L. Sadiki: Rethinking Arab Democratization

Titel
Rethinking Arab Democratization. Elections Without Democracy


Autor(en)
Sadiki, Larbi
Reihe
Oxford Studies in Democratization
Erschienen
Anzahl Seiten
352 S.
Preis
€ 54,66
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Irene Weipert, Islamwissenschaft, Universität Bamberg

Die Hoffnung, dass eine Dritte Welle der Demokratisierung auch die Länder des Nahen Ostens erfassen würde, ist mittlerweile verflogen. Zwar wurden in fast allen Ländern der Region Reformen durchgeführt, die Wahlen, Parlamente und Mehrparteiensysteme einführten bzw. stärkten, aber von einem tatsächlichen Regimewandel vom Autoritarismus zur Demokratie kann nicht die Rede sein. Larbi Sadiki, Senior Lecturer in Middle East Politics an der Universität Exeter, arbeitet seit Jahren zum Thema Demokratisierung der arabischen Länder des Nahen Ostens und versucht nun in „Rethinking Arab Democratization: Elections without Democracy“ die Frage zu beantworten, was der Anstieg von Wahlen im Nahen Osten über eine mögliche Demokratisierung bzw. „Transition“ der arabischen Staaten aussagt. Dabei beleuchtet er die möglichen Varianten der Initiierung und Förderung von Wahlen: entweder von oben durch autoritäre Eliten oder durch externe Akteure gesteuert oder von unten durch soziale Unruhen oder neue Medien erzwungen.

Sadiki beginnt mit einer Diskussion des Grundverständnisses von Demokratisierung, wobei er sowohl die englisch- als auch die arabischsprachige Forschung mit einbezieht. Daraufhin analysiert er Demokratisierungsprozesse durch Wahlen, die durch autoritäre Eliten selbst veranlasst wurden. Dafür beleuchtet Sadiki in Kapitel 2 zunächst die Zeit von 1998 bis 2008, in denen Wahlen entweder neu eingeführt oder bereits zur Routine wurden, um dann in Kapitel 3 einen Schritt zurück zu den Jahren 1975 bis 1997 zu machen, als in einigen arabischen Ländern des Nahen Ostens politische Liberalisierung stattfand und eine erste Häufung von Wahlen zu beobachten war. Kapitel 4 widmet sich der Diskussion der Demokratieförderung durch externe Akteure. Hierbei dekonstruiert Sadiki insbesondere die Greater Middle East Initiative (GMEI) der USA. In Kapitel 5 thematisiert er Demokratisierung von unten in Form von sozialen Unruhen, genauer gesagt der so genannten Brotunruhen. In Kapitel 6 schließlich behandelt er die Auswirkung neuer Kommunikationsmedien auf die Bildung einer arabischen Öffentlichkeit, insbesondere mit Blick auf Talkshows und die Online-Meinungsumfragen des Satellitensenders Al Jazeera.

Die Grundannahme, die Sadikis Verständnis von Demokratisierung zugrunde liegt, besagt in Anlehnung an Laurence Whitehead, dass Demokratisierung nicht linear erfolgt, sondern ein nicht genau zu bestimmender, instabiler Prozess mit offenem Ende ist. Explizit wendet sich Sadiki gegen Samuel P. Huntingtons bis heute einflussreiche These von der „Dritten Welle der Demokratisierung“, die einen linearen, determinierten Ablauf beinhaltet und die Bedeutung von Strukturen und Institution besonders betont. Sadiki plädiert dafür, diese und andere europäisch-amerikanische Dogmen der Demokratieforschung in Bezug auf den Nahen Osten zu überdenken, auch wenn diese sogar in der spärlichen arabischen Literatur zu finden seien. Dazu gehört unter anderem das Dogma, dass Wahlen angeblich zur Demokratie führten. Dem stellt Sadiki die These entgegen, dass Wahlen im Nahen Osten dazu beitragen würden, die autoritären Systeme zu erhalten. Es handele sich hierbei um reinen Elektoralismus, also formale Wahlprozeduren ohne Einfluss auf die tatsächlichen Herrschaftsverhältnisse, die sich seit 1998 bis hin zu einer Art Wahlfetischismus entwickelt hätten (S. 60). An der Macht der Eliten und deren Klientel hätte sich jedoch nichts verändert, weder in den Staaten des Arabischen Golfs, die erst kürzlich Wahlen eingeführt hätten, noch in den Ländern, die bereits seit Mitte der 1970er-Jahre Wahlen durchführen und dort bereits zum politischen Alltag gehörten. Zwar ließen sich Wahlen in den Ländern mit längerer Wahltradition nicht mehr einfach abschaffen, und auch ein gewisser Grad an Wettbewerb sei mittlerweile normal, aber zu Machtwechseln oder politischen Strukturveränderungen führten sie nie: In Ländern mit schwacher Staatlichkeit wie dem Libanon stärkten Wahlen den Konfessionalismus. Patriarchalische Strukturen würden auch durch Wahlen mit Frauenquoten nicht gebrochen. Wahlen stellten vielmehr Phasen der politischen Liberalisierung dar, denen Phasen der Deliberalisierung folgten. Dieses Vor und Zurück auf dem Weg zur Demokratie entspricht nach Sadiki der Nicht-Linearität von Transition. Politische Liberalisierung sei dabei Teil einer funktionalen Demokratisierung, die die Härten der ökonomischen Liberalisierung, wie sie externe Akteure forderten, durch begrenzte Erhöhung der Partizipation abmildern sollen (S. 100-106).

Die externe Demokratieförderung ist nach Sadiki auch vom Struktur- bzw. Institutionsansatz dominiert, der Wahlen höchste Priorität einräumt. Dabei deckt Sadiki Asymmetrien in den Wissens- und Machtstrukturen der US-amerikanischen GMEI auf – unter anderem die Tatsache, dass diese auf regional gewonnene Erfahrungen keinerlei Bezug nimmt. Auf der anderen Seite, so Sadiki, würden die USA undemokratische Methoden gebrauchen, um Demokratisierung zu erzwingen, so zum Beispiel die Einschüchterung der Hizbullah im Libanon und der Hamas in Gaza und die Invasion des Iraks. Durch dieses Vorgehen würde das Demokratisierungsprogramm an Legitimität verlieren (S. 160-178).

Wirkliches Potential für Wandel sieht Sadiki allein in bottom-up Entwicklungen. Zum einen sieht er eine Korrelation zwischen Brotunruhen und politischen Reformen. Die von Wirtschaftskrisen hervorgerufenen Aufstände würden sich meist politisieren und könnten nicht einfach mit Repression und Gewalt beendet werden. Dies liege daran, dass diese bread riots auf eine Verletzung des moralischen Grundkonsenses in der Gesellschaft hinwiesen. Daher würden besonders die Islamisten, die sich selbst als Vertreter der gesellschaftlichen Moral sehen, der Nahrungsmittelsicherheit oberste Priorität einräumen und als Hauptakteure bei Brotunruhen auftreten. Um den Druck zu senken, würden autokratische Eliten größere Partizipationsmöglichkeiten gewähren, so zum Beispiel die Einführung bzw. Verstetigung von Wahlen: „when the masses took the streets demanding bread they were given the vote“ (S. 217). Für diese These spricht, so Sadiki, auch die Tatsache, dass reiche Länder erst kürzlich und auf externen Druck hin Wahlen eingeführt hätten und ärmere arabische Länder schon seit längerem Wahlen abhielten. Damit sieht Sadiki auch die Annahme von Lipset widerlegt, dass ökonomischer Wohlstand Demokratisierung fördern würde (S. 220-223). Zudem gelte es, die Rolle der Gewalt, die bisher in der Transitionsforschung negativ bewertet wurde (da nur Stabilität Demokratie fördern würde), neu zu überdenken. Revolten könnten öffentliche Unzufriedenheit artikulieren, die die Regierenden mit Wahlen zu kompensieren versuchten. Hier erscheine Gewalt in gewissem Sinne als demokratieförderlich. Sadiki spricht von einem „two-way flow of societal demands and state responsiveness“ (S. 209).

Ein zweiter Ort, an dem Wandel zumindest vorbereitet werden könnte, seien die Medien. Satellitenfernsehen, allen voran der Nachrichtensender Al Jazeera mit seinen Polit-Talkshows und das Internet via Blogs haben neue Möglichkeiten eröffnet, divergierende Meinungen zu präsentieren und zu diskutieren. Die Online-Meinungsumfragen von Al Jazeera, die zwar nicht den Standards empirischer Sozialforschung folgten, dienten vielmehr dazu, Taboo-Themen anzusprechen und der arabischen Bevölkerung einen Ort bereitzustellen, an dem man die eigene Stimme erheben bzw. abgeben kann (S. 256-263). Damit stärkten sie die laufende Konstruktion einer arabischen öffentlichen Meinung, die nach Sadiki einen Anfang für Demokratisierung im Nahen Osten darstellen könnte, die jedoch, wie die Ergebnisse der Meinungsumfragen vermuten lassen, der westlichen Demokratisierungsförderung ablehnend gegenüber steht.

„Rethinking Arab Democratization“ ist ein wichtiger Schritt für die Nahostforschung, da hier zum einen einige, bereits stark angezweifelte Annahmen der Transitionsforschung nach Huntington endgültig ad acta gelegt werden, allen voran die Annahme, dass strukturelle Reformen von oben – angestoßen von autoritären Machthabern oder von externen Akteuren – Demokratisierung hervorbringen bzw. diese fördern würden. Dem setzt Sadiki neue Ansätze einer Demokratisierung von unten entgegen, die um einiges tiefgründiger und mutiger sind als die Forschung zur Zivilgesellschaft der 1990er-Jahre. Seien es Brotunruhen oder Polit-Talkshows, Sadiki legt nicht die Maßstäbe einer demokratischen Zivilgesellschaft zur Beurteilung dieser Phänomene an, sondern bezieht konsequent den autoritären Staat mit ein und kommt daher auch zu anderen Ergebnissen hinsichtlich der Rolle von Gewalt oder der Entstehung einer arabischen Öffentlichkeit.

Dennoch bleibt bei der Lektüre die Frage präsent, warum Sadiki überhaupt beim Demokratisierungsparadigma bleibt. Zwar liegt diesem ein offenes Verständnis zugrunde, aber es bleibt unklar, warum Sadiki für die 1860er- bis 1880er-Jahre und 1920er- bis 1950er-Jahre von Wellen der Liberalisierung spricht und ab den 1970er-Jahren zumindest Entwicklungen von unten als Teil einer nicht-linearen Demokratisierung interpretiert. Dies mag zum einen daran liegen, dass Sadiki die so genannten Liberalisierungswellen etwas leichtfertig als allein von außen herbeigeführt betrachtet. Zum anderen ist dies wohl durch die fehlende Unterscheidung zwischen „Demokratisierung“ und „Liberalisierung“ zu erklären, die je nach Definition der einzelnen Begriffe unterschiedlich ausfällt: Wenn „liberal“ als fest verbunden mit Demokratie angesehen wird, dann müsste man auch die Zeit seit den 1860er-Jahren als „Demokratisierung“ beschreiben. Sämtliche Entwicklungen bis heute könnten dann als nicht-linearer Verlauf des Demokratisierungsprozesses mit offenem Ende interpretiert werden. Man kann „liberal“ aber auch analytisch von Demokratie trennen und unter einer liberalen Ordnung Konstitutionalismus, Parlamentarismus und Rechtsstaatlichkeit verstehen, welche unabhängig von der demokratischen Idee des freien und gleichen Herrschaftszugangs ist. Eine grundsätzliche Diskussion dieses schwierigen Verhältnisses von Liberalisierung und Demokratisierung wäre in diesem ansonsten sehr überlegten und analytisch scharfen Buch wünschenswert gewesen.

Insgesamt kann „Rethinking Arab Democratization“ sowohl als kompakte und gut verständliche Einführung zum Thema Wahlen im Nahen Osten dienen als auch als wichtiger Beitrag zur Demokratisierungs- bzw. Autoritarismusforschung gesehen werden.

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