C. Verhoeven: Imperial Russia, Modernity, and the Birth of Terrorism

Cover
Titel
The Odd Man Karakozov. Imperial Russia, Modernity, and the Birth of Terrorism


Autor(en)
Verhoeven, Claudia
Erschienen
Anzahl Seiten
248 S.
Preis
$ 39.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Waldmann, Universität Augsburg

Die Thesen des Buches sind weitreichend und allgemein, die Beweisführung äußerst detailreich und auf einen Einzelfall bezogen: Die Verfasserin behauptet, dass mit dem misslungenen Anschlag Dmitri Wladimirowitsch Karakosows auf den Zaren Alexander II. am 4. April 1866 der Terrorismus „erfunden“ und die terroristische Ära eingeleitet worden sei – und nicht erst durch die rund 15 Jahre später einsetzende terroristische Kampagne der Gruppe „Narodnaja Wolja“ (Volkswille), welcher auch der Zar zum Opfer fiel. Und sie knüpft daran die weitergehende These, dass Terrorismus ein genuines Produkt der Moderne sei, für das es in traditionellen Gesellschaften keine Parallele gebe. Er hänge aufs engste mit der Geburt eines neuen politischen Subjektes zusammen, das politisch souverän sei und beanspruche, direkt, und gegebenenfalls radikal in das politische Geschehen einzugreifen.

Diese Thesen werden in sieben Kapiteln entwickelt und ausgeführt. Die ersten Kapitel kreisen den Gegenstand – das Attentat und den Täter – gewissermaßen von außen ein. So geht es im ersten Kapitel nach einer kurzen Schilderung des Tatvorgangs zunächst um die Rekonstruktion des Falles in offiziellen Berichten und Justizakten, wobei das kurz zuvor reformierte Justizsystem kritisch unter die Lupe genommen wird und um die von Anfang an umstrittene Frage, ob Karakosow Einzeltäter oder Ausführungsorgan einer Verschwörergruppe war. Weiterhin betrachtet Verhoeven wie die Öffentlichkeit auf das Attentat und die Berichterstattung über den Prozess reagierte und welche gesetzlichen Verschärfungen der Anschlag zur Folge hatte. In einem weiteren Kapitel wird der Frage nachgegangen, inwieweit sich Karakosow in seinem Vorgehen von der Hauptfigur des 1863 erschienenen Romans von Tschernyschewski „Was tun?“ inspirieren ließ und als Spiegelbild des Romanhelden Rachmetow betrachtet werden kann. Auch dem angeblichen Retter des Zaren, einem Bauern namens Komissarow, ist ein eigenes Kapitel gewidmet: Er soll Karakosow in den Arm gefallen sein, als dieser auf den Zaren anlegte, und wurde wegen dieser patriotischen Tat über Nacht zu einer in ganz Russland gefeierten, mit zahllosen Ehrungen überhäuften Berühmtheit. Der erste Teil schließt mit einer vergleichenden Analyse Karakosows und der Schlüsselfigur des in jenem Jahr entstandenen Romans von Dostojewski „Schuld und Sühne“, Raskolnikow. Die Verfasserin weist schlüssig nach, dass sich Dostojewski beim Entwurf und der Ausgestaltung seines Romanhelden maßgeblich durch die Berichte über den Prozessverlauf beeinflussen ließ.

Im zweiten Teil erfährt der Leser mehr über Karakosow selbst, seine „eigene Welt“, wie die Verfasserin schreibt (S. 103). Zunächst geht sie auf seine Aufmachung, den Überzieher ein, den er bei dem Anschlag trug. In dieser Allerweltskleidung, die ihn zu einem ununterscheidbaren Bestandteil der Menge machte, in der er sich bewegte, erkennt sie durchaus einen neuen, für Terroristen bezeichnenden Zug, durch den diese sich von dem demonstrativ nonkonformistischen Kleidungsstil der Nihilisten abhoben. Ein weiteres Kapitel beschäftigt sich mit den suizidalen Neigungen sowie den diversen Anfälligkeiten und Krankheiten, unter denen der Attentäter litt und die sich im letzten Jahr vor der Verübung des Anschlags deutlich steigerten. Dabei bringt Verhoeven die auch bei Dostojewski eine Rolle spielende Verknüpfung von „Ideen, Krankheit und Verbrechen“ zur Sprache und weist auf die Sündenbockfunktion Karakosows hin, der alle im Russland des 19. Jahrhunderts üblichen Krankheiten auf sich vereinte (S. 147) und diesen pathologischen Zustand nutzen wollte, um in einem revolutionären Akt selbst zu verschwinden und zugleich die Gesellschaft zu heilen. Schließlich wird noch das Verhältnis Karakosows zur Religion angesprochen; ungeachtet seiner engen Verbindung zu nihilistischen Kreisen vollzog er offenbar im Gefängnis unter dem Einfluss eines charismatischen Geistlichen eine Wende hin zum Glauben und ging versöhnt mit der Kirche in den Tod (am Strang).

Es ist nicht ganz leicht, die Methode und Vorgehensweise der Verfasserin zu beschreiben und angemessen zu würdigen. Von einer empirischen Beweisführung, wie sie in den Sozialwissenschaften allgemeiner Standard ist, kann jedenfalls nicht die Rede sein. Über weite Strecken erinnert die Studie vielmehr an eine kriminalistische Untersuchung, in der an kleine Details weitreichende Deutungen geknüpft und die bescheidenen empirischen Befunde durch kühne Spekulationen überwölbt werden. So vermisst man beispielsweise einen Kern weithin gesicherter Fakten, was den Attentäter und die Umstände der Tat betreffen. Der Leser muss sich die verschiedenen Stücke der Biographie Karakosows und des Geschehensverlaufs mühsam aus den verschiedenen Kapiteln zusammenklauben, wobei stets offen bleibt, wo die gesicherten Tatsachen aufhören, die Interpretation beginnt. In der Präsentation der letzteren erweist sich Verhoeven als Meisterin. Ihre Arbeit ist eine Aneinanderreihung von Brechungen, Spiegelungen und Deutungen des Schlüsselereignisses und seines Protagonisten durch diverse Medien, Beobachter, Kommentatoren. Offenbar ist das Hauptanliegen der Studie, bestimmte Stimmungen, kollektive und individuelle Bewusstseinslagen und wechselseitige Beeinflussungsprozesse einzufangen, wobei der äußere Geschehensablauf letztlich zweitrangig bleibt. Ihr Verfahren macht hierzu starke Anleihen bei der Schule des symbolischen Interaktionismus, der Sprach- und Literaturwissenschaft. Es dürfte auch in der Sozial- und Kulturanthropologie auf Interesse stoßen und entspricht einem neueren Trend in der Geschichtswissenschaft, aus soziologischer Sicht ist dies jedoch problematisch.

Doch über Methoden lässt sich streiten, entscheidend ist das Gesamtergebnis. Sind die Hauptthesen einigermaßen schlüssig und plausibel begründet und können sie somit als „bewiesen“ gelten? Insoweit bleiben nach der Lektüre der Arbeit, ungeachtet der wiederholten emphatischen Betonung der Grundannahmen im Text, beträchtliche Zweifel.

Erstens überschätzt die Verfasserin die von terroristischen Anschlägen ausgehende unmittelbare transformatorische Wirkung. Sie führen nur in den seltensten Fällen direkt zu der angestrebten politischen Systemveränderung, sondern, wenn überhaupt, allenfalls auf indirektem Wege: indem die reaktionären Kräfte (wie übrigens auch im Falle Karakosows) zu einer Überreaktion gereizt werden, die ihrerseits erst die allgemeine aufrührerische Stimmung erzeugt, welche die Terroristen aus eigenen Kräften herbeizubomben außerstande sind. Die spanische ETA hat diesen Mechanismus die „Aktions-Repressions-Spirale“ genannt. Im Rahmen des sozialrevolutionären Terrorismus (man denke etwa an die RAF, die Roten Brigaden in Italien und andere Gruppen der 1960er-, 1970er- und frühen 1980er-Jahre) überwiegen bei weitem die Fälle, in denen die Terroristen durch ihre Anschläge zur Gratisstabilisierung des Systems beitrugen.

Zweitens muss man sich bei aller Anerkennung der Leistung, die darin besteht, einen Fall in all seinen Facetten und Hintergründen ausgeleuchtet zu haben, fragen, inwieweit der methodische Ansatz der Verfasserin tatsächlich trägt. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie dem vom Terrorismus ausgehenden Faszinosum erlegen ist und dessen Logik der eigenen wissenschaftlichen Untersuchung zugrunde gelegt hat: So wie ein einzelner Anschlag, als „Propaganda der Tat“ verstanden, unübersehbare Breitenwirkung haben kann, so versucht Verhoeven die Entstehung des Terrorismus an einem einzigen Anschlag und dessen Urheber festzumachen. Diese Fixierung auf einen Einzelfall ist angesichts der weitreichenden Schlussfolgerungen nicht nur methodisch problematisch, sondern verkennt zudem, dass es zunächst der jeder höheren (religiösen) Weihe entkleidete Staat der Französischen Revolution war, der Terrormethoden in die Politik eingeführt hat. Von ihm haben unzufriedene Bürger diese Methode übernommen, den Herrschenden durch spektakuläre Anschläge Furcht und Schrecken einzuflößen.

Schließlich ist auch zu bezweifeln, ob es eine glückliche konzeptuelle Entscheidung war, Terrorismus unauflösbar an die säkularisierte Moderne zu binden. Abgesehen davon, dass der Modernitätsbegriff in der Arbeit schillernd bleibt, liefert die Untersuchung selbst etliche Beispiele dafür, dass sich moderne Strömungen im Russland des 19. Jahrhunderts vorzugsweise im traditionellen Gewande präsentierten. Plausibler wäre es gewesen, Terrorismus als mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwartende Begleiterscheinung von Modernisierungsprozessen zu bestimmen. Das hätte einerseits erlaubt, ihn nicht als einseitig progressiv hinzustellen, sondern auch die Varianten des ethnisch-nationalistischen oder des religiösen Terrorismus zu erfassen, die den Blick nicht nach vorne, sondern rückwärts in die Vergangenheit gerichtet haben. Und es hätte sich auf diese Weise die Sondersituation Russlands als Semiperipherie im Weltmaßstab (Wallerstein) besser herausarbeiten lassen, wo Modernisierungsprozesse einschneidender wirken, stärkere Friktionen und tiefere soziale Verwerfungen als in den „Zentren“ der Modernisierung erzeugen, die zu entsprechend radikalen Reaktionen einladen.

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