K. v. Lingen (Hrsg.): Kriegserfahrung und nationale Identität in Europa

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Titel
Kriegserfahrung und nationale Identität in Europa nach 1945. Erinnerung, Säuberungsprozesse und nationales Gedächtnis


Herausgeber
Lingen, Kerstin von
Reihe
Krieg in der Geschichte 49
Erschienen
Paderborn 2009: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
479 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Michalka, Universität Karlsruhe

Wer im „Heiligen Land“ Massada erklommen und erlebt hat, begreift, warum dieser Ort zum nationalen Memorial Israels geworden ist. Hier, wo im Jahre 73 n.Chr. nahezu 1.000 gegen Rom rebellierende Juden in den Tod gingen, um nicht in die Hände der Belagerer zu fallen, vereidigt heute Israel seine Rekruten. Dieser kriegerische Ort wurde zum Symbol des Widerstands und des nationalen Behauptungswillens des Staates Israel. „Massada wird nie wieder fallen“ – so lautet die Beschwörungsformel, die zum Gründungsmythos des belagerten und bedrohten Staates wurde.

Welche Rolle spiel(t)en Kriegsende und Niederlage in den Erinnerungskulturen europäischer Nationen nach 1945? So fragte eine international vergleichend angelegte Tagung über „Kriegserfahrung und nationale Identität nach 1945“1, deren Ergebnisse nun gedruckt vorliegen. Unmittelbar nach Beendigung des Krieges gab es keine einheitliche kollektive Erinnerung – zu vielfältig und unterschiedlich waren die Erfahrungen der Opfer, Mitläufer und Täter, der Sieger und Besiegten. Bald aber ging es um die „richtige“ Erinnerung. Das breit gefächerte individuelle Erlebnis- und Meinungsbild wurde in ein erwünschtes oder auch verordnetes kollektives Gedächtnis überführt und zum nationalen Gründungsmythos erklärt. Voraussetzung für die Neudefinition nationaler Identität war früher oder später allerdings die meist quälende Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle im Krieg bzw. in der Diktatur, mit Schuld und Verantwortung. Die Diskrepanz zwischen öffentlicher und privater Erinnerung blieb nicht aus.

Kerstin von Lingen definiert eingangs Thema und Fragestellungen. Kompetent skizziert sie die internationale Forschung. Gründungsmythos, gesellschaftliche Prozesse und politische Rahmenbedingungen bilden Schlüsselfaktoren, deren Einfluss, Sinn- und Konsensstiftung sowie Wandel am einzelnen nationalen Beispiel in vergleichender Perspektive über einen größeren Zeitraum untersucht werden. Dieter Langewiesche und Aleida Assmann bieten theoretische und methodische Zugänge zum Thema und den folgenden Länderstudien. Diese gruppieren sich in Siegerstaaten (USA, Großbritannien, Sowjetunion), Neutrale (Schweden, Schweiz), Verlierer-Nationen (Deutschland, Österreich, Luxemburg), besetzte Länder mit Kollaborationsvergangenheit (Niederlande, Norwegen, Dänemark, Polen, Tschechien, Ungarn und Rumänien) oder besetzte Verbündete mit starker Widerstandsbewegung (Frankreich, Italien und Kroatien) sowie schließlich Sonderfälle wie Spanien und Finnland. Vermisst werden die baltischen Staaten, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ihren spezifischen Gründungsmythos zu entwickeln hatten.

Im besiegten, besetzten und geteilten Deutschland fiel die Suche nach einem Gründungsmythos besonders schwer. Wirklichkeitsverweigerung und Instrumentalisierung der nationalen Erinnerung blockierten den nach heutigen Vorstellungen „heilsamen“ Dreiklang von Abrechnung, Auseinandersetzung und Anerkennung. Trotz erheblicher Unterschiede ihres Umgangs mit dem NS-Erbe weisen Bundesrepublik und DDR – so das Ergebnis von Annette Weinke – auch bemerkenswerte Gemeinsamkeiten auf. Nach einer von den alliierten Siegermächten geprägten, bis 1949 währenden Phase setzte in beiden Nachfolgestaaten eine aktive Vergangenheitspolitik ein. Seit der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre kam es in der Bundesrepublik mit der Einrichtung der Ludwigsburger Zentralen (Ermittlungs-)Stelle zu einer von der Justiz dominierten Vergangenheitsbewältigung. Zwischen 1958 und 2007 wurden von ihr rund 7.300 Ermittlungsverfahren eingeleitet, unter denen der Frankfurter Auschwitz-Prozess der Jahre 1963–1965 besonders hervorzuheben ist. Erstmals wurden mit dem Münchener Institut für Zeitgeschichte professionelle Historiker als Sachverständige einbezogen. Die in den 1980er-Jahren einsetzende weitere Phase ist geprägt durch den Übergang vom „Erinnerungskampf zur Erinnerungskultur“. Eine jüngere Generation, die bereits in den Jahren um 1968 die selektive Erinnerungskultur angeprangert hatte, schuf ein neues Klima für eine historisierende Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit.

In einer „Milieustudie“ untersucht Oliver von Wrochem das sich wandelnde Selbstbild ehemaliger Wehrmachtssoldaten in Westdeutschland. Aus dem Verlierer wurde der „tapfere Frontsoldat“; nur die Spitzen der Hitler-Diktatur wurden abgeurteilt – ein vom Kalten Krieg und von der Wiederbewaffnung begünstigter Verdrängungs- und Umdeutungsprozess. Die „Kriegsopfergemeinschaft“ bot die willkommene Plattform für die schrittweise Loslösung vom Nationalsozialismus, zur Rehabilitierung und Integration belasteter Bevölkerungsgruppen.

Spielte in der deutschen Vergangenheitsbewältigung die Forderung nach einem „Schlussstrich“ eine große Rolle, so wurde in Österreich die Legende vom „ersten Opfer“ Hitlers nachhaltig gepflegt. Sie bildete – so Sabine Loitfellner – für den nationalen Gründungsmythos der Zweiten Republik den „kategorischen Imperativ“. Der umjubelte Einmarsch deutscher Truppen, die rigoros durchgeführte Politik der „Arisierung“, die Beteiligung von Österreichern an der NS-Rassen- und Vernichtungspolitik konnten so aus dem kollektiven Gedächtnis ausgeblendet werden – mit dem Ergebnis, dass die österreichische Nationalgeschichte scheinbar im März 1938 endete und erst im April 1945 wieder begann. Was dazwischenlag, zählte bequemerweise zur deutschen Geschichte.

Für Italien erhielt die neue antikommunistische Nachkriegsordnung Europas Priorität vor der Bestrafung der Täter. So verwundert es nicht, dass die italienischen Militärgerichte bis 1965 gegen 25 Angeklagte gerade mal 13 Urteile fällten – eine magere Bilanz, wie Kerstin von Lingen konstatiert. Der Antifaschismus diente als Gründungskonsens. Die Resistenza wurde hochstilisiert, der italienische Faschismus verharmlost und Mussolinis Diktatur im Vergleich zum deutschen Nationalsozialismus als „Operettenregime“ eingestuft. Der deutschen „Bestie“ wurde der „faschistische Gutmensch“ entgegengehalten. Die neutralen Staaten Schweden und Schweiz weisen vergleichbare „Narrative“ auf; ihre Gewinne an der deutschen Kriegspolitik versuchten sie zu verschleiern und umzudeuten.

Für das nationale Gedächtnis Polens spielt bis heute das „Kriegstrauma Katyn“ (Beitrag von Krzysztof Ruchniewicz) eine herausgehobene Rolle. Im Frühjahr 1940 wurden 21.857 polnische Internierte von sowjetischen Truppen erschossen und davon über 4.000 (meist Offiziere) in der Nähe der bei Lemberg gelegenen Stadt Katyn in Massengräbern verscharrt. Die polnische Elite, darunter 45 Prozent der Offiziere, wurde von der Roten Armee regelrecht ausgelöscht. Von diesen Verbrechen erfuhr die Weltöffentlichkeit, als deutsche Truppen die Massengräber entdeckten und ein Kommuniqué vom 13. April 1943 den Fund bekannt gab. Moskau wies die Beschuldigung zwar als Propagandalüge zurück, aber eine internationale Expertenkommission konnte die insgesamt 4.143 exhumierten Leichen identifizieren und ihre Ermordung auf 1940 datieren. Da die Sowjetunion inzwischen selbst im „Großen Vaterländischen Krieg“ gegen das faschistische Deutschland stand und zur Anti-Hitler-Koalition zählte, konnten die westlichen Demokratien nicht umhin, dieses Massaker totzuschweigen. Katyn wurde zum „Symbol mit politischem Gewicht“. Selbst in der so genannten „Tauwetter-Phase“ nach Stalins Tod galt Katyn als nicht existent. Erst die Perestrojka und der Wandel im Ostblock führten zur Wiedergewinnung der historischen Erinnerung der Polen. Seitdem zählt Katyn zu den am besten erforschten Themen der polnischen Zeitgeschichte. In seiner informativen Analyse spart Ruchniewicz leider die polnische Auseinandersetzung um eigene Verbrechen während der Kriegsjahre wie etwa in Jedwabne aus.

In den böhmischen Ländern – so Kateřina Lozoviuková – gab es eine „nationale Neudefinition durch Vertreibung“ vor allem deutscher Bevölkerungsgruppen. Das Trauma von München 1938, als die Abtretung von nationalen Minderheiten international beschlossen wurde, was den jungen tschechoslowakischen Staat in Frage stellte und letztlich sein Ende besiegelte, habe diese bis heute umstrittene Maßnahme bewirkt. Die radikalen Ausschreitungen gegen Deutsche am Ende des Krieges werden keineswegs beschönigt.

Die Tagungsbeiträge in ihrer Gesamtheit dokumentieren den schwierigen Prozess nationaler Identitätsbildung auf der Grundlage von Kriegs- und Konflikterfahrungen in der europäischen Nachkriegsgeschichte.2 Sie markieren Umbrüche in der Erinnerungslandschaft, wobei die politische Großwetterlage erheblichen Einfluss nahm. Erst in Kenntnis der unterschiedlichen Deutungsdispositionen ist die Erweiterung und Überleitung nationaler Gründungsmythen in eine gemeinsame europäische Identität möglich. Der vorliegende Band leistet dazu einen wichtigen Beitrag. Eine Auswahlbibliographie zu den untersuchten 21 Staaten rundet die Publikation ab.

Anmerkungen:
1 Siehe den Bericht von Peter M. Quadflieg: Tagungsbericht Kriegserfahrung und Nationale Identität. Abrechnungsprozesse in Europa nach 1945. 18.04.2008-20.04.2008, Tübingen, in: H-Soz-u-Kult, 05.07.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2170>.
2 Einen ähnlichen Ansatz wählte u.a. bereits die Ausstellung „Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen“ des Deutschen Historischen Museums (2004/05), zu der ein zweibändiger Katalog erschien. Siehe die Rezension von Árpád von Klimó: Ausstellungs-Rezension zu: Mythen der Nationen. 1945 - Arena der Erinnerungen 02.10.2004-27.02.2005, Berlin, in: H-Soz-u-Kult, 19.02.2005, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=28&type=rezausstellungenngen>. Als weitere Buchpublikationen vgl. etwa Richard Ned Lebow / Wulf Kansteiner / Claudio Fogu (Hrsg.), The Politics of Memory in Postwar Europe, Durham 2006; Harald Welzer (Hrsg.), Der Krieg der Erinnerung. Holocaust, Kollaboration und Widerstand im europäischen Gedächtnis, Frankfurt am Main 2007; Jörg Echternkamp / Stefan Martens (Hrsg.), Der Zweite Weltkrieg in Europa. Erfahrung und Erinnerung, Paderborn 2007.