V. Lampugnani u.a. (Hrsg.): Anthologie Städtebau

Titel
Anthologie zum Städtebau. Bände 1.1 und 1.2: Von der Stadt der Aufklärung zur Metropole des industriellen Zeitalters


Herausgeber
Lampugnani, Vittorio Magnano; Frey, Katia; Perotti, Eliana
Erschienen
Anzahl Seiten
1259 S.
Preis
€ 128,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Kramper, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Die vorliegenden Bücher bilden den ersten Teil einer auf drei Bände angelegten Anthologie, die eine "umfassende, kritische und kommentierte Sammlung von Quellentexten zur Theorie des Städtebaus in Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika vom 18. Jahrhundert bis heute" (S. 3) anstrebt. Zeitlich decken sie die Entwicklung "von der Stadt der Aufklärung zur Metropole des industriellen Zeitalters" (Untertitel), also das 18. und das 19. Jahrhundert ab. Inhaltlich wenden sie sich in erster Linie an Architekten und Stadtplaner und nur in zweiter Linie an stadt- und architekturgeschichtlich interessierte Historiker. Es ist deshalb kein Zufall, dass sich die Anthologie vor allem als "theoriehistorische Betrachtung" (S. 2) versteht und "nur solche Texte berücksichtigt, die programmatisch das Thema Stadt und Städtebau reflektieren und die über Hinweise, Anregungen und Ideen hinaus den Rang einer Theorie beanspruchen können" (S. 1).

Die tatsächliche Vorgehensweise ist aber deutlich breiter angelegt, als diese einführenden Bemerkungen es vermuten lassen. Lampugnani, Frey und Perotti präsentieren ihr Material in zehn thematisch gegliederten Kapiteln. Das inhaltliche Spektrum der Quellensammlung ist beeindruckend: Es reicht von idealen Stadtkonzepten bis hin zur Infrastrukturproblematik, von den "Embellissements" bis hin zur Kritik an der industrialisierten Stadt und von der Wohnungsfrage bis hin zu Utopien von der "Stadt der Zukunft". Den einzelnen Kapiteln sind jeweils kurze Einführungen vorangestellt. Diese sind von unterschiedlicher Qualität. Mitunter entsteht der Eindruck, dass die Autorinnen und Autoren sich nicht recht entscheiden konnten, ob sie einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand oder eine Zusammenfassung der zeitgenössischen Literatur anstreben sollten. Zumeist schlägt das Pendel in die letztgenannte Richtung aus, wodurch die Kontextualisierung der geschilderten Debatten gelegentlich zu wünschen übrig lässt. Eine Einführung in die Forschungslandschaft oder einen zuverlässigen Abriss der Geschichte des Städtebaus bieten diese Aufsätze nicht. Wer danach sucht, muss zu anderen Werken greifen. 1

Dieses Defizit wird aber durch den eigentlichen Quellenteil in jeder Hinsicht wettgemacht. Zu fast allen der genannten Themen ist es den Herausgebern gelungen, originelle, interessante und aussagekräftige Texte zu finden. Neben bekannten Werken wie John Nashs "Report for the Improvement of Mary-le-bone Park" (S. 976-989) oder Charles Fouriers "Traité de l'association domestique-agricole" (S. 590-601) sind dabei auch zahlreiche bis dato weniger verbreitete Schriften vertreten, die mit großem Gewinn zu lesen sind. Das gilt etwa – um nur eines von über 150 Beispielen zu nennen – für die im Kapitel "Architektur und Monument" abgedruckten Überlegungen von Hermann Maertens zu einer physiologisch und wahrnehmungstheoretisch untermauerten Proportionenlehre, in denen sich gleich mehrere wissenschaftsgeschichtliche, ästhetische und kulturelle Entwicklungstendenzen des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts kreuzen (S. 410-416). Zu begrüßen ist auch die umfangreiche Berücksichtigung literarischer Quellen, wenngleich hierbei der Eindruck entsteht, dass die Entscheidung der Herausgeber, bei der Auswahl der Texte dem Kriterium der Originalität den Vorzug gegenüber dem Kriterium der Relevanz zu geben, gelegentlich zu etwas eigenwilligen Schwerpunktsetzungen führt. So ist nicht unmittelbar einsichtig, warum eine ohne erkennbaren Einfluss gebliebene Robinsonade wie Johann Gottfried Schnabels "Wunderliche Fata einiger See-Fahrer" (S. 222-228) als wichtiger Beitrag zur städtebaulichen Theoriebildung behandelt wird, während gleichzeitig zentrale und bis weit in das 20. Jahrhundert hinein wirksame Schriften wie Ebenezer Howards "Tomorrow. A Peaceful Path to Social Reform" oder Camillo Sittes "Städtebau nach künstlerischen Grundsätzen" ausgespart werden.

Aber selbstverständlich fällt es einem Rezensenten immer leicht, einzelne Lücken zu monieren; keine Quellensammlung wird jemals allen Wünschen gerecht werden können. Insofern ist auch der Hinweis auf ein zweites Problem der Textauswahl nicht als grundsätzliche Kritik an dem vorliegenden Werk zu verstehen. Wenn er im Folgenden dennoch erwähnt wird, dann nur deshalb, weil es sich aus der Perspektive eines Historikers um ein typisches Defizit einer von Architekten und Stadtplanern betriebenen Geschichtsschreibung handelt. Denn trotz des Bemühens um eine breite Berücksichtigung unterschiedlicher Themen ist das im Wesentlichen planungs- und theoriegeschichtliche Interesse der Herausgeber auch jenen Kapiteln deutlich anzumerken, die eher sozial- und kulturgeschichtliche Aspekte behandeln. Aus der Sicht der modernen Stadtgeschichte wirkt das häufig etwas zu "kopflastig"; bezüglich der Infrastruktur- und Verkehrssysteme ließe sich von James Hobrecht, den die Herausgeber außen vor lassen, sicherlich Relevanteres erfahren als von Jules Vernes, der gleich zwei Mal zu Wort kommt (S. 1147-1154 und S. 1203-1208). Der vorliegenden Anthologie zufolge scheinen zudem wesentliche Aspekte der Geschichte des Städtebaus im 18. und 19. Jahrhundert in der Geschichte von Paris und London aufzugehen. Nimmt man diese beiden Aspekte – die Kopflastigkeit und die Konzentration auf die großen Metropolen – zusammen, so kommt man zu dem Schluss, dass der Auswahl der Texte eine letztlich recht elitäre Konzeption von Städtebau- und Stadtgeschichte zugrunde liegt. Es wäre wünschenswert, diese um alltags-, mentalitäts- und "provinzgeschichtliche" Gegengewichte zu ergänzen. Davon könnte die Forschung vermutlich stärker profitierten als von dem etwas naiven, zumindest historiographisch nicht sehr ergiebigen Anspruch, Quellen zu präsentieren, die bestimmte Ideen und Konzepte "zum ersten Mal" (S. 2) vertreten.

Diese kritischen Bemerkungen sollen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die vorliegende Anthologie einen sehr breiten Querschnitt durch fast alle Themen der Geschichte des Städtebaus im 18. und 19. Jahrhundert bietet. In diesem Zusammenhang ist auch der durchweg hohe Gebrauchswert der beiden Bände lobend zu erwähnen. Insbesondere die knappen Einführungen, die jedem einzelnen Quellentext zusätzlich zu den bereits erwähnten Kapitel-Einleitungen vorangestellt sind, sind in der Regel sehr informativ und gründlich recherchiert. Auch die angehängte Chronologie der Texte und ein Autorenregister helfen bei der Erschließung des Materials. Dass die Herausgeber auf eine Bebilderung komplett verzichtet haben, mag man angesichts des Themas bedauern; mit Blick auf den Arbeitsaufwand ist dies aber nachvollziehbar. Über die Entscheidung, alle Dokumente in der Originalsprache zu präsentieren, lässt sich allerdings trefflich streiten. Der Rezensent dürfte nicht der einzige Leser sein, der mit italienischen und portugiesischen Quellen gewisse Schwierigkeiten hat.

Dennoch: Lampugnani, Frey und Perotti haben mit dieser Anthologie ein äußerst umfassendes und sehr verdienstvolles Kompendium vorgelegt, das sich auch unter einschlägig interessierten Historikern schnell als unverzichtbares Handwerkszeug etablieren dürfte.

Anmerkung:
1 Einen knappen Abriss bietet Hildegard Schröteler-von Brandt, Stadtbau- und Stadtplanungsgeschichte. Eine Einführung, Stuttgart 2008. Ein Überblick über den hier betrachteten Zeitraum, der sich auf der Höhe der stadtgeschichtlichen Forschung bewegt, findet sich bei Andrew Lees / Lynn Hollen Lees, Cities and the Making of Modern Europe, 1750-1914, Cambridge 2007.