K. Manger u.a. (Hrsg.): Rituale der Freundschaft

Titel
Rituale der Freundschaft.


Herausgeber
Manger, Klaus; Pott, Ute
Reihe
Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800. Ästhetische Forschungen 7
Erschienen
Anzahl Seiten
291 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benedikt Jeßing, Germanistisches Institut, Ruhr-Universität Bochum

Dass Freundschaftsbeziehungen im 18. Jahrhundert einerseits eine neue Qualität gewinnen, andererseits aber auch neuartigen Bewertungen in einer dynamisierten bürgerlichen Gesellschaft unterliegen, ist an sich nichts Neues. Dieses Faktum aber einerseits unter den Maßgaben einer modernen Sozialgeschichte differenziert zu beschreiben, andererseits mit einer Vielzahl von Beispielen vor allem aus dem Umfeld Johann Ludwig Gleims und dem weiteren Umkreis der sogenannten Weimarer Klassik zu illustrieren, ist das sehenswerte Ergebnis des vorliegenden Kolloquiumsbandes („Rituale der Freundschaft“, 23-25.10.2003, SFB 482 Jena).

Die sozialgeschichtliche Basis wird, sofort mediengeschichtlich in die explodierende bürgerliche Briefkultur des 18. Jahrhunderts übertragen, erst im vierten der Beiträge des Bandes von Michael Maurer referiert: Waren der Hinweis auf Jacob Burkhardt und die Neubewertung von moderner Ich-Identität in der Renaissance und ein andeutender Hinweis auf Momente moderner Exklusionsindividualität am Beginn seines Aufsatzes noch scheinbar ungenau, so referiert er schließlich doch sehr präzise die Vorgänge der Dekorporierung bürgerlicher Gesellschaft im 18. Jahrhundert im Kontext ihrer sozialen und funktionalen Ausdifferenzierung (dass Maurer hier Wolfdietrich Rasch und Friedrich H. Tenbruck folgt und nicht Luhmann, macht seinen Ansatz nicht unsympathischer!). Welche Funktionen briefliche Kommunikation, insbesondere Brieffreundschaften in diesem Kontext gewinnen, kann Maurer präzise bestimmen: Die Gewinnung von Individualität im brieflichen Medium über Strategien der Selbstdarstellung, Selbststilisierung und Selbstinszenierung, die Modellierung von (ästhetischer) Originalität, die Codierung einer neuartigen geselligen Kommunikation jenseits der ständischen Korporationen der alteuropäischen Gesellschaft als Intimität und der im Freundschaftszirkel, seiner Korrespondenz und deren Fetischisierung sich bestätigende Kult um dieses neue gesellige Gefühl. Systematisch benennt Maurer die Implikationen gerade brieflicher Kommunikation: ihre Inszenierung als Gespräch unter Abwesenden, den Nutzen der Zeitdifferenz als distanzschaffend, die Materialität des Briefes als Zeichenfläche und Schmuckträger, letztlich die Tendenz der Brieffreundschaft zur radikalisierten, aber nicht-sexuellen Intimität (auch unter Partnern gleichen Geschlechts).

Wo Maurer mit seiner sozialgeschichtlichen Begründung der gerade durch Freundschaft generierten, neuartigen brieflichen Verständigung die breiteste Basis für den vorliegenden Band bildet, konzentrieren sich Klaus Manger und, noch spezieller, Dieter Martin auf andersartige „Rituale“ der Freundschaft. Martin widmet sich dem Freundschaftskuss – also einer besonderen, eben nicht irgendeiner Distanzierung (wie die Briefe) unterliegenden intimen Kommunikation. Er bestimmt ihn, aus einer Vielzahl von Beispielen schöpfend, als „Mundkuß unter Gleichgeschlechtlichen“, als „intime[n] und zugleich unerotische[n] Kuß“ (S. 54), buchstabiert seine literarischen Erscheinungsformen aus Dokumenten der empfindsamen Freundschaftszirkel bei Johann Heinrich Voß, Gleim, Ewald von Kleist und anderen nach und identifiziert die Inanspruchnahme symbolischer Handlungen aus dem Arsenal christlich-pietistischer Provenienz. Klaus Manger geht darüber hinaus, indem er ein ganzes den Freundschaftsbeziehungen zuzuordnendes Handlungsfeld als „Sonderformen sozialer Kommunikation“ ordnet und beschreibt: Die sakralisierende Monumentalisierung einer Fülle von Freundschaftsbeziehungen in Gleims Freundschaftstempel, die Profanbeziehungen unter Verwendung religiösen Brauchtums implizit heiligt, das Stammbuch, das gleichsam die private Materialisierung des eigenen Freundes-Netzwerks bedeutet, der Freundschaftszirkel, die Freundschaftsfeier und die, insbesondere über Klopstocks und Wielands Züricherlebnisse und deren literarischen Niederschlag begründbare, neuartige Auffassung von Freundschaft als „gemeinschaftliche[s] Gefühl […] sympathisierender Geister“ (S. 42).

Diese drei Beiträge bilden das kultur- wie sozialgeschichtliche Fundament des Bandes. Theodore Ziolkowskis an den Schluss gestellter Beitrag über „Chronotopologie als Methode“ erscheint gewissermaßen nur als nachgeliefertes, aber nicht in die Überlegungen der Beiträge einfließendes methodologisches Angebot (das auch eher, wenn auch unverbindlich, für den gesamten SFB 482 „Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800“ gelten könnte als nur für diesen Freundschaftsband). In den anderen Beiträgen werden reale Freundschaftsbeziehungen um Gleim, Wieland und Schiller/Goethe differenziert betrachtet: Rainer Falk untersucht den Briefstil zwischen Gleim, Nicolai und Christian Adolf Klotz, Anne Kitsch die Freundschaftsgedichte der Anna Louisa Karsch an Gleim, Andrea Heinz die Versuche Wielands, vor allem im Kontext einer Radikalisierung der empfindsamen Rede im sogenannten Sturm und Drang, etwa gegenüber Lenz und Merck auf Freundschaft getrimmte „Zweckbündnisse gleichgesinnter Dichter“ zu stiften (S. 174). Während Jutta Heinz sehr genau das Weimarer Bündnis zwischen Goethe und Schiller zwischen 1794 und 1805 im Blick auf den dominierenden Bildbereich im gesamten Briefwechsel, eben die Freundschaft, analysiert, ist die Auslotung der Elegie „Die Metamorphose der Pflanzen“ im Lichte der Freundschaftssemantik des 18. Jahrhunderts, die Olaf Breidbach anschließt, eher doch ein Versuch über Goethes Metamorphosebegriff und letztlich eine Auskoppelung aus Breidbachs Metamorphose-Projekt, dessen Ergebnisse 2006 bei Fink erschienen sind. Jean Pauls „Bruder“- oder Doppelgänger-Figuren werden von Peter Horst Neumann als spezifische Figurationen der Freundschaft am Ende des Jahrhunderts interpretiert, Karl S. Guthkes intensiver, aus Anlass des Todesgedenkens an Gleim (200. Todestag) sich speisender Beitrag thematisiert die Neubesetzung des Todes in Gleims Anakreontik: Positiv-arkadisch heiter wird der Tod als Freund imaginiert gegen jede papstkirchliche oder protestantisch-orthodoxe negative Perspektive. In der Anlage des Bandes überrascht ein wenig, dass Guthkes Beitrag den Auftakt macht. Aus systematischen Gründen wären die Aufsätze von Maurer, Manger und Martin hier zu erwarten gewesen. Da aber Gleim tatsächlich das Zentrum der Freundschaftskultur des 18. Jahrhunderts gewesen ist, ist dieser Gedenkbeitrag an diesem Ort plausibel, dass dann, neben den schon erwähnten Beiträgen von Falk und Kitsch auch Frank Baudach, Bernd Auerochs, Ute Pott und Doris Schumacher ihre Beiträge speziellen Freundschaftsbeziehungen Gleims (Johann Heinrich Voß und Herder) oder der Aufarbeitung der Materialien in Gleims „Freundschaftstempel“ (Archiv, Porträtsammlung) widmen, rundet diesen plausiblen Schwerpunkt ebenso wie den Band trefflich ab.