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Titel
Aufwachsen bei Hof. Aufklärung und fürstliche Erziehung in Hessen und Baden


Autor(en)
Kollbach, Claudia
Reihe
Campus Historische Studien 48
Erschienen
Frankfurt am Main 2009: Campus Verlag
Anzahl Seiten
428 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Notker Hammerstein, Historisches Seminar, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt

Die Frage der Erziehung von Prinzen und Prinzessinnen hat die wissenschaftliche Geschichtsschreibung im Allgemeinen nur wenig interessiert. Abgesehen von einer kurzen Phase im späten 19. Jahrhundert, in der zugleich eine Reihe von einschlägigen Quellenpublikationen veröffentlicht wurde, widmeten sich seriöse Historiker kaum diesem Problemzusammenhang. Das mag unter anderem damit zusammengehangen haben, dass viele europäische Länder nach wie vor eine monarchische Staatsform hatten, deren Dynasten nicht respektloser Gegenstand solcher eher als privat angesehener Dinge sein sollten. Es wurde unterstellt, dass in Königs- oder Fürstenhäusern Begabungen gleichsam angeboren seien, die auf bestimmte, nicht näher zu erörternde Weise gefördert und gefestigt würden. Es sei müßig, sich historisch mit der Erziehungspraxis und -theorie eines Karl V., Ludwig XIV. oder einer Elisabeth I. zu befassen. Dem handelnden und Verantwortung tragenden Fürsten habe die Aufmerksamkeit zu gelten, nicht dem heranwachsenden.

In den letzten zwei bis drei Dezennien hat sich das geändert. Adelsforschung, die Rolle der Frauen am Hof, die Einsicht, dass – wie bereits Erasmus und die Humanisten lehrten – erst der erzogene Mensch ein Mensch sei, es also entschieden auf die Ausbildung ankomme und nicht auf die Abstammung, haben dazu geführt, dass diesen Fragen größeres Interesse entgegen gebracht wurde. Inzwischen sind nicht wenige Abhandlungen zu diesem Themenkreis erschienen. Sie folgen der anthropologischen und wissenschaftshistorischen Erkenntnis der Bedeutung von Erziehung und Bildung für Weltbild, Handeln, Verantwortungsbewusstsein, Denken und Fühlen aller Personen, auch der herausgehobenen.

Die vorliegende Dissertation gehört in diesen Rahmen und stellt eine wichtige, verlässliche und glänzende Ergänzung der bisherigen Untersuchungen dar. In guter Kenntnis einer weitgespannten Literatur, in souveränem Umgang mit einer reichhaltigen Überlieferung, kluger Auswahl dieses Archivmaterials für ihre Thesen zeichnet Claudia Kollbach ein überzeugendes Bild der entsprechenden Verhältnisse an zwei ungefähr vergleichbaren Höfen des Heiligen Römischen Reichs während des 18. Jahrhunderts. Dieses auch „pädagogisch“ genannte Jahrhundert der Aufklärung maß der Erziehung bekanntlich besonderen Wert bei. Das wurde – und wird – gerne als ein starkes bürgerliches Moment in der zu Ende gehenden Adelswelt bewertet, das die kommende Welt vorwegnahm. Am Beispiel der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt und der Markgrafschaft Baden-Durlach überprüft die Arbeit nicht nur dieses Urteil, sie analysiert anhand sprechender und reicher Überlieferung auch die historische Realität.

In vier großen Abschnitten werden alle wichtigen und möglichen Gegebenheiten der Erziehungsvorstellungen und Erziehungspraxis ausgebreitet. Das beginnt mit einer Übersicht über die Forschungslage, aus der sich die eigene Fragestellung herausschält. Eine historisch-politische Beschreibung der beiden Höfe rundet die Einleitung ab. Im zweiten Großkapitel werden die jeweiligen fürstlichen Familien in ihren Erziehungskonzepten und -instruktionen, ihrer Kenntnis der zeitgenössischen wie auch älteren einschlägigen Traktate, der Erziehungspraxis selbst, der persönlichen Beteiligung der Eltern – im Zuge der Aufklärung gerade auch die der Mütter – dargestellt. Die Rezeption pädagogischer Schriften – nicht zuletzt französischer und allgemein reformpädagogischer – wird detailliert eruiert; die medizinische Fürsorge und Zeugnisse einer neuen Emotionalität – beides bislang selten – werden geschildert. Geschlechtsspezifische Erziehung, die Rolle von repräsentativen Anforderungen, die des Erziehungspersonals zunehmend bürgerlicher Herkunft, die Vorgaben von Hof, von standesgemäßen Eheverbindungen und anderes mehr finden ausführliche Berücksichtigung jeweils für beide Territorien, wobei Baden-Durlach ein wenig im Vorteil erscheint.

Die Vermittlung von Wissen und Fertigkeiten durch Lehrer und Erzieher finden anschließend eine weit ausgreifende Analyse. Die Konzepte der Prinzenerzieher, Hofmeister und Präzeptoren, der Einfluss des Philanthropismus, der Fächerkanon der Prinzen und der Prinzessinnen, der Religionsunterricht und die Vermittlung des für die Landesherrschaft wichtigen Wissens sowie die Kavalierstouren werden abgehandelt. Eine Schlussbetrachtung beschließt die Abhandlung. Sie bringt viel Neues, das nicht in knappen Worten vorgestellt werden kann. Da sie auf solider Quellenbasis aufruht, nicht zuletzt Tagebüchern der fürstlichen Mütter, die untereinander korrespondierten und sich über diese Fragen verständigten, sind die Ergebnisse gefestigt. Das erscheint mir bedeutungsvoll, korrigiert Kollbach doch manch geheiligtes Vorurteil.

Einiges sei abschließend genannt. Bislang sei in der einschlägigen Forschung übersehen worden, dass die sogenannte bürgerliche Aufklärungspädagogik weitgehend von der Hofmeistererziehung zehrte, die diese Vorstellungen zunächst entwickelt hatte. Der Adel hatte insgesamt wichtigen Anteil an der Verbreitung und Umsetzung dieser Erziehungsideale. Folgerichtig nimmt er im 18. Jahrhundert für diese Aufgaben immer mehr bürgerliche Erzieher in Dienst, der adlige Hofmeister tritt zurück. Auch wurden philanthropische, physiokratische und andere Reformvorstellungen an den beiden behandelten Höfen unmittelbar aufgenommen, womit das häufige Urteil einer Gegnerschaft des Adels zu aufklärerischen Projekte falsch erscheint. Zunehmend beteiligten sich ab der Mitte des Jahrhunderts die Fürstinnen – anders als zuvor – unmittelbar an der Erziehung ihrer Kinder. Das neue Familienideal, die aufklärerische Reformpädagogik – weitgehend als bürgerlich bezeichnet – verdankten der Erziehung bei Hofe ganz wesentliche Impulse. Dass das vom aufstiegswilligen Bürgertum in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts anders dargestellt wurde, dass es diese Neuerungen als genuines Ergebnis eigener Tätigkeit reklamierte – erstrebte es doch eine Standesverbesserung –, ändert nichts an dem nachweisbaren Sachverhalt.

Ein grundsolides, für seine Fragestellung wichtiges Buch ist damit anzuzeigen. Es korrigiert bisherige Ansichten und überzeugt durch Nüchternheit und Sachverstand. Nicht nur für die Geschichte der Pädagogik, der Erziehung, des Wissens, auch für die Adels- und Geschlechtergeschichte bringt es weiterführende, neue und wichtige Aspekte. Wenn ich einen kleinen Einwand machen sollte, so wäre es der, dass die Autorin übersieht, dass manche der der Aufklärung zugesprochenen Errungenschaften bereits bei den Humanisten gefordert und erzielt worden waren. Gelegentlich, bei Erwähnung etwa des Erasmus, scheint Kollbach selbst diese Idee zu haben. Sie traut ihr aber nicht recht, was sie bei erweiterter Lektüre leicht hätte feststellen können. Aber auch so hat sie sich durch eine solche Fülle von Lektüre arbeiten müssen, dass es unfair wäre, ihr das anzulasten.

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