R. Borgards u.a. (Hrsg.): 50 Anfänge einer Moderne

Titel
Kalender kleiner Innovationen. 50 Anfänge einer Moderne zwischen 1755 und 1856. Für Günter Oesterle


Herausgeber
Borgards, Roland; Hammer, Almuth; Holm, Christiane
Erschienen
Anzahl Seiten
424 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Ries, Friedrich-Schiller-Universität Jena / derzeit Universität Potsdam

Die dem bekannten Gießener Germanisten und Sprecher von bedeutenden kulturgeschichtlichen Sonderforschungsbereichen Günter Oesterle gewidmete Festschrift fällt etwas aus dem Rahmen der sonst üblichen Jubiläumsgaben. Sie nutzt nämlich das vormoderne Erinnerungsmedium des Kalenders, um die Anfänge der Moderne zu beschreiben. In zeitlich unregelmäßigen Abständen werden von 1755 (dem Erscheinungsdatum von Winckelmanns „Gedanken über die Nachahmung“) bis 1856 (dem Todesjahr Heinrich Heines) kleine Innovationen des jeweiligen Jahrgangs (insgesamt 50 an der Zahl) präsentiert, welche in bewusst zusammenhangsloser Reihung auf ihre Weise die von Koselleck so genannte „Sattelzeit der Moderne“, eines der Hauptinteressengebiete Günter Oesterles, beschreiben sollen. Das reicht vom „Farbenklavier“, einer Erfindung Louis-Bertrand Castels aus dem Jahre 1755, bis zu den „Parallelwelten“, die Hugh Ridley durch einen Vergleich zwischen Fontane und Emerson hinsichtlich der Ausprägung des Realismus für das Jahr 1853 konstruiert (1856 gab es offenbar keine nennenswerten Innovationen, denn die Herausgeber sparen unkommentiert das letzte Jahr aus). Durch diese lose Kompilation kleiner Erfindungen soll vor allem eines erreicht werden: die Verabschiedung „der Idee eines Masterplans, einer Großerzählung für den Beginn moderner Zeiten“ und die Betonung der „viele[n] kleine[n] Anfänge“, der „viele[n] unscheinbare[n] Einsatzpunkte, die sich erst rückblickend zu einer Anfangsgeschichte verbinden lassen“ (Klappentext). Abgesehen davon, dass – glaube ich – niemand allen Ernstes behauptet, unsere Moderne hätte „den einen großen Anfang“ gehabt, ist der Ansatz interessant, „das Kleine mit großer Reichweite, das Marginale mit zentralem Effekt“ (ebd.), also kurz „das Randständige“, das angeblich Günter Oesterle stets faszinierte (S. 2), herauszustellen und so einen anderen, vielleicht fremden Blick auf den Beginn der kulturellen Moderne zu werfen. Gelingt dies auch oder bleiben die kleinen Innovationen am Ende doch zu disparat, um einen Zusammenhang herzustellen bzw. erkennen zu lassen?

Es können hier nicht alle 50 Innovationen genannt und durchgegangen werden (dafür muss man das Buch kaufen), aber auf einige kleine Erfindungen und Eindrücke soll hingewiesen werden. Es handelt sich natürlich vorwiegend um immaterielle Erfindungen, die den Beginn der kulturellen Moderne konturieren, bzw. die wenigen materiellen, die behandelt werden – wie das Brennglas aus dem Jahre 1774, die Argand-Lampe von 1783 oder die Erfindung des Aethers aus dem Jahre 1847 – werden auf ihre mentalitätsgeschichtlichen und im weitesten Sinne kulturellen Implikationen befragt. Viel Interessantes wird dabei zu Tage gefördert, wie zum Beispiel „die Geburt der Tätowierung aus dem Geist der Schrift“ von Ulrike Landfester, die die aufklärerische Kritik an der Tätowierung bei eingeborenen Völkern auf Tahiti als Zivilisationsrückstand wiederum kritisiert und auf die moderne Beziehung zwischen Tätowierung und Schrift verweist; oder – um in der chronologischen Reihenfolge fortzuschreiten – die „Erfindung der Psychen-Analyse aus der nachträglichen Verschriftlichung von Krankheitszuständen“, die Harald Neumeyer am Fall des Berliner Pädagogen K.H. Jördens aus dem Jahre 1782 nachzeichnet – ein Beitrag, den man mit dem Maximilian Bergengruens über die „Erfindung der Psychoanalyse durch Johann Christian Reil“ im Jahre 1807 in Beziehung setzen sollte. Auch andere Beiträge werden deutlicher, wenn man sie zusammenzieht, wie etwa den Klaus L. Berghahns über „Moses Mendelssohns Aposiopese“ mit denjenigen von Wilhelm Solms zu „De Lignes Denkschrift der Juden“ von 1801 und von Itta Shedletzky über „Heinrich Heines innovative[n] Umgang mit jüdischen Belangen und Figuren“ in seinem Werk „Die Bäder von Lucca“ aus dem Jahre 1830; oder denjenigen Dietmar Riegers über die „Entmachtung des Zufalls“ am Beispiel des Versuchs zur Behebung der Arbeitslosigkeit durch Louis Sébastian Mercier im Jahre 1783 mit dem Erwin Leibfrieds zu „Lotterie und Literatur bei Goethe“ von 1797. Die chronologische Reihung zerreißt solche Zusammenhänge und die Herausgeber haben sich bewusst für diese postmoderne Relativität und historistische bzw. gar positivistische Perspektive entschieden, um die Dinge für sich sprechen zu lassen, in der Hoffnung, dass „auch dieses Buch den Gegenstand, von dem es spricht, selbst her[stellt]“ (S. 3) – eine beinahe vor-wissenschaftliche Hoffnung, die man keinem Doktoranden oder Habilitanden anraten möchte, die aber als Aufhänger für diese Festschrift durchaus ihren Reiz hat, weil so viele unterschiedliche Beiträger und Beiträgerinnen zusammenkommen, die aus ganz verschiedenen Herangehensweisen ihren Gegenstand erzählen und/oder analysieren und so auch den Pluralismus gegenwärtiger Methoden widerspiegeln. Das erleichtert zwar nicht unbedingt die Suche nach einem konzisen Gesamtbild, hat aber für den Leser etwas ungemein Abwechslungsreiches und Kurzweiliges und entspricht wohl auch am besten dem Gegenstand.

Einige Beispiele will ich noch nennen, um die Vielseitigkeit dieses Kaleidoskops kleiner Innovationen deutlich zu machen, wobei ich wieder in der chronologischen Reihe bleibe. Man erfährt etwas von Heinrich Bosse über „die Erfindung der Reifeprüfung“ im Jahre 1788 am preußischen Oberschulkollegium oder – für mich als Historiker besonders interessant – über „die Entdeckung der eigenen Abgründe“, die Werner Busch im Jahre I des Terrors der Französischen Revolution an eindrucksvollen Bildinterpretationen aufzeigen kann, welche den von Michel Vovelle konstatierten Mentalitätswandel im Bereich einer modernen Entgrenzung von Gewalt belegen. Weiter sind zu nennen der ‚leichtfüßige‘, dafür aber umso gelehrtere Beitrag Conrad Wiedemanns über „Philinität“, der eine neue Lesart des „Wilhelm Meister“ im Hinblick auf die Entwicklung einer „visionären Psychologie“ vorschlägt, „die bezeichnenderweise die Frauencharaktere bevorzuge und in der Figur der ‚unendlich-interessanten‘ Philine kulminiere“ (S. 164); oder die „spät entdeckte Pioniertat“ der Keilschrift-Entzifferungen durch Georg Friedrich Grotefend, den Erhard S. Gerstenberger neu entdeckt; weiter die sehr anregende Miszelle Odo Marquards „über Pierre-Hyacinthe Azäis’ Kompensationsbuch“ von 1808, welche die spätaufklärerische „Krise des Optimismus“ aus der „Kategorie der Kompensation“ philosophisch zu erklären versucht (S. 246) und damit ein wenig an das Interpretament von Panajotis Kondylis erinnert. Im gleichen Jahr fand Goethes berühmtes Gespräch mit Napoleon in Erfurt statt, an das Lothar L. Schneider – ganz im Gegensatz zu Goethe selbst – neu erinnert und darin „eine von zahllosen Autogenesen der Moderne im Gespräch“ erblickt (S. 257). Es folgt ein Jahr später, 1809, wiederum etwas ganz anderes mit „Beethovens Dynamisierung und Paradoxierung der Sonatenform“, in welcher Christine Lubkoll eine „Art ‚Erfindung der ästhetischen Moderne‘“ im Sinne einer „Überblendung des klassizistischen Formideals durch romantische Strukturprinzipien“ erblickt (S. 260). Ferner wird von Jörn Garber auf „die Entstehung der Soziologie im Konzept des ‚socialen‘ Positivismus“ durch eine Schrift des Berliner Publizisten Friedrich Buchholz aus dem Jahre 1810 verwiesen. Es folgen unter anderem „eine frühe Aufforderung zu einem naturwissenschaftlichen Programm der Moderne“ (Walter Hinderer), etwas über den „Beginn der erinnerungskulturellen Arbeit historischer Vereine in Deutschland“ von Michael Breitbach, der einen Altertumsverein in Hessen-Nassau 1812 als den ersten dieser Art ausmacht, und die „Pockenschutzimpfung im Kirchlied“, die 1812 erstmals in Bremen besungen wurde und von Hermann Kurzke wegen des Verschweigens von Krankheit und Heilmethode als „sakrale Verlogenheit, die man bis heute in den Kirchen so häufig findet“, entlarvt wird (S. 300).

Gerhard R. Kaiser informiert über den ersten Pariser Omnibus von 1828, der – offen für alle – die Gleichheitsidee der großen Französischen Revolution verkehrsgeschichtlich fortschreibe und schon ins Vorfeld der neuen Revolution gehöre, weil er, wie die Zeitgenossen bereits mutmaßten, auf derselben Grundlage wie die saint-simonistische Lehre beruhe: „nämlich der Associationstheorie“ (S. 342). Diese Erfindung und ihre Wirkung passen sehr schön zu der von Jürgen Reulecke beschriebenen Pfingstreise des Düsseldorfer Landgerichtsrats Karl Leberecht Immermann, der 1836 dem Pfingstrummel seiner Heimatstadt entfliehen wollte, um dann jedoch mit den Fortschritten der Moderne – wie der Eisenbahn und dem optischen Telegraphen – konfrontiert zu werden; so verdichteten sich bei ihm binnen zwei Tagen „Niedergang und Aufbruch, Melancholie auslösende Verlusterfahrung und Unüberschaubarkeit des Neuen zu einem höchst zwiespältigen Gebräu, für das Immermann wie kaum ein anderer deutscher Dichter ein Gespür besaß“ (S. 362). Man darf hier hinzufügen, dass kein Geringerer als Goethe schon drei Jahre zuvor in seinen „Maximen und Reflexionen“ (1833) die Schnelligkeit des Verkehrs und der Kommunikation in die treffenden Worte fasste: „Man verspeist im nächsten Augenblick den vorhergehenden, und so springts von Haus zu Haus, von Stadt zu Stadt, von Reich zu Reich und zuletzt von Weltteil zu Weltteil. Alles ist veloziferisch“. Goethe sah dieses veloziferische Zeitalter schon seit einigen Jahren heraufziehen, und man wird sagen können, dass die 1830er-Jahre in der Tat in vielerlei Hinsicht einen Wendepunkt darstellten. Auch bei den kleinen Innovationen scheint ein neuer Wind aufzukommen: Die Daguerreotypie wird 1839 erfunden und stellt für Heinrich Heine eine kleine Revolution in der Wahrnehmung von Geschichte und Wirklichkeit und der damit zusammenhängenden Frage nach ‚wahrer Objektivität‘ dar, wie Dorothee Kimmich in einem ausgesprochen anregenden, bis in die wissenschaftlichen Debatten der Gegenwart reichenden Beitrag darlegt. Kaum zehn Jahre später wird „der Aether gegen den Schmerz“ (1847) erfunden und die Diskussionen darüber besitzen – laut Roland Borgards – bereits ein relativ hohes Reflexionsniveau. Aber so rational und ‚groß‘ diese Innovationen schon waren, es werden auch weitere kleine genannt, die den Band beschließen, wie zum Beispiel „die Erfindung des ewigjungen Helden“, die Natascha Hoefer bereits in Alexandre Dumas’ Grafen-Helden Monte Christo 1845/46 ausmacht und dessen ewigjunge Komposition in frappierender Weise auf Dorian Gray, den Helden Oscar Wildes gegen Ende des Jahrhunderts verweist. Am Ende bleibt also in der Tat die Frage, was all die Beiträge zusammenhält und den Beginn der Moderne, wie er hier beschrieben wird, ausmacht.

Der vorletzte Beitrag von Hartmut Stenzel über „Prosa und Poesie der Moderne“ am vergleichenden Beispiel von Baudelaire und Marx gibt meines Erachtens einen Hinweis auf das Programm der gesamten Festschrift: Es geht in jedem Falle nicht um den Hegelschen Entwurf einer absolut gesetzten „bürgerlichen Ordnung“, in welcher die Moderne „bis hin zu der ihren Mechanismen unterworfenen vormodernen Herrscherfigur als eine in rationalen Ordnungen funktionierende Gesellschaft“ erscheint (S. 399), sondern es geht vielmehr um die Umwandlung dieser „Prosa der bürgerlichen Gesellschaft“ in die „Poesie einer Sinnlichkeit, die aus Hegels Reich der Vernunft ausgeschlossen bleibt“ (S. 403). Stenzel kann dies sehr schön an der Marxschen Konstruktion der Perspektive des Kommunismus zeigen, deren Aufhebung der Entfremdung des Individuums ein „Menschenbild“ zugrunde liegt, „das die Sinnlichkeit gegenüber dem Verstand rehabilitiert und ihre umfassende Entfaltung als neue Poesie gegen die Ordnung der Moderne setzt“ (S. 403). Das ist eigentlich der Grundgedanke, der sämtliche ‚kleinen Innovationen‘ von 1755 bis 1853 durchzieht: Die Geburt der Moderne aus dem Geist der Romantik oder anders und genauer: die Geburt der kulturellen Moderne aus den Prinzipien der Ästhetik, die wiederum eine wichtige Wurzel im romantischen Denken haben. Von daher kann sich der Jubilar Günter Oesterle durch diese Festschrift nicht nur geehrt, sondern in seinen Forschungen auch durchaus bestätigt fühlen.

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