lacans eingeht. Auch von Certeaus spezifischer Schriftlichkeit ist hier wieder die Rede: von der Zitation historischer Texte als „Implantation eines Anderen“ (S. 240) in das Konstrukt des wissenschaftlichen Textes. L’Écriture (Schreiben, Schrift) und La Fable (das unmittelbare Erzählen, die Mündlichkeit der Alltagspraxis) seien dabei als „Kristallisationskerne einer Phänomenologie der Moderne“ (S. 244) zu sehen. Wie in Daniel Weidners gut strukturiertem Beitrag über Certeaus Mystik-Diskurs aus der Sicht der Literaturwissenschaft steht auch bei Daniel Bogner über Mystik als epistemologische Figur und soziale Konfiguration die Körperfrage im Raum: Während es in der jüdischen Tradition der Text sei, „der sich unaufhörlich fortschreibt und damit den physisch […] definierten sozialen Körper formt“, läge im Christentum die Fragestellung genau umgekehrt: Hier sei es „der uranfänglich fehlende Körper […], der den ‚Text’ erforderlich“ mache. Die Herausbildung des dogmengeschichtlichen Textkorpus wie das Entstehen des institutionellen ‚Kirchenkörpers’ lasse sich als „notwendige Reaktion auf die ursprüngliche Leerstelle des fehlenden Körpers“ (S. 295) beschreiben. „Mystisch“ werde zu einem Grenzwort, das den „Übergang vom Sichtbaren zum Verborgenen“ (S. 304) markiere. Certeau zufolge sei die Mystik an der Grenze zwischen Sprache und Schweigen anzusiedeln, mit der Intention, „die An- und Abwesenheit des vermissten Einen dialektisch miteinander zu verknüpfen“. Mystisches Schreiben begreife sich demzufolge als eine Tätigkeit, die „von dem Ursprung, auf den sie Bezug nimmt, getrennt ist“ (S. 314 f.).

Die letzten beiden Beiträge überzeugen durch präzise Klarheit. Johannes Hoff entwirft mit großer Geste einen Trialog zwischen Certeau, Jacques Derrida und Nikolaus von Kues. Er erläutert Certeaus dekonstruktivistischen Ansatz sowie das Ethos des Denkens und Schreibens, das ihn mit Derrida und den französischen Philosophen des 20. Jahrhunderts verband. Hoffs Text ist auch für Nicht-Theologen nachvollziehbar. Und er führt, wie der Text von Graham Ward, der eine Verortung von Certeaus Geschichtsschreibung innerhalb der theologischen Diskurse im Umfeld der nouvelle théologie vornimmt, etwas näher an die entscheidende Frage heran: wie es sich mit der Tatsache verhält, dass sich ein Jesuit für Historiographie interessiert bzw. worin die Ursachen dafür zu suchen wären.

„Die Wahrheit ist immer anderswo – sie fehlt stets an ihrem Platz“ (S. 321). Diese knapp formulierte Hypothese könnte als movens dafür gelten, was Theologie, Geschichte, Psychoanalyse oder Ethnologie gleichermaßen bewegt. Es geht um die Suche nach der Definition der Auslassung, der Leerstelle (sei es der fehlende Körper Christi, die fehlenden historischen Fakten, das nicht greifbare Unbewusste oder das nicht zu verstehende Ritual eines fremden Volkes), welche den Kern des Alteritätsprinzips markiert: das Andere, Fehlende, nicht zu Erfassende, das „wissende Nichtwissen“, das uns in Bann hält und zum Denken anregt. Da der Verstand nur „zu Mutmaßungen über die Wahrheit gelangen“, jedoch „niemals ein präzises Wissen“ (S. 325 f.) erreichen kann (Cusanus), ist das, was sich definieren lässt, relativ und begrenzt. Ebenso verhält es sich mit theologischen Fragen. Was aber die theologischen Antworten von den anderen Antworten unterscheidet, ist ihre Ausgangslage; denn nach deren Grundsatz genügt es nicht, zu sehen; man „muss hören und glauben, wenn man das Unsichtbare im Sichtbaren entdecken möchte“ (S. 339).

Auch für Certeau war die performative Praxis des Glaubens entscheidend dafür, wohin die dekon-struktivistische Sinnkritik führt, das heißt die Frage danach, ob das Dunkel des Nichtwissens als „nihilistischer Abgrund oder als eine qualifizierte Form des Sinnverstehens“ (ebd.) zu deuten ist. Der Glaube „überschreitet den Horizont evidenten Verstehens“, indem er den Gläubigen „in das fragile Feld geschichtlich kontingenter Interaktionen einschreibt“ (S. 342). Das Andere, Fremde, Fehlende, zu Verstehende erscheint dann in diesem Kontext als Metapher für die Transzendenz Gottes, als die größte Auslassung, die das Christentum kennt und das Abendland seit 2000 Jahren beschäftigt, als jene Alterität, die zu untersuchen sich die verschiedensten Schulen gegründet haben, aus denen Michel de Certeau als Netzwerk-Denker und phantasievoller Forscher hervorgegangen ist. Liest man seine eigenen Texte, kommt man ihm näher. Viele seiner Exegeten bleiben, zumindest in diesem Band, oft recht kryptisch.

Anmerkungen:
1 Vor allem durch seine Schrift „L’Invention du Quotidien. Arts de Faire“, Paris 1980 (deutsch: Kunst des Handelns, Berlin 1988).
2 Vgl. unter anderem: Michel de Certeau, L’Absent de l’Histoire, Paris 1973, Ders., L’Écriture de l’Histoire“, Paris 1975 (deutsch: Das Schreiben der Geschichte Frankfurt am Main 1991).
3 Ders., La Possession de Loudun, Paris 1970.
4 Ders., La Fable Mystique, Paris 1982; Ders., La Faiblesse de Croire, Paris 1987.
5 Ders., Das Schreiben der Geschichte, S. 137.

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