M. North u.a. (Hrsg.): Ende des Alten Reiches im Ostseeraum

Titel
Das Ende des Alten Reiches im Ostseeraum. Wahrnehmungen und Transformationen


Herausgeber
North, Michael; Riemer, Robert
Reihe
Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 40
Erschienen
Köln 2008: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
352 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Ulbert, Langues Etrangères Appliquées, Université Bretagne Sud (Lorient)

Neben 1648, 1871, 1918 und 1945 ist 1806 wohl eine der wichtigsten Zäsuren der neueren deutschen Geschichte. Denn die am 6. August 1806 auf Druck Napoleons erfolgte Niederlegung der Kaiserkrone durch Franz II. löste nicht nur den auf eine fast tausendjährige Geschichte zurückblickenden Reichsverband auf, sie war auch der wichtigste Ausgangspunkt für die nun immer mehr an Gewicht gewinnende deutsche Nationalbewegung. Wie dieses Ereignis in Deutschland aufgenommen wurde, ob der schon bald als „Altes Reich“ bezeichneten (S. 194) politischen Organisationsform reichspatriotisch nachgetrauert wurde, deren Verschwinden aus protonationalistischen Gründen begrüßt wurde oder ihre Auflösung „sang- und klanglos“ vonstatten ging, stand schon in jenen Werken zur Debatte, die erschienen, als sich das Geschehen 2006 zum 200. Male jährte.1

Eben dieser Frage will auch der vorliegende Band nachgehen (S. 11). Wie im Titel bereits angekündigt, steht dabei der Ostseeraum im Vordergrund. Besonders die norddeutschen Reichsterritorien erscheinen den Herausgebern untersuchenswert, da sich hier möglicherweise Loyalitäten überschnitten hätten (S. 11). Das Buch versteht sich als Ergänzung des ebenfalls 2008 erschienenen Bandes „Das Jahr 1806 im europäischen Kontext“, dessen regionaler Schwerpunkt auf dem mitteldeutschen „Ereignisraum Weimar-Jena“ liegt.2 Es schließt aber auch locker an eine ebenfalls von Michael North mitherausgegebene, aber eher rechtsgeschichtlich ausgerichtete Veröffentlichung zur „Integration des südlichen Ostseeraumes in das Alte Reich“ an.3

Neben einer Einleitung, die vor allem aus Zusammenfassungen jedes einzelnen der nachfolgenden Beiträge besteht, umfasst das Buch 19 Aufsätze. 17 davon sind aus Vorträgen entstanden, die im Juni 2006 auf einem Symposium in Greifswald gehalten wurden.4

Drei Abteilungen strukturieren die Beiträge. In der ersten soll den „Transformationen in Europa und im Alten Reich“ (S. 22-142) und in der zweiten den „Wahrnehmungen des Reichsendes“ (S. 144-272) nachgegangen werden. Die letzte, kleiner bemessene Sektion trägt den Titel „Auf dem Weg zum Deutschen Bund“ (S. 274-346). Doch – das sei an dieser Stelle bereits erwähnt – ist die Einordnung der Aufsätze in die verschiedenen Abteilungen für den Leser nicht immer nachzuvollziehen. So finden sich Beiträge, die sich in der Hauptsache mit den Reaktionen auf das Reichsende befassen, in der ersten, den „Transformationen“ gewidmeten Sektion wieder, etwa die sehr lesenswerte Studie von Torsten Riotte („Großbritannien und das Ende des Alten Reiches 1806“, S. 33-54) oder jene von Michael Bregnsbo („Die Einverleibung Holsteins im Jahre 1806 und die dänische Reaktion auf die Auflösung des Alten Reiches“, S. 116-125). Andererseits beherbergt die zweite, eigentlich dem Reichsende vorbehaltene Sektion Aufsätze, in denen 1806 allenfalls eine untergeordnete Rolle spielt, etwa den Beitrag Robert Riemers („Krisenmeldungen. Die schwedische Niederlage in Pommern in der Berichterstattung schwedischer Offizieller und norddeutscher Zeitungen“, S. 249-272) oder jenen Holger Bönings („Von der 'unparteyischen' Berichterstattung zum Meinungsjournalismus – Der pressegeschichtliche Umbruch nach dem Ende des Alten Reiches“, S. 221-237), der die Befreiungskriege zwar als pressegeschichtliche Zäsur beschreibt, aber mitnichten die Wahrnehmung der Reichsauflösung behandelt. Überhaupt behandeln weit weniger Aufsätze das Reichsende und dessen Aufnahme durch die Zeitgenossen, als der Titel und die Einleitung des Bandes vermuten lassen würden. Dies gilt vor allem für Robert Riemers zweite in diesem Band vertretene Studie „Der Anfang der Befreiung? Ferdinand von Schill in Mecklenburg und Pommern“ (S. 306-327) und Jörg Driesners Studie „Vom Küstenschmuggel zur staatlichen Piraterie“ (S. 293-305), abgeschwächt aber auch für Thomas Stamm-Kuhlmanns Untersuchung zu „Hardenberg, Preußen und das Alte Reich“ (S. 71-85) und für jene Nils Jörns „Die Herrschaft Wismar nach der Schwedenzeit und ihre Einbindung in die mecklenburgischen Gerichtsstrukturen ab 1803“ (S. 101-115). Nicht, dass diese Arbeiten nicht lesenswert wären, es gelingt nur nicht immer, die einzelnen Texte so miteinander zu vernetzen, dass ein Gesamtbild aus ihnen erstehen würde.

Für den Teilbereich der zeitgenössischen Reaktionen auf die Ereignisse des Jahres 1806 ergibt sich hingegen ein in allen Belangen aufschlussreicher Einblick. Die betreffenden Aufsätze gruppieren sich nicht nur in Bezug auf ihre Anordnung innerhalb des Bandes, sondern auch inhaltlich um den ganz besonders hervorzuhebenden Beitrag Wolfgang Burgdorfs („Das Vahlkampfsche Schweigen – Oder wie die Deutschen 1806 das Entgleisen ihrer Geschichte kommentierten“, S. 172-205). Die Reaktionen der Reichsbevölkerung auf die Auflösung des Reiches, das heißt den Austritt der Rheinbundfürsten aus dem Reich am 1. August 1806 und die Niederlegung der Kaiserkrone am 6. August, beschreibt Burgdorf mit „Trauer, Scham und Wut“ (S. 172), „Demütigung, Unglauben“ (S. 181), „Unruhe und Schrecken“ und dem allenthalben verspürten Gefühl der „Schande und Vergewaltigung“ (S. 182). Sie wurde mit dem Untergang Trojas verglichen (S. 185) und ging mit der „Angst vor dem Verlust der nationalen Identität“ einher (S. 193). Häme über die Reichsauflösung sei demzufolge, so Burgdorf weiter, selten gewesen (S. 194). Den Topos des „sang- und klanglosen Untergangs des Reiches“ entlarvt er als Erfindung der kleindeutsch-borussischen Geschichtsschreibung (S. 187, 194, 197). Befördert worden sei seine Entstehung von einer durch napoleonische Postspionage bedingten Zurückhaltung der zeitgenössischen Briefeschreiber (S. 187, 191, 195, 197). Erst diese Bedecktheit habe der Nachwelt den Eindruck vermittelt, niemand hätte dem Reich nachgetrauert (S. 194).

Anders verhielt es sich im Ausland. Zwar interessierten sich jene Herrscherhäuser, die auch im Reich Besitzungen hatten, wie etwa England (S. 36, 38, 45), oder auf den Erwerb solcher hinarbeiteten, wie Russland (S. 56-57), durchaus für die Geschehnisse im Reich, die dortige Bevölkerung verfolgte das Ende des Reichsverbandes jedoch mehr oder minder teilnahmslos (S. 45, 66). Auch innerhalb der Reichsgrenzen, vor allem im Norden, scheint die Reaktion nicht so einmütig gewesen zu sein, wie Burgdorf dies in seinem Aufsatz darstellt. So war in den Hansestädten kein „echtes Bedauern“ zu spüren (S. 136), denn den Hanseaten „stand vor Augen, wie wenig Schutz von Kaiser und Reich die Reichs- und Hansestädte im Norden Deutschlands im Laufe der Jahrhunderte erhalten hatten“ (S. 138). Dies galt sowohl für die hanseatischen Führungsschichten wie für den „gemeinen Mann“ (S. 152-153). An einigen Stellen, wie etwa in Schwedisch-Pommern, wurde über die Niederlegung der Kaiserkrone sogar gejubelt (S. 210).

Gerade aus diesen Divergenzen ergibt sich letztlich ein gutes Bild des Forschungsstandes und des Potentials, welches der Fragestellung noch immer innewohnt. Hier und in der regionalen Ausrichtung liegt die Hauptleistung dieses alles in allem lesenswerten Bandes.

Anmerkungen:
1 Siehe dazu vor allem die drei zum 200. Jahrestag erschienenen Bände: Wolfgang Burgdorf, Ein Weltbild verliert seine Welt. Der Untergang des Alten Reichs und die Generation 1806, München 2006; Peter Claus Hartmann / Florian Schuller (Hrsg.), Das Heilige Römische Reich und sein Ende 1806. Zäsur in der deutschen und europäischen Geschichte, Regensburg 2006; Hans-Christof Kraus, Das Ende des alten Deutschland. Krise und Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1806, Berlin 2006.
2 Andreas Klinger / Hans-Werner Hahn / Georg Schmidt (Hrsg.), Das Jahr 1806 im europäischen Kontext. Balance, Hegemonie und politische Kulturen, Köln 2008.
3 Nils Jörn / Michael North (Hrsg.), Die Integration des südlichen Ostseeraumes in das Alte Reich, Köln 2000.
4 Jörg Driesner / Kathleen Jandausch / Robert Riemer: Tagungsbericht zu: Das Ende des Alten Reiches im Ostseeraum. 08.06.2006-09.06.2006, Alfried-Krupp-Wissenschaftskolleg Greifswald. In: H-Soz-u-Kult, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1310&count=6048&recno=2&sort=ort&order=up&geschichte=109p&geschichte=109> (08.08.2009).