C. Fritsche: Schaufenster des "Wirtschaftswunders"

Cover
Titel
Schaufenster des "Wirtschaftswunders" und Brückenschlag nach Osten. Westdeutsche Industriemessen und Messebeteiligungen im Kalten Krieg (1946-1973)


Autor(en)
Fritsche, Christiane
Reihe
Forum Deutsche Geschichte 20
Erschienen
München 2008: Martin Meidenbauer
Anzahl Seiten
627 S.
Preis
€ 59,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sven Schultze, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

In den letzten Jahren wurden Messen und Ausstellungen verstärkt in den Blick der Zeithistorischen Forschung genommen.1 Auch Christiane Fritsche analysiert in ihrer Studie westdeutsche Industrieausstellungen und Messeauftritte aus zeitgeschichtlicher und politikhistorischer Sicht (S. 10). Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges und der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz, schreibt sie den Messen und Ausstellungen eine herausragende Rolle zu. Ihr Buch gliedert Fritsche in vier Untersuchungsabschnitte: die Deutsche Industrieausstellung Berlin (S. 47-151), die Hannover Messe (S. 153-300), Westdeutsche Firmen auf der Leipziger Messe (S. 301-391) und die offizielle Beteiligung der Bundesrepublik an Auslandsmessen (S. 393-542).

Fritsche untersucht die westdeutschen Messen und Industrieausstellungen „als Medien im Kulturkrieg des Ost-West-Konflikts“ (S. 30). Sie versteht diese Veranstaltungen dabei als zeitgenössische Inszenierungen. Allerdings können viele Facetten dieser „Inszenierungen“ heute nicht mehr nachvollzogen werden, da die entsprechenden Quellen fehlen, über die sich etwas über die Gefühle und Stimmungslagen der Teilnehmer aussagen ließe. Ziel der Dissertation Fritsches ist daher zu zeigen, „wie sich westdeutsche Messen und vor allem die bundesdeutsche Beteiligung an den Veranstaltungen hinter dem Eisernen Vorhang in diese Kontrast-, Konkurrenz- und Kooperationsbeziehungen zwischen Ost und West einfügten“ (S. 36).

Mit der Betrachtung der Deutschen Industrieausstellung in West-Berlin eröffnet Fritsche die Analyse. Schon während der Installation der Ausstellung durch Ludwig Erhard 1950 wurde deutlich, dass ihr Charakter weniger wirtschaftlicher, als vielmehr politischer Natur war. Kein Wunder also, dass es zunächst einiger Überzeugungsarbeit bedurfte, um die westdeutsche Industrie nach Berlin zu locken: Vergünstigte Bedingungen, Werbung, Schirmherrschaften und Ehrenpräsidien durch Politprominenz sollten Abhilfe schaffen. Schließlich wurde erreicht, dass in West-Berlin – der Drehscheibe zwischen West und Ost – in den 1950er-Jahren die Industrieausstellung zu einem politischen Glaubensbekenntnis geriet: Wer sie – und damit letztlich die „Frontstadt West-Berlin“ – unterstützte, half dadurch mit, den Wiederaufbau der Bundesrepublik insgesamt zu fördern. Gleichwohl für viele Unternehmer nicht immer die besten Gewinnmöglichkeiten und Vertragsabschlüsse winkten, wurde sie doch zur größten (West-)Berliner Ausstellung (mit Messecharakter). Letztlich dürfte sie, aber auch weitere Ausstellungen, sowohl zum „Selbstbehauptungswillen“ (S. 106) der West-Berliner Einwohner beigetragen, als auch „identitätsstiftend und selbstvergewissernd“ gewirkt haben (S. 118). Mit dem Bau der Berliner Mauer 1961 entstand für die Industrieausstellung eine schwierige Situation, da der deutsch-deutsche Bezug sich kaum mehr aufrechterhalten ließ. Neue Wege mussten gefunden werden: Die Konzentrierung auf einen mehr internationalen Ausstellungscharakter und später speziell auf die Entwicklungsländer zögerten das Ende allerdings nur hinaus: „Ende der 1970er Jahre war die Zeit der Berliner Industrieausstellung als Produkt des Kalten Krieges endgültig vorbei“ (S. 129).

Übersehen wird von Fritsche großenteils jedoch, dass Systemkonkurrenz sich bipolar konstituierte: Die Autorin stellt die Aktionen der bundesdeutschen Seite in Bezug auf die ostdeutschen dar, versäumt aber weitgehend Quellen ostdeutscher Provenienz zur weiteren Wirkungsforschung zur Analyse hinzuzuziehen. Ihre Vermutung, dass sich die Sicht der ostdeutschen Besucher auf die West-Berliner Industrieausstellung „nur über westdeutsche Zeitungsartikel rekonstruieren“ (S. 116) lasse oder, dass es fraglich sei, „ob ostdeutsche Stellen sich […] bemühten den Besuch der Ausstellung zu unterbinden“ (S. 117), ließe sich zum Beispiel mit Hilfe von BStU-Unterlagen, Akten des Deutschen Rundfunkarchiv oder auch des Landesarchiv Berlin sicherlich klären. Ohne entsprechende Akteneinsicht bleibt der Besucher – sowohl der west- wie ostdeutsche – jedoch eine unklare Größe innerhalb der Untersuchung. Selbst die Überlieferung der jährlichen Besucherzahlen wäre für das Kapitel Industrieausstellung interessant gewesen.

Die nächste von Fritsche analysierte Messe ist die seit 1947 stattfindende Hannover Messe. Diese Veranstaltung steht im Kontrast zur Berliner Industrieausstellung – zumal die Hannover Messe eine Messe per definitionem darstellt und im Gegensatz zur Industrieausstellung, die oft ein Zuschussgeschäft darstellte, „mehr als nur eine Fußnote zum späteren Wirtschaftswunder“ war (S. 155). Die Messe hatte vielmehr eine „systemstabilisierende Wirkung“ für die bundesdeutsche Gesellschaft (S. 161-165). Zudem wird die Hannover Messe in Konkurrenz zur Leipziger Messe gesehen. Ihre Vertreter betrachtet Fritsche als „Ersatzdiplomaten“, wenn sie bei ihren diplomatischen Reisen in alle Welt für die Messe warben – wie etwa Staatssekretär Karl Carstens 1965 bei einer Ausstellung in Moskau (S. 198).

Im Hauptkapitel „Westdeutsche Firmen auf der Leipziger Messe“ (S. 301-542) belegt Fritsche überzeugend die These, dass die Leipziger Messe „ein Medium der DDR-Propaganda [war], mit dessen Hilfe sich Ostdeutschland als friedliebend und antifaschistisch präsentierte, gleichzeitig aber der Westen und insbesondere die Bundesrepublik scharf angegriffen wurden“ (S. 309). Fritsche arbeitet die Propaganda für die „rote“ Messe, die Beteiligung westdeutscher Firmen – inklusive ihrer Motivationslage und der Haltung der Wirtschaftsverbände zur Leipziger Messe – sowie die sich im Laufe der Zeit entwickelnde Haltung der Bundesregierung zur Messe deutlich heraus. Bei allem Protest der Bundesregierung gegenüber Firmen, die trotz „Mauerschock“ nach 1961 in Leipzig teilnahmen, wird hier deutlich, dass Geschäfte wichtiger als Politik waren. Zudem stellte sich die Leipziger Messe als wichtiges deutsch-deutsches und auch als Ost-West-Kontaktforum heraus. Fritsches Analyse verdeutlicht hier sehr gut den Stellenwert der Leipziger Messe für die bundesdeutsche Wirtschafts-, Innen- und Außenpolitik.

Das in analytischer und empirischer Hinsicht besonders gut gelungene Kapitel widmet sich den offiziellen Beteiligungen der Bundesrepublik an Auslandsmessen. Dabei zeigt Fritsch mit Blick auf die Akteure, wie in den 1950er-Jahren die Messebeteiligungen der Bundesrepublik schnell in eine direkte Konkurrenzsituation zur Beteiligung der DDR gerieten.

Ein Kritikpunkt bezieht sich auf die Anwendung des zu Beginn vorgestellten soziologischen Konzepts von Erving Goffmanns, das kaum in die Analyse integriert wird.2 Weder werden explizit Aussteller oder Politiker als agierende Selbstdarsteller im Kalten Krieg analysiert, noch werden Ausstellungen und Messen in Goffmanns „Dramaturgisches Prinzip“ eingefügt. Auch bleibt Fritsche hin und wieder im Idiom der Quellen hängen. Beispielsweise ist auf S. 367 von „Kolchosen“ in der DDR die Rede und im Abkürzungsverzeichnis (S. 594) wird das Feuilleton-Wort „Stasi“ als Abkürzung für das MfS aufgeführt.
Davon abgesehen bereichert Christiane Fritsches Studie die Zeit-, Politik- und Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik im Kalten Krieg und verortet die Leistungen westdeutscher Industriemessen und Messebeteiligungen hilfreich.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu Thomas Großbölting, „Im Reich der Arbeit“. Die Repräsentation gesellschaftlicher Ordnung in den deutschen Industrie- und Gewerbeausstellungen 1790-1914, München 2008; Karsten Rudolph / Jana Wüstenhagen, Große Politik, kleine Begegnungen. Die Leipziger Messe im Ost-West-Konflikt, Berlin 2006; Jana Wüstenhagen, Staatsveranstaltung und Familienfest. Die DDR und die Leipziger Messe, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 5 (2000), S. 423-439; Ulrike Ziegler, Kulturpolitik im geteilten Deutschland. Kunstausstellungen und Kunstvermittlung von 1945 bis zum Anfang der 60er-Jahre, Frankfurt am Main 2006.
2 Erving Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München 2003. Goffmans „Dramaturgisches Prinzip“ ist auf Individuen in ihrer alltäglichen sozialen Lebenssituation zugeschnitten, weshalb es fraglich ist, ob Messen und Ausstellungen überhaupt innerhalb eines solchen Schemas zutreffend – immerhin handelt es sich bei Fritsches Untersuchung um eine in der Hauptsache politikhistorische Analyse – charakterisiert und historisch verortet werden können.

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