A. Brendecke u.a. (Hrsg.): Die Autorität der Zeit in der Frühen Neuzeit

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Titel
Die Autorität der Zeit in der Frühen Neuzeit.


Herausgeber
Brendecke, Arndt; Fuchs, Ralf-Peter; Koller, Edith
Reihe
Pluralisierung und Autorität 10
Erschienen
Münster 2007: LIT Verlag
Anzahl Seiten
536 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reiner Prass, Honorarprofessur Historische Anthropologie, Universität Erfurt

„Zeit“ bestimmt bewusst oder unbewusst unser Denken und Handeln, sie ist für uns ein Taktgeber von Tages- und Jahresabläufen geworden. Daher ist es naheliegend, dass – gerade auch unter dem Einfluss des cultural turn – sich zahlreiche neuere Studien mit „Zeit“ beschäftigen, die sie sowohl als eine Voraussetzung historischer Prozesse als auch als soziales Konstrukt verstehen. Das heißt jedoch, dass die Interpretation der jeweiligen „Zeit“ den Kontext ihrer Verwendung berücksichtigen muss. Der vorliegende Band reiht sich in diese kulturhistorische Tradition, die den Arbeiten Jacques Le Goffs und Reinhart Kosellecks zentrale Anregungen verdankt, ein.

Haben sich die bisherigen Studien zur Geschichte der Zeit einzelnen Phänomenen ihres Gebrauchs und Verständnisses gewidmet, so verfolgt der hier zu besprechende Band den Anspruch, die „Eigentümlichkeit frühneuzeitlicher Zeitkonzepte“ (S. 12) darzustellen – in diesem Fall vor allem die Zeitkultur im 16. und 17. Jahrhundert, während nur wenige Beiträge das 18. Jahrhundert behandeln. Als Spezifikum der Frühen Neuzeit sehen die Herausgeber eine Herausbildung von Autorschaft und Individuum, eine selbstdisziplinierende Zeitökonomie und einen obrigkeitlich-staatlichen Anspruch, Zeit zu bestimmen. Daher soll besonders die „regulative, disziplinäre und deliberative, d.h. Entscheidungen provozierende Qualität von Zeit und Zeitsetzungen betrachtet werden“ (S. 11). Das betrifft die Neukonfigurierung der Gesamtdeutung von Zeitlichkeit in religiösen Debatten und in der Historiographie ebenso wie eine neue Sensibilität für die Zeichen der Zeit und die Gestaltbarkeit von Zeitordnung und Zeitsemantik.

Der frühneuzeitliche Umgang mit Zeit wird in einer breiten Palette von Lebens- und Deutungsbereichen thematisiert, es werden das Verständnis von Lebenszeit, der Umgang mit Zeit in verschiedenen Erfahrungsräumen, konkrete Reglementierungen von Zeit, die Bedeutung von Zeit für „Entscheidungen“ und schließlich die Verwendung von Zeit in der Historiographie diskutiert. Untersucht werden Praktiken, Konzeptionen und Diskurse.

Auch wenn die Umbrüche zu Beginn der Frühen Neuzeit zu neuen Zeitkonzeptionen führten, war dies kein vollständiger Umbruch. Eckhard Kessler zeigt, dass die Philosophen des 16. Jahrhunderts weiterhin von antiken Zeitkonzeptionen ausgingen. Aber ihre Wiederentdeckung des Kairos-Begriffs, das heißt der Vorstellung des richtigen Augenblicks, weist bereits auf neue Zeiterfahrungen hin. Auch in Medizin und Religion wirkten antike Zeitkonzepte bis in das 16. und 17. Jahrhundert fort. Aber während in der Medizin die antike Theorie der klimakterischen Jahre erst mit der Entwicklung neuer Körpertheorien im 17. und 18. Jahrhundert ihren Einfluss verlor (Michael Stolberg), wirkten sich die Umbrüche im Kirchenleben seit dem 16. Jahrhundert unmittelbar auf kirchenpolitische Zeitvorstellungen aus. Das traditionelle, an der Ewigkeit orientierte Zeitverständnis wurde durch die Kirchenspaltung in Frage gestellt. Sie nötigte nach Winfried Schulze die Menschen, an praktischen Umständen orientierte Lösungen zu akzeptieren, wodurch es von nun an zwei parallel existierende Zeitebenen gab, eine theologische (Ewigkeit) und eine politische (an den Umständen orientiert). Marcus Sandl fasst die Folgen noch weiter, er sieht die Reformation als umfassende „Rekonfiguration der Temporalstrukturen historischer Sinnproduktion“ (S. 382). Die Reformation wird zu einer Zeitenwende, sie wendet sich von der Einheit der Überlieferung ab und formuliert die Erkenntnissicherheit durch die Wiederherstellung des von Gott gesetzten Wortes neu.

Die zu Beginn der Frühen Neuzeit erlebten politischen Umbrüche erforderten eine explizite Auseinandersetzung mit der Geschichte. Thomas Kaufmann zeigt, wie das apokalyptische Denken im 16. Jahrhundert die Interpretation der politischen Ereignisse beeinflusste. Er deutet die Apokalyptik als kulturellen Code, als eine Deutungsmatrix zur Verbindung aktueller Ereignisse und apokalyptischer Bestände der Bibel. Doch die Menschen mussten nicht nur die Umbrüche interpretieren, sondern auch die Frage des Umgangs mit Tradition, dem sich Markus Völkel widmet. Die Kirchenspaltung führte zu einer Pluralisierung der Zeit, die eine neue Meistererzählung erforderte. Aber die von katholischen und protestantischen Historikern präsentierten Lösungen vermochten nach Völkel bis ins 18. Jahrhundert nicht, die sich widersprechenden Ansprüche an diese Erzählung zu überwinden. Zugleich entwickelten Historiker mit den historischen Tabellen eine Darstellungsform, die es erlaubte, das Material übersichtlich zu ordnen und ihm zugleich eine Gewichtung zu geben (Arndt Brendecke).

Zeit spielte über diese abstrakten Konstruktionen hinaus auch eine unmittelbar praktische Rolle, sie diente als Argument in Rechtsstreitigkeiten, bei der Verteidigung von Rechtsansprüchen (Christiane Birr) oder im Konflikt um erzwungene Konversionen von Kindern aus gemischtkonfessionellen Ehen nach dem Tod der Eltern, in denen die Parteien um den Zeitpunkt der Konfessionsmündigkeit stritten (Dagmar Freist). Auch bei der Festlegung des Normaljahres 1624 zur Regelung konfessionspolitischer Ansprüche nach 1648 war die Zeit ein höchst strittiges Argument. Viele Betroffene widersetzten sich der Normaljahrsregelung unter Hinweis auf eine längere Tradition (Ralf-Peter Fuchs). Schließlich diente die Zeit in der Rechtswissenschaft auch als Ordnungsmuster. Durch das Fehlen eines leistungsfähigen juristischen Kategoriensystems griffen die Juristen nach Thomas Duve auf das Lebensalter als ein grundlegendes sozio-kulturelles Ordnungsmuster zurück.

Für die böhmischen Exulanten in Sachsen diente Zeit zur Definition ihrer eigenen Position (Alexander Schunka). Als sie erkannten, dass das Exil zu einem dauerhaften Zustand wurde, wechselten sie von der ursprünglichen Annahme eines befristeten Lebensabschnitts zum Selbstverständnis als dauerhafte Märtyrer religiöser Verfolgung. Bestimmten in diesem Fall die Betroffenen selbst das Verständnis von Zeit, so zeigen mehrere Beträge, dass diese Epoche durch das Bestreben gekennzeichnet war, Definition und Gebrauch von Zeit zu dominieren. Karl Härter zeigt, dass über die Durchsetzung abstrakt-linearer Zeitordnungen in städtischen und landesherrlichen Policey-Ordnungen die Zeit ein Instrument „guter Ordnung und Policey“ (S. 187) wurde. Er sieht dies als eine Reaktion auf die Verdichtung sozialer und ökonomischer Beziehungen, die menschlichen Handlungen sollten dabei der Zeitmessung angepasst werden, um sie besser koordinieren zu können. Wie die neuen, abstrakten Zeitstrukturen in einzelne Lebensbereiche eindrangen, zeigt Stefan Ehrenpreis am Beispiel der Schulen.

Eine neue Regelung von Zeit durchzusetzen, war eine Machtfrage, wie Edith Koller am Beispiel der Einführung des Gregorianischen Kalenders 1583 darlegt. Dieser allgemein als notwendig angesehenen Kalenderreform verweigerten die protestantischen Stände ihre Anerkennung, weil Papst Gregor sie Kraft eigener Machtvollkommenheit verkündete und sie nicht durch Kaiser und Reichsinstitutionen eingeführt wurde. Auf Widerspruch stieß auch die von Klaus Schreiner analysierte Reduktion der Feiertage in den katholischen Territorien Süddeutschlands im späten 18. Jahrhundert. Die einfache Bevölkerung wollte sich nicht die in ihre eigene Kultur integrierten Feiertage nehmen lassen.

Diese von oben eingeführten Versuche der Regelung von Zeit griffen somit in die alltägliche Lebenswelt einfacher Menschen ein, und es entstanden neue, einander zum Teil widerstreitende Zeitvorstellungen. Dies wird am deutlichsten in dem Beitrag von Jan Peters über die verschiedenen Vorstellungen von Recht-Zeitigkeit in ländlichen Gesellschaften. Er weist auf ein Nebeneinander verschiedener Zeitsysteme mit unterschiedlichen Prioritäten wie Jahreszyklen oder Festzyklen hin. Die Versuche der Gutsherren, eine neue Arbeitsdisziplin einzuführen, empfanden sie als Gefährdung ihrer bisherigen Zeitökonomie, gegen die sie sich erfolgreich wehrten. Dagegen kann Kaspar Greyerz anhand englischer Selbstzeugnisse belegen, wie bei einzelnen Mitgliedern des englischen Bürgertums im 17. Jahrhunderts Bestrebungen aufkamen, ihr Leben selbst nach einer festen Zeitstruktur zu ordnen. Doch auch sie verwendeten in unterschiedlichen Lebensbereichen noch verschiedene Zeitökonomien.

Die in dem Sammelband zusammengetragenen Beiträge präsentieren die Verwendung von „Zeit“ in einer enormen Bandbreite, deren Möglichkeiten sicherlich nicht voll ausgeschöpft wurden. Der Umgang mit Zeit präsentiert sich als ebenso vielschichtig wie ihre Anwendungsbereiche. Dabei gelingt es, die Eigentümlichkeit frühneuzeitlicher Zeitkonzepte aus den geistesgeschichtlichen, politischen und sozialen Zusammenhängen abzuleiten. Die Autorinnen und Autoren können zeigen, wie von oben in Zeitregelungen – auch zu (selbst-)disziplinierenden Zwecken – eingegriffen wurde, und wie umgekehrt Zeitvorstellungen regulative Kraft besaßen. Das Entstehen individuellen Zeitmanagements tritt ebenso zu Tage wie die Bewältigung der Umbrüche des 16. Jahrhunderts mittels neuer Zeitkonzeptionen. Nur die anfangs formulierte These der Ausbildung von Individualität und Autorschaft wird allenfalls in dem Beitrag von Kaspar von Greyerz indirekt belegt. Der hier präsentierte Ansatz, die Verwendungen von Zeit in einer begrenzten Epoche in unterschiedlichsten Bereichen und unter verschiedenen Perspektiven zu präsentieren, erweist sich als überaus fruchtbar, doch bei dieser Fülle nebeneinander existierender und miteinander verwobener Aspekte hätte sich der Rezensent noch eine abschließende Synthese gewünscht, in der – in Abgrenzung zu umliegenden Epochen – die Besonderheit der frühneuzeitlichen Zeitkonzepte analytisch herausgearbeitet worden wäre.